Man hat ja so seine Bilder im Kopf. Ministerpräsidentenkandidaten zum Beispiel: Die treten auf und sind ganz selbstverständlich Mittelpunkt. Und wenn sie dann sprechen, dann geht es ganz klar um das große Ganze, das sieht man auch an den großen Gesten.
Oder eben nicht. Bei Jost de Jager zum Beispiel. Der will Ministerpräsident in Schleswig-Holstein werden; aber zeigt das nicht, sondern bleibt, wie er ist. Man kann das, wie die FAZ, ein bisschen langweilig finden. Oder, wie das Hamburger Abendblatt, den Leisetreter hören kommen. Man kann das auch authentisch nennen.
Dabei hätte er gestern (30. August 2010) allen Anlass gehabt, anders aufzutreten. Einen Weltrekord im schnellen „Stromtrassen planen und bauen” will man aufstellen und die Bürger vorbildhaft einbinden.
Nach Fukushima ist die Energiewelt auch in der CDU eine andere. Die Partei, die die SPD mit sanftem Spott belegte, als jene in den 80er Jahren als Ziel vorgab, im Jahr 2010 in Schleswig-Holstein einen Anteil der Windenergie am Stromverbrauch von 25% zu erreichen (und das Ziel vorzeitig 2004 erreichte), muss sich heute nicht verstellen, wenn sie als Ziel für 2020 vorgibt, Schleswig-Holstein könne bis zu 10 Prozent des deutschen Strombedarfs aus Erneuerbaren Energien beisteuern. Seit Fukushima auch schleunigst ohne Atomstrom.
Ohne die Atomenergie ist jedoch der Bericht der Landesregierung zur Entwicklung der Stromnetze aus dem Februar digitales Altpapier: Neben dem Ziel, 9.000 Megawatt (MW) Windstrom auf dem Festland und 3.000 MW offshore zu produzieren, muss das gesamte Netz zügig umgekrempelt werden, um eine dezentralere Lastaufnahme bewältigen zu können. Schon jetzt bereitet es Schwierigkeiten, den Windstrom stets abnehmen zu können. Zauberwörter wie Netzmanagement, Freileitungsmonitoring oder Hochtemperaturbeseilung reichen längst nicht mehr aus. Neue, zusätzliche Leitungen müssen her. Und das gefällt nicht jedem, schließlich sehen die nicht nur hässlich aus und stören den freien Blick sondern stehen auch in dem Ruf, irgendwie gefährlich zu sein.
Vor diesem Hintergrund unterzeichnete der Wirtschaftsminister gestern mit Vertretern der beiden Netzbetreiber Tennet und E.ON eine Beschleunigungsvereinbarung zum Ausbau der Strom-Autobahnen. Das ehrgeizige Ziel: 700 Kilometer an neuen Hoch- (110 Kilovolt) und Höchstspannungsleitungen (380 Kilovolt) müssen gebaut werden. Spätestens 2015 soll mit dem Bau einer 380-KV-Leitung an der Westküste begonnen werden, manche 110-KV-Trasse möglicherweise noch früher.
Das soll trotz der beschleunigter Verfahren – üblicherweise dauert die gern mal 10 Jahre – nicht auf Kosten der Bürgerbeteiligung gehen. Den förmlichen Planfeststellungsverfahren sollen Regionalkonferenzen vorgelagert werden, auf denen die Bürger ihre Wünsche und Vorstellungen einbringen können. Man will frühzeitig auf die Beteiligten zugehen. „Nicht immer, aber soviel wie möglich“ sollen sie Einfluss nehmen können. Die Auswirkungen auf Menschen und schützenswerte Naturräume: „so wenig wie möglich“.
Möglichst entlang von Straßen, Schienenwegen und soweit irgendmöglich auf jetzt schon bestehenden Leitungswegen sollen die Stromkabel verlegt werden. Zu den 760 vorhandenen Kilometern an 380-KV-Trassen in Schleswig-Holstein sollen 500 weitere Kilometer kommen. Die 1.400 Kilometer 110-KV-Leitungen werden um 200 Kilometer verlängert. Der Regelfall werden Freileitungen sein. Erdgebundene Leitungen sind im 380-KV-Netz nach Auskunft der beiden Betreiber weltweit Zukunftsmusik. Und bei 110-KV-Leitungen ist das zwar grundsätzlich machbar, aber mit immensen Kosten verbunden: Die Preise erhöhen sich um den Faktor 4 bis 8, sagen E.ON und Tennet.
Die Kosten, die heute noch nicht zuverlässig abschätzbar seien, werden im zig-Millionen-Bereich liegen und von den Netzbetreibern aufgebracht werden müssen (und auf uns Kunden umgewälzt werden). Das Land engagiert sich durch die Zusage, ausreichend Kapazitäten in den Straßenbauämtern für die Planfeststellungsverfahren bereitzustellen. Angesichts der Aussagen von Minister de Jager zum (Nicht-)Bau der Westküstenautobahn könnten dort vielleicht tatsächlich Kapazitäten frei sein.
Die erste Regionalkonferenz für Plön und Ostholstein wird schon am 26. September in Ostholstein stattfinden. Durch die Kreise Plön und Ostholstein soll sich eine der neuen 380-KV-Leistungen ziehen. Von Kiel über Lütjenburg Richtung Heiligenhafen, von dort weiter südlich bis Lübeck. Weitere Konferenzen für die Westküste werden folgen. Dort wird eine neue Leitung von Nord nach Süd die Kreise Nordfriesland und Dithmarschen durchqueren.
Das Vorhaben ist ambitioniert. Der gesellschaftliche Konsens über den Atomausstieg lässt Stromtrassen nicht streitfrei werden. Beschleunigte Verfahren könnten Bürgerrechte beschneiden. In Zeiten der klaren Forderung der Menschen nach mehr Teilhabe an Entscheidungsprozessen wird man sich das nicht erlauben können. Eine vorgelagerte Information, die nicht zur wirkungslosen Farce wird, kann dieses Manko mehr als wett machen.
Update: Das Ministerium hat jetzt auch die Vereinbarung online zugänglich gemacht: Beschleunigungsvereinbarung. Ich habe den Link auch oben in den Artikel eingefügt. Anwohner oder Interessierte sollten sich das Dokument unbedingt durchlesen. Besonders die Planungsgrundsätze für die Erarbeitung von Trassenalternativen und die zwischen Netzbetreibern, Kreisen und Landesregierung verabredete Zeitschiene sind relevant. Auch die weiteren Details im Verfahren (das Innenministerium will z.B. auf das Raumordnungsverfahren, das häufig dem Planfeststellungsverfahren vorgeschaltet ist, verzichten) sind interessant.
Pingback: Im Konflikt: Verwaltungsverfahrensbeschleunigung und Bürgerbeteiligung - Greifswald wird Grün