Ist der Landtag ein Arbeitsparlament oder eine Quasselbude? Eine Kategorisierung lässt den Schluss zu, dass drei von vier Themen im Landtag zum „Kerngeschäft“ gehören.
Ein beliebter Vorwurf, dem auch ich ab und an gern nachhänge, ist, dem Landtag zu unterstellen, er beschäftige sich zu häufig mit unnötigen Themen. Er diskutiere Dinge, die er weder bewegen noch befördern könne und verkomme so zur Quasselbude, der ein eigenständiges schleswig-holsteinisches Profil fehle. Weshalb es kein Wunder sei, dass seine Debatten kaum Resonanz fänden. Ein paar dieser Vorwürfe habe ich vor ein paar Wochen in diesem Artikel untergebracht.
Nun sind Eindrücke und Vorwürfe das eine – Statistiken sind aber auch was. Deshalb habe ich mir die Tagesordnung der heute beginnenden Landtagssitzung vorgenommen und die Tagesordnungspunkte (TOP) kategorisiert. Wiederholte man drei- oder viermal die Kategorisierung, dann könnte man ein Bild darüber gewinnen, ob Arbeitsparlament oder Quasselbude zutreffender ist.
Ich bin noch nicht ganz sicher, ob die Kategorien ausreichend und sinnvoll sind und freue mich deshalb über Verbesserungsvorschläge. Natürlich kann man über die Zuordnung streiten und nicht zuletzt hängt es auch vom Verlauf der Debatte ab, ob ein Thema wirklich „am Land“ orientiert diskutiert wird, oder ob es in Beliebigkeit zerfasert.
Die Idee ist, mit den Kernaufgaben zu beginnen und bei den Folgen des Waldsterbens in der Antarktis zu enden. Wobei letztere Kategorie nicht in erster Linie das jeweilige Thema entwerten soll, sondern verdeutlicht, dass keine Umsetzung in den Kernkompetenzfeldern des Landtages gefordert oder beschlossen wird.
Eigenbeschäftigung: Dinge, die ein Landtag tun muss, weil er ein Landtag ist.
Landesrecht: Themen, die in den Landtag zwingend gehören, weil er die gesetzgebende Gewalt ist.
Landespolitik: Themen, die zum Aufgabenkanon eines Landes in der Bundesrepublik Deutschland gehören, ohne Landesrecht zu sein. Also die Kontrolle der Regierung/Verwaltung (Exekutive) und der Gerichte (Judikative), aber auch die Reflexion kommunalpolitischer Themen. Oft, aber nicht immer, geht es dabei um Geld, also um den Landeshaushalt.
Föderalismus: Themen, die im Rahmen der verfassungsrechtlichen Aufgabenteilung dem Bund oder der Gesamtheit der Länder obliegen, aber nicht obliegen müssen. Themen, die man unter der Überschrift „norddeutsche Zusammenarbeit” zusammenfassen könnte, habe ich ebenfalls hier zugeordnet.
Fremdgeld: Das Thema hat Auswirkungen auf den Landeshaushalt (und damit auf die Landespolitik), es handelt sich aber im Wesentlichen um durchlaufende Bundes- oder EU-Mittel, zumeist gibt es einen Eigenanteil des Landes sowie die Kosten der Verwaltung.
Bundesrecht: Themen, deren Zuordnung zum Bund in dem aktuellen Kontext nicht in Frage gestellt werden: Der Landtag hat keine unmittelbare Regelungskompetenz, die Regierung kann evtl. über den Bundesrat oder „in Berlin” einwirken.
EU-Recht: Der Landtag hat keine Regelungskompetenz, die Regierung kann evtl. über den Bundesrat oder „in Brüssel” (mittelbar) einwirken.
Bundespolitik: Themen, deren Zuordnung zum Bund in dem aktuellen Kontext nicht in Frage gestellt werden: Der Landtag hat keine unmittelbare Regelungskompetenz, die Regierung ebenfalls nicht.
Europapolitik: Der Landtag hat keine Regelungskompetenz, die Regierung ebenfalls nicht.
Appell: Allgemeinpolitische Äußerung, entweder an den Bürger oder in die Zukunft gerichtet.
Folgen des Waldsterbens in der Antarktis: …
TOP, die von der TO abgesetzt werden sollen, kategorisiere ich nicht.
In einer Sammeldrucksache werden Gesetzentwürfe, Anträge, Berichte, Beschlussempfehlungen der Ausschüsse und Wahlvorschläge aufgeführt, über die eine Aussprache nicht vorgesehen ist. Sofern kein Abgeordneter widerspricht, entscheidet der Landtag in einer Gesamtabstimmung.
Von den 26 Tagesordnungspunkten, zu denen eine Aussprache vorgesehen ist, fallen 20 unter die ersten vier Kategorien. Das sind 76 Prozent Kernkompetenzthemen.
Update: Durch einen Defekt in der Tonanlage entfiel die heutige (25. Januar) Vormittagssitzung fast vollständig. Die Sitzung begann faktisch erst um 15.00 Uhr. Der Ältestenrat hat vier TOP abgesetzt und bei zweien die Aussprache gestrichen. Es verbleiben 18 TOP mit Aussprache, davon sind 15 Kernkompetenzthemen (83 %). Der Landtag hat entschieden, sich in zeitlicher Enge auf Kernthemen zu konzentrieren.
Bei den Sammeldrucksachen gehören 18 von 24 TOP zu den Kernkompetenzthemen, das entspricht exakt 75 Prozent.
TOP | Zuordnung |
TOP 1 Bildungsfinanzierung – Kooperationsverbot | Föderalismus |
TOP 26 Erhalt Sexualmedizin am UKSH | Landespolitik |
TOP 3 Landesjagdgesetz | Landesrecht |
TOP 4 Weiterbildungsgesetz | Landesrecht |
TOP 16 b und 31 Antibiotikaeinsatz in der Tierhaltung | Bundesrecht |
TOP 8 Konnexitätsausführungsgesetz | Landesrecht |
TOP 9 Kommunalabgabengesetz | Landesrecht |
TOP 21 Rückstellungen f. AKW-Stilllegung | Bundesrecht |
TOP 48 Tätigkeitsbericht des Petitionsausschusses | Eigenbeschäftigung |
TOP 58 Bericht Zukunftsinvestitionsgesetz | Fremdgeld |
TOP 23 und 33 Norddeutsche Hafenkooperation, Elbvertiefung | Föderalismus |
TOP 25 Faschist_innen-Demo in Lübeck | Landesrecht |
TOP 27 Bildungsqualität | Landespolitik |
TOP 60 Bericht zur Eigenverantwortlichkeit von Schulen | Landespolitik |
TOP 37 und 57 Landestheater, Bericht Soziokultur | Landespolitik |
TOP 30 EU-Fischereireform 2013 | EU-Recht |
TOP 13 Gesetz zur Förderung des Mittelstandes | Landesrecht |
TOP 32 ELER Mittel für Schleswig-Holstein | Fremdgeld |
TOP 36 Perspektiven wissenschaftlichen Nachwuchses | Landespolitik |
TOP 38 Gemeinsame Berufsbildungskonferenz von Bund und Ländern | Föderalismus |
TOP 20 Landesweites Sozialticket | Landespolitik |
TOP 40 Landesweite Kita-Sozialstaffel | Landespolitik |
TOP 41 Bericht Bürokratie und Verwaltungsaufwand in der Landwirtschaft | EU-Recht, Fremdgeld |
TOP 55 Wiedereinrichtung des Blindenfonds | Landespolitik |
TOP 59 Illegale Drogen in Schleswig-Holstein | Landespolitik |
TOP 61 Schutz von Frauen und ihrer Kinder | Landespolitik |
Sammeldrucksache | |
TOP 2 Gesetz zur Stärkung der Mitwirkung der Seniorinnen und Senioren | Landesrecht |
TOP 7 Anpassung Landesrecht in Justizsachen | Landesrecht |
TOP 10 Spielbankgesetz | Landesrecht |
TOP 11 Ausführungsgesetz SGB II und Bundeskindergeldgesetz | Landesrecht |
TOP 12 Mitbestimmungsgesetz | Landesrecht |
TOP 14 Therapieunterbringungsvollzugsgesetz | Landesrecht |
TOP 18 Steuerabkommen Schweiz | Bundesrecht |
TOP 22 Neuausrichtung Krankenhausfinanzierung | Landespolitik |
TOP 34 Existenzgründungen | Landespolitik |
TOP 35 Familie und Qualifizierung | Landespolitik |
TOP 39 Rentenkürzung / Rente mit 67 | Bundesrecht |
TOP 42 Biomasse nachhaltig nutzen | Bundesrecht |
TOP 43 Wildtierhaltung in Zirkussen | Bundesrecht |
TOP 44 Zukunft Jugend in Schleswig-Holstein | Landespolitik |
TOP 45 EHEC-Erkrankungswelle | Landespolitik |
TOP 46 Barrierefreiheit im Nah- und Fernverkehr | Landespolitik |
TOP 47 Europäische Nordseestrategie | Europapolitik |
TOP 50 Veräußerung von Grundstücken | Landesrecht |
TOP 51 Bildungsföderalismus neu gestalten | Föderalismus |
TOP 52 Rechtspopulismus entgegentreten | Appell |
TOP 53 Verfahren vor Landesverfassungsgericht | Landesrecht |
TOP 54 Verfahren vor Landesverfassungsgericht | Landesrecht |
TOP 56 Suchthilfe und Suchtprävention | Landespolitik |
TOP 62 Asbestmülltransporte | Landespolitik |
von der Tagesordnung abgesetzt | |
TOP 5 Gesetz über das Studentenwerk SH | |
TOP 6 / 17 Änderung des Schulgesetz | |
TOP 15 Mädchen und Frauen im Strafvollzug | |
TOP 16 a / 24 Tierfabriken, artgerechten Nutztierhaltung | |
TOP 19 Europäisches Jahr aktives Altern / Bürgerbeteiligung | |
TOP 28 Entwicklungspolitische Verantwortung | |
TOP 29 Plagiatssoftware an Schulen | |
TOP 49 Überprüfung der GMSH |
Swen, gerade der Punkt Europapolitik muss sehr differenziert betrachtet und bewertet werden.
Schaut man sich an, welchen Stellenwert die EU- & Europapolitik in den südlichen Bundesländern hat und in welcher Form diese Länder, Dank ihres Engagements, davon profitieren, dann muss man sich die Frage stellen, ob die Europapolitik von Schleswig-Holstein in den letzten Jahren (bzw. Jahrzehnten) nicht nur unterschätzt, sondern sogar sträflich vernachlässigt wurde.
Man kann jetzt hinsichtlich repräsentativer Gebäude, wie dem „Stoiber-Castle”, geteilter Meinung sein aber gerade Bayern, Baden-Württemberg und Hessen sind in Brüssel sehr gut vernetzt und schaffen es ihre (regionalen, wirtschaftlichen und politischen) Interessen bei den diversen EU-Institutionen zu vertreten und auch durchzusetzen.
Die Differenzierung, die ich in den Artikel anstrebte, begründet sich aus der Aufgabenstellung eines Parlamentes, die in der Verfassung festgelegt ist. Und aus diesem Blickwinkel gehört die Einflussnahme oder Mitwirkung in Europaangelegenheiten nicht zum Kernbereich. Wie ich schon im Artikel. Damit ist keine Bewertung des Themas als solches verbunden.
Bayerns gute Vernetzung in Brüssel hat viele Gründe. Vor einigen Jahren noch (keine Ahnung, ob das heute auch noch Stand der Dinge ist), konnte man als Ministerialbeamter in der bayerischen Landesverwaltung in der Regel nur dann in Spitzenpositionen (Abteilungsleiter o.ä.) aufsteigen, wenn man eine gewisse Dienstzeit in Brüssel verbracht hat. Solche Mechanismen schaffen mehr Einflußpotentiale und Frühwarnsignale in der EU-Politik als gelegentliche Bildungsreisen von Parlamentariern.
Es will mir doch keiner ernstlich erzählen wollen, dass eine Debatte im Kieler Landtag über die Brüssler Fischereipolitik auch nur einen I-Punkt in den dortigen Vorlagen ändern wird.
Europäische Lobbyarbeit, dass muss ich Dir aber nicht erzählen, findet nicht hier in Kiel sondern vor Ort in Brüssel statt.