ACTA hat die Landespolitik erreicht. ACTA, das steht für Anti-Counterfeiting Trade Agreement, und meint ein multilaterales Handelsabkommen auf, das teils von Nationen, teils von Staatenbünden wie der EU unterzeichnet werden soll. Ziel des Abkommens ist es, international geltende Regeln für den Kampf gegen Produktpiraterie und Urheberrechtsverletzungen zu schaffen. Die Initiative für das Abkommen ging 2008 von den USA und Japan aus. Insbesondere die Musik- und Filmindustrie soll die Verhandlungen angetrieben haben. Teilnehmende Länder sind Australien, Japan, Jordanien, Kanada, Marokko, Mexiko, Neuseeland, Schweiz, Singapur, Südkorea, Vereinigte Arabische Emirate, Vereinigte Staaten und die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten.
Kritiker fürchten, durch das Abkommen könnten Eingriff in die Privatsphäre und Grundrechte legalisiert werden. Zudem sei das Abkommen in vielerlei Formulierungen „schwammig“, schaffe also keine Rechtssicherheit bzw. vernichte diese. Da die Auslegung der unklaren Rechtsbegriffe allenfalls durch die Verhandlungsprotokolle geklärt werden könne, diese jedoch nicht veröffentlicht wären, sei es rechtsstaatlich unhaltbar, wenn Parlamente ohne dieses Wissen zustimmen müssten. Zudem sei es erkennbar Unfug, ein Abkommen über die Ächtung etwa der Markenpiraterie zu beschließen, ohne dass die „Hauptherkunftsländer“ solcher Produkte mit am Tisch säßen.
Die Bundesregierung hatte stets betont, dass es in Deutschland aufgrund ACTA keinerlei Gesetzgebungsbedarf gäbe. Hierzulande seien die vereinbarten Regeln schon Stand der Dinge. Gleichwohl hat sie heute, wie schon zuvor Lettland, Polen, Slowakei, Tschechien, die Ratifizierung des Abkommens vorerst gestoppt. Damit ACTA in Deutschland in Kraft treten könnte, müsste es von Bundestag und Bundesrat in einem Zustimmungsgesetz beschlossen werden.
Für morgen haben Aktivisten weltweit zu Protesten aufgerufen. Die Karte der Proteste ist beindruckend: http://bitly.com/acta-karte. In Schleswig-Holstein ist in Kiel eine Demonstration geplant. Sie soll um 12:00 Uhr auf dem Asmus-Bremer-Platz starten und über Holstenstraße, Ziegelteich, Andreas-Gayk-Straße, Holstenbrücke am Kleinen Kiel entlang zum Justizministerium führen. Dort ist die Abschlusskundgebung mit zwei Rednern geplant. Informationen findet man auf Twitter mit dem Hashtag #ACTAKI, bei Facebbook oder auch hier: https://piratenpad.de/p/ACTADemoKiel
In der Landespolitik gibt es eine breite Unterstützung für die Demonstration bzw. gegen ACTA. Die Jungen Liberalen hatten sich schon im Laufe der Woche gegen ACTA positioniert. Die Piratenpartei Schleswig-Holstein gehört wie der Landesverband der Grünen zu den Mitorganisatoren der Demonstration. Beide lehnen ACTA entschieden ab und riefen frühzeitig zur Demonstration auf. Heute positionierte sich die liberale Landtagsabgeordnete Ingrid-Brandt-Hückstadt klar gegen ACTA. „Das jetzt im Europaparlament diskutierte Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA) – oder auch Anti-Piraterie-Abkommen – lässt zu viele Fragen offen, als dass es dort einfach durchgewunken werden darf.“ Jörg Nickel, Sprecher für Netzpolitik der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen konnte sich nicht verkneifen, darauf hinzuweisen, dass die „Bundesregierung ACTA schon am 30.11.2011 mit allen Stimmen der FDP-Minister passieren lassen“ habe und kündigte einen Antrag im Landtag an (Update: Hier ist der Antrag), der sich gegen ACTA stellt und die Landesregierung auffordert, sich auf „Bundes- und Europaebene gegen die Ratifizierung von ACTA einzusetzen“. Eine explizite Aufforderung an die Landesregierung, sich im Bundesrat einem etwaigen Zustimmungsgesetz zu verweigern, könnte dem Antrag noch gut tun. Könnte, denn mittlerweile hat die Bundesregierung ja schon angekündigt, die Ratifizierung auszusetzen.
Peter Eichstädt, medienpolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion will Produktpiraterie bekämpfen – aber ohne Eingriff in Grundrechte. „Entsprechende Regelungen dürfen nicht dazu führen, dass das Internet zu einer „überwachten Zone“ wird und die – privaten – Provider für die Durchsetzung des Rechts sorgen.“
Justizminister Emil Schmalfuß lies kein gutes Haar an dem Abkommen. „ACTA ist so überflüssig wie falsch. Wir verfügen bereits über ein funktionierendes System des Produkt und Markenrechtsschutzes. Weitere Eingriffe in die Grund- und Bürgerrechte sind nicht zu rechtfertigen und dienen ausschließlich einseitig den Interessen der Rechteinhaber.“ Er wendete sich auch gegen die Art und Weise des Zustandekommens des Abkommens: „Die Verhandlungen wurden unter strenger Geheimhaltung und ohne jede Transparenz geführt. Das belegt seinen Charakter als eine Maßnahme zugunsten von Lobbyisten und ist mit rechtsstaatlichen Anforderungen schlicht unvereinbar. Schon damit dieses undemokratische Beispiel nicht Schule macht, darf dem ACTA kein Erfolg beschieden sein.“
Beim letzten Argument bin ich mir nicht sicher, ob es wirklich stimmt. Dass Verhandlungen – insbesondere dann, wenn man jemanden überzeugen möchte, seine Meinung zu ändern – geheim oder vertraulich geführt werden, ist schon aus psychologischen Gründen sinnvoll: Wir wahren schneller das Gesicht, wenn wir nicht öffentlich sondern vertraulich debattieren, ungeschützt – aber zugleich ohne Angst vor Repression – auch unsere Ängste äußern können, frei von der Leber weg zugeben dürfen, von etwas keine Ahnung zu haben – aber dennoch zustimmen oder ablehnen sollen und deshalb Rat brauchen. Da muss man nicht an der Frage „geheim“ oder vertraulich“ rumschrauben sondern an unseren inneren Einstellungen – und an unseren Erwartungen an die politische Klasse.
Es wäre erstaunlich, wenn die Landesregierung zum Beispiel daran dächte, Kabinettsprotokolle regelmäßig zeitnah zu veröffentlichen. Wobei ich persönlich in früheren beruflichen Tätigkeiten regelmäßig Kabinettsprotokolle las und ab und an sogar an Kabinettssitzungen teilnahm und mich deshalb berufen fühle zu behaupten, dass 95 Prozent der Protokolle ohne Schaden für irgendwen veröffentlicht werden könnten.
Wenn das aber Anlass sein sollte, die Fragen der Vertraulichkeit von Dokumente im Regierungs- und Parlamentsapparat neu zu diskutieren, dann ist das prima.
Ich hätte gleich ein Beispiel: Wir haben allein in dieser Legislaturperiode 104 sogenannte Unterrichtungen der Landesregierung an den Landtag, allesamt „nicht öffentlich“. Hier die Titel der letzten:
- Gemeinsame Erklärung über die Zusammenarbeit zwischen dem Ministerium für Landwirtschaft des Gebietes Kaliningrad und dem MLUR in den Jahren 2012 bis 2016 Unterrichtung 17/104 02.02.2012 (nicht öffentlich)
- Entwurf eines Gesetzes über den Vollzug des Jugendarrestes in Schleswig-Holstein (Jugendarrestvollzugsgesetz — JAVollzG) Unterrichtung 17/102 26.01.2012 (nicht öffentlich)
- Entwurf einer Bundesratsinitiative zur Änderung der Viehverkehrsverordnung hinsichtlich der Kennzeichnung von Equiden Unterrichtung 17/99 26.01.2012 (nicht öffentlich)
- Konzeptionelle Überlegungen zur deutsch-dänischen Zusammenarbeit (Dänemark-Strategie) Unterrichtung 17/103 26.01.2012 (nicht öffentlich)
- Entwurf einer LVO über das Naturschutzgebiet „Binnendünen Nordoe” Unterrichtung 17/100 25.01.2012 (nicht öffentlich)
- Bundesratsinitiative „Entschließung des Bundesrates zum Bildungsföderalismus” Unterrichtung 17/98 24.01.2012 (nicht öffentlich)
Eine vollständige Auflistung findet man im Landtagsinformationssystem, wenn man dort nach dem Typ Unterrichtung sucht. Allein nach den Titeln geurteilt, erschließt sich dem verständigen Leser der Grund zur Vertraulichkeit selten. Und wenn, dann allenfalls temporär. Absurde Stilblüte aus der letzten Zeit war die vertrauliche Unterrichtung über den NDR-Digitalradio-Staatsvertrag (ich habe hier im Landesblog darüber berichtet), der zugleich in Hamburg im dortigen Parlamentssystem öffentlich zugänglich war.
ACTA fängt an der Kieler Förde an.