Ich wollte, ich wäre wütend. Aber alles was ich spüre, ist fremdschämen.
Wie keine anderes Land in dieser Republik haben wir erleben müssen, wie Verlogenheit, Intrigen und Machtversessenheit Regierungen, Parteien und ab und an auch Menschen in den Abgrund reißen. Schlimmer noch: Es scheint, als ob Verlogenheit, Intrigen – und vielleicht auch Machtversessenheit – immer noch Werkzeuge des politischen Handelns sind.
Wir haben den Untergang eines perfiden Machterhaltungsapparates unter Uwe Barschel miterlebt. Wir haben das Ende des so grandios gestarteten Neuanfangs unter Björn Engholm gesehen. Wir haben die peinliche Melange aus Verlogenheit, Intrigen und Machtversessenheit, die Heide Simonis’ politischen Abgang besiegelte, in lebhafter Erinnerung.
2004, auf einem Parteitag der CDU in Norderstedt, wurde einer zum Spitzenkandidaten seiner Partei gewählt und sagte unter aufbrandendem Beifall der Delegierten, er wolle als Ministerpräsident „an die großen Zeiten von Gerhard Stoltenberg und auch von Uwe Barschel anknüpfen“. Jetzt, 2011, fährt er die Ernte ein.
Die Pressemeldungen der letzten Tagen verdichten ein Bild von Intrigen und Ränkespielen. Die Süddeutsche Zeitung berichtet von Intrigen im eigenen Hause, der Focus will wissen, dass die Ränkeschmiede in der Jungen Union sitzen und vielleicht sogar in der Kieler Parteizentrale zu suchen sind. Der dort sitzende Landesgeschäftsführer Daniel Günther, zugleich Landtagsabgeordneter, sagte der FAZ, er habe schon im Frühjahr durch ein JU-Mitglied Kenntnis von den Gerüchten erlangt, will die aber nicht weiter verfolgt haben. Christian von Boetticher sagt dem Focus, seine politischer Ziehvater habe „leider den Eindruck erweckt, ich sei ein politischer Autist“. Die Bild am Sonntag gibt dem ehemaligen Landesvorsitzenden, Spitzenkandidaten, Fraktionsvorsitzenden und Hoffnungsträger der Nord-CDU reichlich Platz, um seine Sicht der Dinge zu schildern – was in der Aussage gipfelt, dass er, von Boetticher, morgen (Montag) seine Koffer packen und Schleswig-Holstein „für lange Zeit“ verlassen werde.
Das sind kein „Aufräumarbeiten bei der CDU Schleswig-Holstein“ von denen Stephan Richter vom Flensburger Tageblatt noch gestern im Deutschlandfunk sprach. Keine noch so schwache politische Brust des naiven Spitzenkandidaten rechtfertigt solche Intrigen. Im Gegenteil zeugt sie von der wenigstens ebenso großen Naivität derjenigen, die ihn einst aufs Schild hoben. Das übliche Verfahren wäre „Augen zu und durch“ gewesen. Wusste doch jeder, dass die nächste Wahl kaum gewonnen werden könne, der jetzige Kandidat sich nur verschleißen könne und dann Platz für den „richtigen“ machen werde. Das ist nicht sauber, aber auch nicht ehrverletzend sondern Politik. Mit Moral hat das nichts zu tun. Will man aber an Politiker besondere moralische Maßstäbe anlegen, dann müssen sich nicht nur der an sich selbst gescheiterte von Boetticher sondern auch die Heckenschützen in seiner Partei daran messen lassen. Oder will einer ihr schäbiges Tun „der höheren Dinge wegen” rechtfertigen? Christen, die die Bergpredigt kennen, kommen jedenfalls nicht auf solche Ideen.
Und wäre das nicht schon genug Verlust an Ämtern und Würde, da dräut es auch noch von anderer Stelle: Bei Plagipedi findet sich ein Eintrag zu seiner Doktorarbeit. Dort werden – ohne weiteren Anhaltspunkte, Begründung oder Belege – Vermutungen angestellt. Seine Arbeit ist nämlich während seiner Zeit im Europäischen Parlament entstanden. Und da er dort „intensiven Zugang zum Forschungsdienst und wissenschaftlichen Mitarbeitern“ gehabt habe, liege es nahe, „ähnliche Vorgänge wie bei Koch Mehrin bzw. zu Guttenberg zu vermuten“. Update: Dirk Hundertmark, Pressesprecher der CDU-Landtagsfraktion, machte mich auf einen Artikel der LN vom 17.07.2011 aufmerksam, der Wind aus den Segeln nimmt. Das dortige Zitat von Herrn von Boetticher „Vor diesem Hintergrund ist klar, dass ich auch den Wissenschaftlichen Dienst des Europäischen Parlaments nicht mit Recherchen beauftragt haben kann“ bezieht sich offensichtlich auf den bei Plagipedi erhobenen Vorwurf.
Soviel ehemalig der ehemalige Shootingstar der CDU auch ist, eines ist (neben seiner Mitgliedschaft in der CDU – aber wer weiß das schon so genau in dieser schnelllebigen Zeit) er noch: Landtagsabgeordneter.
Und als solcher muss er in der nächsten Woche im Landtag im Plenum Platz nehmen. Macht er das nicht, dann ist die Ein-Stimmen-Mehrheit der Regierungsfraktionen futsch. Und mit dem Rücktritt vom Landtagsmandat ist das so eine Sache. Ulf Kämpfer hat das im Landesblog jüngst ausführlich dargestellt. Dann ist die Ein-Stimmen-Mehrheit ebenfalls futsch.
Nun gibt es zwischen CDU und Grünen ein Pairing-Abkommen. Solche Abkommen sind Gebote parlamentarischer Fairness: Für jeden kranken oder aus anderen zwingenden Gründen verhinderten Abgeordneten der Regierungsseite bleibt ein Politiker der Opposition einer Abstimmung fern. Praktisches Beispiel ist die Abwesenheit von Mark-Oliver Potzahr, der seit einen Schlaganfall im August schwer erkrankt ist. Das führt zu keinerlei Veränderungen der Mehrheitsverhältnisse. Im Normalfall ist das auch gut so.
Aber hat dieses Pairingabkommen noch Bestand, wenn „CvB“ am Mittwoch nicht erscheint? Wohl kaum, finde ich. Denn die Gründe für seine Abwesenheit sind hausgemacht, nicht aber unabwendbares Schicksal jenseits der Politik. Es ist nicht die Aufgabe der Opposition, die Regierungsmehrheit künstlich am Leben zu erhalten.
Die Mehrheit scheint also dahin. Im Landtag der nächsten Woche stehen sich, wenn von Boetticher nicht in sich kehrt, CDU und FDP sowie die Opposition aus SPD, Grünen, Linke und SSW mit gleicher Stimmenzahl gegenüber. Und wer würde es Christian von Boetticher verübeln wollen, wenn er nicht käme?
Und weiter: Werden die Grünen überhaupt noch zu dem Pairingabkommen stehen können, wenn sich herausstellt, was in den Presseberichten des Wochenendes steht? Kann sich das Land Schleswig-Holstein eine Regierung leisten, deren größte Fraktion ihre Energie nicht in der Gestaltung der Zukunftsfähigkeit unseres Landes steckt sondern in die akribische Demontage eines Parteimitgliedes? Oder ist es nicht anständiger, dem Treiben ein schnelles Ende zu bereiten, die Notbremse zu ziehen?
Und die FDP? Kann sie es sich leisten, in Treue fest zu einem Koalitionspartner zu stehen, von dem keine Handlungsfähigkeit mehr zu erwarten ist. An dessen Seite man keine Profil gewinnt, sondern für ein „Weiter so“ steht? Ein Festhalten an der Regierung ohne Chance zur eigenständigen Profilierung jenseits der BundesparteiMutterpartei und des schwankenden Koalitionspartners erscheint wie einen Einladung zur eigenen Beerdigung. Mitgefangen, mitgehangen?
Was wollen wir mit einer Regierung, von der landauf landab immer mehr fragen, was die eigentlich noch machen? Die keine Mehrheit mehr im Parlament hat? Um mal ein paar Beispiele zu nennen, die mich bewegen: Ein Parlament, das
- keinen GEZ-Staatsvertrag mehr beschließen kann,
- das kein Landesdatenschutzgesetz novellieren kann,
- das kein Glücksspielstaatsvertragsgesetz mehr beschließen oder ein schleswig-holsteinischen Sonderweg beschreiten kann?
Der einzig handlungsfähige und -willige politische Akteur im Lande ist augenblicklich der (unabhängige) Landesdatenschutzbeauftragte, der mit den Bürgern und Unternehmen in Schleswig-Holstein als Faustpfand gegen Facebook windmühlenkämpft?
Wenn es nur ein wenig Anstand und Vernunft in diesem Lande und in dem hohen Hause an der Kieler Förde gibt, dann wird es nächste Woche einen Rücktritt des Ministerpräsidenten geben und siebzig Tage später, im November, Neuwahlen.
Und wenn das nichts hilft dann, sollten die Grünen das Pairingabkommen kündigen und der Landtag durch ein konstruktives Mißtrauenvotum eine SSW-Abgeordnete zum Ministerpräsidentin wählen, deren einzige Aufgabe es sein wird, den Landtag aufzulösen. Dann haben wir siebzig Tage später, im November, Neuwahlen. Aus Anstand.
Nein, Swen, es geht eben nicht um Anstand. Es geht um Macht.
Und die ist politisch eben auch nicht stabil (für wenige Tage) mit einer SSW Ministerpräsidentin.
Von Nichtsnutz Verantwortung zu erwarten, hieße seine Regierungszeit zu negieren. Das Schlachten von Christian aus den eignen Reihen ist zudem ein Musterstück des Wertes der CDU. Über die Rolle der FDP brauchen wir uns nicht streiten.
Nur wer soll die Macht übernehmen?
Und damit sind wir beim Problem mit Umwälzungen (- oder um es vorsichtiger zu formulieren: Von Richtungswechseln). Es ist nicht klar in welche Richtung es gehen wird. Und das gilt hier gerade für Grüne und SPD. Die sind noch nicht so weit — das Bild vermitteln sie jedenfalls in der Öffentlichkeit… Es geht aber nur mit ihnen — beiden.
Och da findet sich schon jemand, da gibt es doch die beiden Labormäuse mit dem schönen Ohrwurm und mit Intrigen kennen sie sich systemübergreifend aus ;-):
Pinky: Russia! I’ve heard of that place! Isn’t it full of cheating, lying and backstabbing intrigue?Brain: The Cold War is over Pinky. Now Russia is a place of free-market capitalism.Pinky: What’s free-market capitalism?Brain: Erm… cheating, lying and backstabbing intrigue
Mein Kompliment lieber Sven. Ich denke, dass Du die Situation genau getroffen hast…
Ich muss gestehen, dass ich den Punkt des Pairings ein wenig anders sehe, Swen. Ich finde die Haltung der Grünen (http://www.ltsh.de/presseticker/2011 – 08/22/14 – 29-22 – 5fab/ ) in diesem Punkt sehr richtig: Für die kommende Landtagssitzung eine gesundheitlich begründete Abwesenheit zu akzeptieren. Auch die Begründung finde ich nachvollziehbar: „[…] wir akzeptieren auch, dass die Situation - wie immer sie zustande gekommen ist - psychisch sicher eine Ausnahmesituation ist.” Bisher ist eben nicht endgültig bewiesen, dass die CDU diese Situation selbst herbeigeführt hat, auch wenn ich das für sehr wahrscheinlich halte.
Richtig ist ebenso die Ansicht der Grünen, dass sich das nicht zum Dauerzustand entwickeln kann und vor allem nicht für eine neue, mit dem Landtagsmandat nicht vereinbare neue Lebensplanung von Boettichers gelten kann. Dann darf und – so sieht es nach der Ankündigung der Grünen auch aus – wird das Pairing für diesen Fall nicht mehr greifen. In meinen Augen ein unaufgeregtes und dabei doch konsequentes Vorgehen.
Der Artikel beklagt doch andererseits gerade „Verlogenheit, Intrigen und Machtversessenheit” der politischen Akteure. Ich finde, dass die Grünen sich mit ihrer Entscheidung hier wohltuend anders verhalten – insbesondere hinsichtlich des letzten Aspekts.
Ich denke, für vorgezogene Neuwahlen kann es nur einen Grund geben:
Die Regierung hat das Vertrauen der Mehrheit der Abgeordneten aus politischen Gründen verloren.
Und nicht: Weil ein Abgeordneter gestorben ist, krank oder aus anderen einschneidenden Ereignissen persönlicher Art nicht an Landtagssitzungen teilnehmen kann oder mag.
Das Wahlgesetz sollte dies bei Nachrückregeln berücksichtigen.
Die Fraktionen sollten dies dort, wo das Wahlgesetz nicht greift, durch Pairing-Regeln berücksichtigen.
Wenn die Regierung etwa durch Abspaltung der WASG von der SPD ihre Mehrheit verliert, sind dies politische Gründe. Die Abgeordneten handeln als Vertreter des gesamten Volkes nur ihrem Gewissen verpflichtet und vermuten vielleicht sogar, dass größere Teile der Wählerschaft ähnliche Meinungsumschwünge vollziehen.
Wenn hingegen der Abgeordnete Potzahr krank oder der Abgeordnete von Boetticher vielleicht persönlich tief verletzt nicht im Landtag erscheint, hat das keine hinreichenden politischen Gründe. Dann ist Pairing anständig. Nicht Neuwahlen.