Abgeordnete fast aller Fraktionen im Kieler Landtag sind skeptisch gegenüber der von Facebook angekündigten Zwangseinführung der sogenannten Timeline/Chronik.
Der Schleswig-Holsteinische Landtag war schon immer etwas anders. Während das allgemeine Vorurteil lautet, ein Politiker wisse nicht, was – und warum was – bei Facebook passiere und sowieso reflexartig alles für böse erklärt, sind gefühlte 50 Prozent der bundesweit heute zu Facebook veröffentlichten Presseerklärungen aus dem Kieler Landtag gekommen. Und zwar nicht, weil eine ominöse „Todesfalle Facebook” zugeschlagen hätte oder es auf der Tagesordnung gestanden hätte. Nein, einfach weil Facebook die schon vor einiger Zeit eingeführte Timeline (zu deutsch: Chronik) für jedermann verfügbar machen möchte.
Die Chronik löst die bisherige Sicht auf zurückliegende Ereignisse, die man bei Facebook gepostet hat, ab. Eine Facebook-Sprecherin teilte mit, dass keine Sichtbarkeits-Einstellung ohne eine ausdrückliche Benachrichtigung des Nutzer verändert werde. Kritikern geht das nicht weit genug, Sie erwarten, dass Änderungen in der Sichtbarkeit nur durch den Nutzer selbst veranlasst werden können.
Jörg Nickel, neuer grüner Landtagsabgeordneter, sieht in der Timeline eine „weitere Erosion des Datenschutzes”. Er befürchtet, dass „auf diese Weise Daten in die Öffentlichkeit gelangen, die dafür nicht gedacht waren.” Auch Peter Eichstädt von den SPD ist skeptisch. Er befürchtet sogar, dass „alle Inhalte, die der Nutzer je auf seinem Facebook-Profil angelegt hat, öffentlich werden, wenn er nicht innerhalb einer Frist von nur 7 Tagen widerspricht.” Er unterstützt den Datenschutzbeauftragten in dessen Auffassung, „dass jede/r Nutzer/in selbst entscheiden können muss, wann er/sie welche Daten über sich im Netz zugänglich macht.” Die Liberale Ingrid Brand-Hückstädt hat Facebooks Mitteilungen anders verstanden: „De facto ändert sich nach meiner Einschätzung mit der Timeline-Funktion an der generellen Datenverfügbarkeit bei Facebook nichts.“ Es handele sich vielmehr um ein neues optisches Feature. Dennoch empfiehlt sie allen Facebook-Nutzern eindringlich, ihre Privatsphäre-Einstellungen noch restriktiver zu nutzen — oder aber ganz bei Facebook auszusteigen. Für die CDU-Landtagsfraktion bewertete Dr. Michael von Abercron die neuen Bedingungen „sehr kritisch”. Jeder Facebook-Nutzer müsse entscheiden, ob er sich diese Bedingungen diktieren lassen will. Im Handelblatt vom 26. Januar hatte Schleswig-Holsteins Datenschutzbeauftragter Dr. Thilo Weichert es als „absolut nicht in Ordnung“ bezeichnet, dass Facebook einseitig zentrale Features der Plattform verändere.
Abercron schloss seine Presseerklärung mit dem Satz „Wieder einmal zeigt das Vorgehen von Facebook, dass die Gesetzgebung der Schnelligkeit des Internets unterlegen ist“. Das ist sicher eine gute Beschreibung des Problems der Parlamente: Die, und niemand anders, haben es in den vergangenen Jahren versäumt, sich mit „dem Internet” sachkundig auseinanderzusetzen und über zu ziehende – oder nicht zu ziehende – Folgen zu beraten. Die in den Presseerklärungen seiner Parlamentskollegen erwähnte Initiative der EU-Kommission, die EU-Datenschutzrichtlinie von 1995 zu überarbeiten, mag da Fortschritte bringen, die auch im deutschen Recht Anpassungen erfordern werden. Wobei ein „Recht auf Vergessen” so weltfremd erscheint wie die Idee von Thilo Weichert, es könnte einem Unternehmen irgendwie verboten werden, seine Plattform weiterzuentwickeln.
Wie wenig durchdacht das deutsche Recht ist, zeigt ein Blick auf eine „Information für Webseitenbetreiber mit Sitz in Niedersachsen” des Niedersächsischen Datenschutzbeauftragten, auf die der Rechtsanwalt und Blogger Thomas Stadtler hinwies. Die Verwendung des Facebook-Like-Buttons auf der eigenen Webseite soll in Niedersachsen gegen immerhin sechs Vorschriften und Rechtsgrundsätze verstoßen. Stadtler weist jedoch darauf hin, „dass das in der juristischen Literatur überwiegend anders gesehen wird”. Auch das ist ein Hinweis für die Notwendigkeit des Gesetzgebers, also der Parlamente in Brüssel und Berlin, aktiv zu werden: Es kann nicht sein, das Dilemma aussitzen zu wollen und den Gerichten zu überlassen.
Damit bei der Beschäftigung in den Parlamenten (und Ministerien) auch was sinnvolles herauskommt, hat der Verein Digitale Gesellschaft in Zusammenarbeit mit European Digital Rights eine 24-seitige Broschüre “Wie das Internet funktioniert – Eine Anleitung für EntscheidungsträgerInnen und Interessierte” geschrieben. Die Broschüre soll in verständlicher Sprache „EntscheidungsträgerInnen und Interessierten einen Überblick über das Internet und Internettechnologien geben”. Es wird mir eine Freude und Ehre sein, diese Broschüre in die Fächer der Abgeordneten im Kieler Landtag zu legen. Dieses Basiswissen ist notwendig, um bewerten zu können, ob ein den Parlamenten vorgeschlagenes Mittel auch wirklich tauglich ist. Nur dann können sie, ein — wie Frau Brand-Hückstädt es heute formulierte — „gesundes, angemessenes Verhältnis zwischen mehr Persönlichkeitsschutz auf der einen und einem freien digitalen Markt auf der anderen Seite” schaffen. Ich ergänze mal: Und den Bürgern ermöglichen, ihre Meinung auch weiterhin frei auch im Internet äußern zu können.
Wen es aktuell ganz profan drängt, seine neue Timeline/Chronik zu gestalten, der kann bei Facebook hier vorbeischauen oder sich diese Spiegel Fotostrecke ansehen. Das erklärt die notwendigen Schritte. Ich fand es relativ einfach, meine Chronik zu überprüfen (ich habe schon vor Monaten auf Chronik umgestellt) und mittlerweile unpassend gewordene verschwinden zu lassen (oder zu löschen).
Da die Menschen erkennbar das Bedürfnis haben, sich in sozialen Netzwerken zu betätigen, greift eine „Facebook muss weg“ politisch zu kurz. Es ist wesentlich sinnvoller, die notwendigen Mindestanforderungen zu definieren und Alternativen aufzuzeigen bzw. deren Entwicklung anzustoßen.
Eine solche Facebook-Alternative könnte Friendica werden. Friendica scheint nicht die Vorzüge von Facebook mit einem (auch datenschutzrechtlich) anderen Ansatz zu vereinen sondern will mehr bieten. Die Idee ist, mithilfe von offenen, freien Standards ein vertrauenswürdige soziales Netzwerk ohne Koppelung an einem einzelnen Anbieter zu entwickeln. Auch das W3C macht sich dazu Gedanken. Friendica ist nach meinem Eindruck deutlich flüssiger und gefälliger als das vor sich hindümpelnde Diaspora, dem noch vor Monaten eine große Zukunft vorausgesagt wurde. So könnte das aussehen. Um das vielen Nutzern zur Verfügung zu stellen, wäre es sinnvoll, den einen oder anderen Server zur betreiben und Interessierten ohne technische Ambitionen als „Heimathafen” zur Verfügung zu stellen. Ich könnte mir auch vorstellen, als Landesblog einen solchen Hafen anzubieten. Im Moment gibt es eine im Rahmen des Kieler Webmontags geborene Idee, die die notwendige Grundlage für so etwas schaffen könnte.
Friendica wir sich gegenüber Facebook mit Sicherheit genauso erfolgreich durchsetzen wie Statusnet gegenüber Twitter. Optik und User Interface sind um Jahre zurück. Es wird ein Projekt für Freaks und Fraggles bleiben, fürchte ich.
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