Kampf um G9 - Befürworter rufen zur Groß-Demo im Vorfeld der Schulgesetz-Abstimmung auf

Von | 20. Januar 2011

Es geht längst nicht mehr um den Streit um ein Jahr gym­na­sia­len Schulunterricht — Die poli­ti­sche Auseinandersetzung um G8 und G9 ist zur Grundsatzfrage über die wei­te­re Existenz und Existenzberechtigung des Gymnasiums gewor­den — und damit gleich­zei­tig über die Zukunft des deut­schen Sozialstaates.

Großdemo pro G9So sieht es jeden­falls Reinhold Günther, stell­ver­tre­ten­der Vorsitzender des Kreiselternbeirats Gymnasium Nordfriesland, Mitglied im Landeselternbeirat Gymnasien, Mitglied der Initiative „G9jetzt” und Mitinitiator einer Großdemonstration in Kiel am Samstag, dem 22. Januar 2011 um 12.00 Uhr, vor der ent­schei­den­den Sitzungswoche des Landtags, in der das neue Schulgesetz der schwarz-gel­ben Koalition ver­ab­schie­det wer­den soll. Vom Asmus-Bremer-Platz soll eine mög­lichst gro­ße Menschenmenge sodann zum Landeshaus zie­hen. Doch anstatt wie üblich gegen eine dro­hen­de par­la­men­ta­ri­sche Entscheidung zu pro­tes­tie­ren, soll die Demonstration die­je­ni­gen auf­for­dern, für die Gesetzesnovelle zu stim­men, die qua selbst­ver­stan­de­nem oder -auf­er­leg­tem Oppositionsauftrag und/​oder einer ent­ge­gen­ge­setz­ten dog­ma­ti­schen Grundeinstellung dage­gen zu stim­men dro­hen. Jede Stimme, die die Mehrheit für die Novelle ver­grö­ße­re, set­ze ein Signal für den Bildungsstandort Schleswig-Holstein.

Quo vadis Gymnasium — Aufklärungsarbeit zu G8

Reinhold Günther hat in den letz­ten Monaten das Land der Horizonte bereist, um den per­sön­li­chen Horizont sei­ner Zuhörer zu erwei­tern. Auf zahl­rei­chen Veranstaltungen hat er sei­nen 70-minü­ti­gen Vortrag „Quo vadis Gymnasium?” gehal­ten, in dem er das Konzept G8 ein­drucks­voll aus­ein­an­der nimmt: Abgespecktes Turbo-Abitur ohne Zeit für Persönlichkeitsentwicklung und Engagement in Sportvereinen oder mensch­li­ches Normal-Abitur, das sei hier die Frage. Eigentlich könn­te ihm das Thema egal sein: Sein jüngs­tes Kind steht kurz vor dem G8-Abitur an einem Husumer Gymnasium, ihn als Vater wer­den die Auswirkungen künf­tig nicht mehr betref­fen. Doch Günther sorgt sich nicht nur um die Kinder, auf deren Rücken die­ser poli­ti­sche „Schulkrieg” aus­ge­tra­gen wer­de. Er sieht das gro­ße Ganze, den deut­schen Sozialstaat, bedroht. Nur eine gute Ausbildung in der Gegenwart wür­de dem­nach zu leis­tungs­fä­hi­gen Arbeitnehmern und Unternehmern in der Zukunft und damit wei­te­rem Wirtschaftswachstum füh­ren, das den Sozialstaat über­haupt am Leben hal­te. Deutschland sei nicht trotz, son­dern wegen G9 Exportweltmeister gewor­den. G8 habe dem­ge­gen­über kei­ne päd­ago­gi­schen Vorteile, das sei auch weit­ge­hend aner­kannt. Die Ergebnisse sprä­chen für sich: Die schu­li­schen Leistungen wür­den eher schwä­cher, zwi­schen 80 und 90 Prozent der Eltern rufen nach der Rückkehr zu G9.

Die Ziele des G8-Konzepts, die Verbesserung der Allgemeinbildung, die Stärkung der Studienfähigkeit, die Vergleichbarkeit der Abschlüsse mit ande­ren Bundesländern, die Erleichterung umzugs­be­ding­ter Schulwechsel, die Anpassung an inter­na­tio­na­le Standards, die Senkung von Kosten und ein frü­he­rer Berufseinstieg sei­en nur zum Teil oder gar nicht erreicht und mit der Wegnahme der Zeit der Kinder erkauft wor­den, die sich wie ihre Eltern mas­siv unter Druck gesetzt fühl­ten. In eini­gen Bundesländern mit G8 gäbe es das Phänomen, dass Eltern VHS-Kurse besu­chen „Wie hält sich mein Kind bei G8 in die­sem oder jenem Fach”. Vereinssport, Musikunterricht, Kirchen — auch außer­schu­li­sche Einrichtungen lei­den unter den Folgen.

Kommen Studienanfänger unvorbereitet an die Uni?Dass die Zustände der stets als G8-Beispiele auf­ge­führ­ten EU-Länder nicht tra­gen, kann Günther bele­gen. Um allein per­so­nell ver­gleich­ba­re Verhältnisse wie in Finnland her­zu­stel­len, müss­te man bei uns die Personalzahl ver­vier­fa­chen, in vie­len Ländern sei­en die Abiturienten mit ihrem Abschluss nur begrenzt oder gar nicht stu­di­en­fä­hig und müß­ten von den Universitäten teu­er nach­qua­li­fi­ziert wer­den. Auch an der Uni Kiel wer­de bereits mit pro­pä­deu­ti­schen Übungen in eini­gen Studiengängen gegen­ge­steu­ert, da die Studienanfänger eben nicht mehr die all­ge­mei­ne hoch­schu­li­sche, wie per­sön­li­che Reife haben. „Die Kluft zwi­schen Schulergebnis und Anforderungen der Universitäten wird immer grö­ßer”, macht Günther deut­lich.

Auch ande­re Bundesländer haben dies­be­züg­lich „Riesen-Probleme” mit G8. Im SPD-gepräg­ten Rheinland-Pfalz hät­ten nur 13 von 146 Gymnasien den G8-Antrag gestellt, die rest­li­chen blei­ben G9. Es sol­len maxi­mal 20km zur nächs­ten G9 Schule sein, damit die Eltern wäh­len kön­nen, wo sie ihr Kind ein­schu­len las­sen wol­len.

Die Industrie, die sich frü­her laut­stark für die Verkürzung der Schulzeit ein­ge­setzt habe, wol­le die­se Forderung eben­falls nicht mehr wie­der­ho­len: Persönlichkeit des Bewerbers, Kommunikationsfähigkeit, prak­ti­sche und Auslandserfahrung sei­en nun­mehr die maß­geb­li­chen Kriterien, für nur 3% der Unternehmer ist die Dauer der schu­lisch-uni­ver­si­tä­ren Ausbildung wich­tig — „Wir strei­ten uns also um 3%!” streicht Günther die Absurdität der Auseinandersetzung her­aus.

Wenig Beachtung gera­de bei den kom­mu­na­len Schulträgern habe die Frage der Schulkostenbeiträge für Gymnasiasten erfah­ren. Sie betra­gen für G9 z.Zt. 921 Euro im Jahr pro Schüler, die zur Schulerhaltung, Hausmeisterentlohnung, Energiekosten etc. zur Verfügung ste­hen. Für G8 wür­de sich der Schulkostenbeitrag auf 1036 Euro im Jahr pro Schüler erhö­hen. Dies stel­le gera­de für die Kommunen im länd­li­chen Raum eine hohe Belastung dar, die einen hohen Anteil aus­wär­ti­ger Schüler beschu­len.

Plädoyer für ein neues G9-Modell — „Y++”

Doch was wäre zu tun, um G8 den Schrecken zu neh­men? „Lehrpläne ent­rüm­peln” ist eine sehr belieb­te, pau­scha­le Forderung. Doch wenn es stim­me, dass sich das Wissen der Welt alle fünf Jahre ver­dop­pe­le, ist es dann über­haupt sinn­voll Lehrpläne zu kür­zen, oder müß­te man sich nicht sogar über die Erweiterung Gedanken machen, fragt Günther in sei­nen Vorträgen pro­vo­ka­tiv.

Das "Y++"-ModellDas neue Schulgesetz bie­te meh­re­re Perspektiven: Eine ist, die Schulen ent­schei­den sel­ber dar­über, ob G9, G8 oder das Y – Modell ange­bo­ten wird. Zusammen mit sei­nem Kollegen Tim Schröder hat Reinhold Günther ein „Y++“-Modell ent­wi­ckelt, das ohne wei­te­re Gesetzesänderung zu bewerk­stel­li­gen sei. Dies hat Günther auch in einer Stellungnahme zum Gesetzgebungsverfahren dar­ge­legt. Es keh­re zu G9 als Standard zurück, eröff­ne aber die Möglichkeit einer optio­na­len Verkürzung der Oberstufe. Die nach G8 für die Sekundarstufe vor­ge­se­he­ne Stoffverdichtung sol­le damit für die­je­ni­gen Schüler, die wol­len und kön­nen, in die Oberstufe ver­la­gert wer­den. Ziel sei es, G8 zur Förderung der über­durschnitt­lich guten Schüler und nicht als über­for­dern­des Pflichtprogramm für alle Schüler anzu­bie­ten. Danach sol­len alle Schüler, egal ob G9 oder G8 bis zum Ende der 9. Klassenstufe gleich unter­rich­tet wer­den, der Nachmittag aus­schließ­lich der gym­na­sia­len Schulkultur, Musik, Sport, Kunst oder Hausaufgabenhilfe vor­be­hal­ten sein. Mitte der 9. Klasse set­ze man sich dann zusam­men, um zu ent­schei­den, dass ein Kind in der Lage wäre, mehr Unterricht auf­zu­neh­men und sich Ende der 10. Klasse für den direk­ten Aufstieg in die 12. Klasse zu qua­li­fi­zie­ren.

"Y++"-StundenverteilungDie zusätz­li­chen Stunden — an drei bzw. vier Tagen in der Woche jeweils zwei Stunden extra in 10. und 12. Klassenstufe — sei­en zumut- und durch­führ­bar, kind-, eltern- und leh­rer­ge­recht, kos­te kei­nen Cent mehr, die Nachmittage blie­ben für die Schulkultur frei. Eine Überforderung der Jüngsten wer­de ver­mie­den, eine kind­ge­rech­te Lernatmosphäre in Unter- und Mittelstufe wie­der­her­ge­stellt, der Unterricht wie­der effek­ti­ver, das Niveau des alten G9-Abiturs blei­be erhal­ten. Das Prinzip ist von der Schulgröße unab­hän­gig, Schulwechsel wer­den wie­der unkom­pli­zier­ter ermög­licht, bei Nichtbestehen des „Turbo-Abiturs” kön­ne das letz­te Jahr in einer Klasse des fol­gen­den drei­jäh­ri­gen Durchgangs wie­der­holt wer­den. Kommen an einer Schule nicht genü­gend Interessenten zusam­men, kann das Bildungsministerium die schul­über­grei­fen­de Zusammenfassung an einer Schule in zumut­ba­rer Entfernung ver­fü­gen. Die Schulträger wür­den wegen des weg­fal­len­den Nachmittagsunterrichts nicht mehr gezwun­gen, teu­re Schulmensen zu errich­ten.

Was G9-Befürworter von Schulfriedensaktivisten unterscheidet — Ein Kommentar

Während Günther in inten­si­ver Recherche bis­lang nicht wider­leg­te Sachargumente zusam­men­ge­tra­gen hat, die durch­aus gewich­tig schei­nen, sie in zahl­rei­chen Vorträgen erläu­ter­te und kon­kre­te Überlegungen dazu anstell­te, wie man die gesetz­li­che Regelungen ver­bes­sern kann, hat die „Volksinitiative Schulfrieden” nach eige­nen Angaben 25.000 Unterschriften gesam­melt, und sie am Mittwoch Landtagspräsident Geerdts über­ge­ben, mit dem Ziel, die vor­ge­se­he­nen Änderungen am Schulgesetz auf Eis zu legen. „Verlässlichkeit” ist dabei gleich­zei­tig ihr ein­zi­ges Argument wie Forderung an eine Koalition, die für die bestehen­de gesetz­li­che Regelung nicht ver­ant­wort­lich war und die­se auch nicht woll­te. Eine Woche vor der geplan­ten Beschlussfassung des Landtages hat die Initiative den­noch mit dem Versuch der kurz­fris­ti­gen Torpedierung des Gesetzgebungsverfahrens die Aufmerksamkeit der Opposition und damit der Medienöffentlichkeit sicher.

So erstaunt es nicht, dass Grünen-Fraktionschef Robert Habeck den Ball auf­nahm und den Schulfrieden als „Alternative zum Schulgesetz von Union und FDP” lob­te, um im Ältestenrat eine Verschiebung der zwei­ten Lesung in den Februar vor­zu­schla­gen und bei Erfolglosigkeit die Beantragung der Absetzung des Tagesordnungspunktes anzu­dro­hen. SPD-Bildungsexperte Henning Höppner rief die Koalition auf, „ihren Schulgesetzentwurf bis nach den vor­ge­zo­ge­nen Neuwahlen auf Eis zu legen”, sprach von „Torschlusspanik” und bot an, „in den Fragen der Schulstruktur ein Moratorium zu beschlie­ßen.”

Erneut hat damit die „Dagegen-Politik” vor­läu­fig die Oberhand gewon­nen — ob sie im par­la­men­ta­ri­schen Verfahren obsiegt, bleibt abzu­war­ten. Wieder ein­mal bewie­sen ist viel­mehr, dass die Gefahr für die Zukunft der Bildung im Land nicht zu unter­schät­zen ist. Wie sehr die Bildungspolitik in der feind­li­chen schles­wig-hol­stei­ni­schen Atmosphäre poli­ti­scher Dogmen und Strategien bis­her tat­säch­lich zer­rie­ben wur­de, wird wohl erst in eini­ger Zukunft offen­bar. Dass die heu­ti­ge Opposition tat­säch­lich von der Regierung ver­langt, die Füße still zu hal­ten, nach­dem sie die Bildungspolitik im Lande selbst erst vor 4 Jahren auf den Kopf gestellt hat und wäh­rend man im Hinterkopf bereits an der eige­nen Regierungserklärung zur Bildungspolitik der kom­men­den Legislatur arbei­tet, ist eine Auffassung von Demokratie die jeder Beschreibung spot­tet. Denn der­ar­ti­ge Begrenzungen regie­rungs­po­li­ti­schen Handlungsspielraums, wie sie die Opposition for­dert, ist der Demokratie fremd. Ob das links-oppo­si­tio­nel­le Bestreben, durch die Zerschlagung von G9 die Gemeinschaftsschulen als Schulform der Wahl zu mani­fes­tie­ren, auf lan­ge Sicht ver­hin­dert wer­den kann, bleibt unge­wiß. Die Befürchtung, das Gymnasium könn­te unter einer anders-far­bi­gen Regierung zuguns­ten einer Einheitsschule mit einem Einheitslehrer fal­len, wabert jeden­falls durchs Land, lähmt Schüler, Eltern, wie Lehrer. Ich bestrei­te kei­nes­wegs, dass die Bildungspolitik auf dem Rücken der Schüler aus­ge­tra­gen wird. Das gilt umso mehr in einem poli­tisch so sehr gespal­te­nen Land wie Schleswig-Holstein. Mag es für die Schüler Bayerns in der Vergangenheit womög­lich doch nicht zum Nachteil gewe­sen sein, dass eine Partei so kon­ti­nu­ier­lich lan­ge hat allein regie­ren kön­nen?!?

Auf bei­den Seiten betei­lig­ten Bürgern — Eltern, Schülern, Lehrern — ist bei aller unter­schied­li­cher Meinung für das gro­ße Engagement zu dan­ken, das beweist, das Schule für vie­le eben (noch) nicht blo­ße Abladestelle zur Erziehung und Wissensmästung der „Gören”, son­dern gemein­sam gestal­te­te Brutstätte für eben­so enga­gier­te, infor­mier­te und mün­di­ge Bürger von Morgen ist, die ihre Zukunft und die Zukunft unse­res Landes in ihren zukünf­tig hof­fent­lich gut qua­li­fi­zier­ten und gut bezahl­ten Händen hal­ten. Ich mache aus mei­ner Hoffnung aber kei­nen Hehl, dass der G9-Demonstration am Samstag eine mög­lichst brei­te Beteiligung zuteil wird, die dem einen oder ande­ren Abgeordneten viel­leicht doch noch zu den­ken gibt.

Verweise:

Bilder freund­li­cher­wei­se zur Verfügung gestellt von Reinhold Günther

Ruediger Kohls
Von:

WestCoast-Liberaler, Verkehrspolitiker, stv, Mitglied im Wirtschaftsausschuss des nordfriesischen Kreistages.

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