„Wer Politiker wirklich verstehen will, braucht einen Universitätsabschluss“. Zu diesem Schluss kommt eine Kieler Werbe- und Marketingagentur, die mit einer speziell entwickelten Software die Kommunikation der Parteien in Schleswig-Holstein unter die Lupe nahm.
„Die Hauptprobleme sind zu lange und verschachtelte Sätze, abstrakte Wörter, Fachbegriffe und Fremdwörter“. Die Verständlichkeit von Texten wird mit dem Hohenheimer Index in Zahlen ausgedrückt: 0 steht für „überhaupt nicht verständlich“, 20 heißt „sehr verständlich“. Eine wissenschaftliche Dissertation liegt durchschnittlich bei 4,3. Eine weithin verpönte Boulevard-Zeitung erreicht in ihren Politik-Beiträgen einen Verständlichkeits-Wert von 16,8. Auf der Webseite textmonitor.de kann man die Methode in Aktion sehen.
Komplizierte Wahlprogramme
Vera Baastrup, Mitarbeiterin der Kieler Werbe- und Marketingagentur New Communication findet: „Die Wahlprogramme sind viel zu kompliziert. Sie haben teilweise das Schwierigkeitsniveau einer Doktorarbeit.“ Das Ergebnis der Analyse:
FDP: 3,09 Punkte
CDU: 4,29 Punkte
SSW: 5,11 Punkte
Piraten 5,16 Punkte
SPD 5,57 Punkte
Grüne 6,11 Punkte
Linke 6,34 Punkte
Die „verständlichste“ Partei, die Linke, spricht mit ihrem Wert immer noch ein Akademiker-Publikum an.
Bandwurmsätze und Fach-Chinesisch
Baastrup zählt Stolperfallen auf:
Lange Sätze. Sie behindern die Verständlichkeit. „Die absolute Obergrenze sollte bei 20 Wörtern pro Satz liegen.“ Die FDP türmt in ihrem Wahlprogramm ein Satzungetüm von 64 Wörtern auf: „Spätestens nach dem dritten Komma hat der Leser die Informationen vom Satzanfang vergessen“.
Lange und schwierige Wörter, Anglizismen und Fachausdrücke. „Landesinformationsfreiheitsgesetz“ (CDU), „Haushaltsbegleitgesetzgebung“ (Linke), „Oberflächenwasserentnahmegesetz“, „Basel III“ (FDP), „Repowering“ und „Gender Mainstreaming“ (SSW): „Den unbedarften Bürger treiben derart komplizierte Vokabeln schnell zur Kapitulation“, so Baastrup.
Kurzprogramme und aktuelle Meldungen verständlicher
Einen Lichtblick sind die Kurzprogramme, die von CDU, FDP, Grünen, Piraten und Linken angeboten werden: „übersichtlicher“ und „verständlicher“ lautet das Urteil. Ganz vorn ist die Linke. Die Kurzfassung ihres Wahlprogramms ist mit 17,24 Punkten geradezu vorbildlich in Sachen Verständlichkeit. Das Schlusslicht ist die FDP. Mit 7,43 Punkten macht sie mit ihrem Kurzprogramm aber immerhin noch einen deutlichen Sprung nach oben auf der Verständlichkeits-Skala.
Auch bei den auf den Webseiten der Parteien veröffentlichen Meldungen sind die Ergebnisse nach dem Urteil der Forscher erfreulicher. Wieder vorn dabei: Grüne und Linke. Bis auf kleine Ausreißer bei der Linken liegt kein Ergebnis unter 9 Punkten. „Leider sind die üblichen Verständlichkeits-Hürden jedoch auch bei kurzen Meldungen keine Seltenheit“, urteilt Baastrup. „In der heißen Wahlkampf-Phase verschenken viele Parteien die Chance, auf Augenhöhe zu kommunizieren. Wer nicht verstanden wird, kann nicht überzeugen.“
Innovativ: die Grünen
Ein Lob der Werber geht an die Grünen: In Sachen Kommunikation auf Augenhöhe fallen sie ihrer Meinung nach in ihren aktuellen Meldungen positiv auf. „Wie keine andere Partei bemühen sie sich, ihren Lesern die Inhalte ihres Programms verständlich näherzubringen“. „Am bemerkenswertesten“ seien sechs kleine Filme, in denen Spitzenkandidat Robert Habeck ausgewählte Punkte des Programms erkläre. „Auch wenn in der schriftlichen Fassung der Wahlprogramme noch deutlich Luft nach oben ist, merkt man, dass sich hier jemand ernsthaft mit dem Thema Verständlichkeit auseinandergesetzt hat“, lobt Baastrup.
Verständlichkeit in Echtzeit verfolgen
Wer mag, kann die sehr detaillierten Ergebnisse der Verständlichkeits-Analyse auf www.textmonitor.de in Echtzeit verfolgen. Dort lesen die Verständlichkeits-Forscher bis zur Wahl am 6. Mai regelmäßig weitere Meldungen der Parteien ein.
Dieser Text basiert wesentlich auf einer gestern (17. April 2012) veröffentlichten Pressemeldung der Kieler Werbe- und Marketingagentur New Communication. Die eingesetzte Textverständlichkeits-Software ist TextLab. New Communication hat mir auf Nachfrage versichert, dass sie – mit Blick auf den Wahlkampf – mit den oben erwähnten Landesverbänden der Parteien nicht in geschäftlichen Beziehungen steht.
Update: 19.04.12, 00:07 Uhr Ich habe die ursprünglich im Text erwähnten Bezüge zur Universität Hohenheim aufgrund des Kommentars eines Mitarbeiters der Universität entfernt.
Das Ergebnis bei den Piraten hat mich schon ein bissl überrascht. Was lernen wir daraus: Schwarmintelligenz macht Wahlprogramme wohl auch nicht verständlicher ;-).
Kai
Erstaunlich wie verkümmert Sprachkompetenz in Deutschland ist — ich hätte gedacht, das ist ein Randgruppenproblem; obwohl es durchaus allein wegen Menschen mit Migrationshintergrund, Legasthenie oder anderen Benachteiligten lohnenswert und ehrenvoll ist, sich verständlich auszudrücken (vor allem wenn man ein Land führen will), bin ich davon überrascht, wie wenig fähig offenbar der deutsche Durchschnittsbürger ist, Kommentarbeiträgen wie diesem von mir hier verfassten zu folgen und diesen nicht nur in seiner Gänze zu verstehen, sondern ihn auch noch zu behalten und im besten Falle zu einem späteren Zeitpunkt — wenigstens seinem Sinn nach — wiederzugeben, ohne meine Aussagen zu entstellen, zu verdrehen oder gar in ihr Gegenteil umzukehren (insbesondere wenn man bedenkt, dass ich nicht ein einziges Mal auf die neue barrierefreie Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0) verwiesen habe, die sich unter anderem auch mit dem Aspekt der angemessenen Ausdrucksweise beschäftigt) . ;-)
Wenn unsere Schulen nicht — wieder — besser werden, kann man Kafkas Gesamtwerk auch verbrennen — und überhaupt die Hälfte der Autoren, um derentwillen man uns mal das Land der Dichter und Denker nannte. Einschließlich Kant, Hegel und Marx…
Sehr geehrter Herr Haunschild,
wer glaubt, verkümmerte Sprachkompetenz sei ein Randgruppenproblem,
dem könnte man Realitätsferne nachsagen oder schlimmer noch,
Borniertheit. Zweiteres möchte ich Ihnen keinesfalls unterstellen.
Wer jedoch von der sprachlichen Unfähigkeit des Deutschen Durchschnittsbürgers schreibt, der legt nahe, er selbst sei überdurchschnittlich mit sprachlicher Kompetenz ausgestattet. Ich bitte Sie daher zu bedenken, dass die sogenannte Sprachkompetenz auch kommunikative Kompetenz beinhaltet. Und dies bedeutet nichts anderes, als sich im sozialen Kontext adäquat auszudrücken. Kommunikative Kompetenz ist gegeben, wenn man sich auf die sprachlichen Fähigkeiten seines Gespächspartners einstellt und sich entsprechend verständlich ausdrückt. Dichten und Denken allein macht weder satt noch ist per se dumm, wer Kafka nicht gelesen hat. Ein Narr allein ist vielleicht, wer Kafkas Werk verbrennen will.
Herzlichst
H.H. Paustian
Hallo haha
Leg ich mich aus,
so leg ich mich herein.
ich kann nciht selbst
mein Interprete sein.
Nur so viel als kleiner Tipp: der Smiley ist nicht zufällig in meinem Posting und andere Diskussionsteilnehmer haben auch durchaus plausible Deutungsmöglichkeiten benannt.
Noch ein Tipp: Da dieser Text von mir „nur” ein Kommentar auf einen Blogeintrag ist, solltest Du vielleicht keine allzu hohen Erwartungen an Komposition und Ausformulierung stellen.
Marc
Arno Schmidt ging davon aus, dass der Anteil derjenigen, die den Bestand der Kunstwerke der Menschheit bereichern, der dritten Wurzel der Bevölkerung entspricht. Auf die Bundesrepublik bezogen kämen jetzt also ungefähr 430 Dichter und Denker heraus, um von denen wiederum die „Wahrhaften” zu ermitteln, empfahl er nochmals die dritte Wurzel zu ziehen… Auch wenn man diese Sicht vielleicht als zu pessimistisch empfindet, bleibt der Anteil derjenigen, die wir heute als Dichter und Denker empfinden, an der zu ihrer Zeit lebenden Bevölkerung verschwindend gering.
Der Anteil der Soldaten und Mörder an der Gesamtbevölkerung ist zu jeder Zeit größer gewesen.
Auch aus diesem Grunde halte ich es für verwegen, Kafkas Gesamtwerk zu verbrennen, weil es nur noch wenige verstehen.
Aber abgesehen davon unterscheiden sich Wahlprogramme und die Werke der sogenannten Dichter und Denker in einem ganz wesentlichen Punkt & sind daher nicht zu vergleichen: ein D&D möchte verstanden werden, ein Wahlprogramm soll i.d.R. auch nach der Wahl nicht die Möglichkeit verbauen, sich eine angemessene Beteiligung an der Macht zu sichern. Vielleicht erreicht aus diesem Grunde das Programm der F.D.P. die niedrigsten Werte, weil auch hinterher alles möglich sein soll, und das Programm der Linken die höchsten Werte, weil sie schreiben können was sie wollen, es ist bereits jetzt klar, dass keiner mit ihnen „spielen” möchte.
Es ist allemal belustigend, wenn ich lese, wie die beiden Vorkommentatoren das Thema auf die Schippe nehmen. Für mich stellt sich trotz der nicht neuen Erkenntnis immer wieder die gleiche Frage:
Welchen Eindruck will die Politik erzeugen mit ihrer unverständlichen Ausdrucksweise? Ist es die geschickte Verschleierung des eigenen Unvermögens, um weiterhin von Steuergeldern zu profitieren, oder eher die Angst, dass Bürger, die verstehen, sich eventuell wehren?
Zu Zeiten als Politik noch verstehbar war (die Zeiten hat es tatsächlich gegeben), gab es aber auch noch eine soziale Marktwirtschaft. In der sozialen Markwirtschaft war die Verteilung des Kapitals zur Leistung des Einzelnen aber noch so, dass man in der Lage war, problemlos in der Gesellschaft zu stehen.
Dass man heute in der Politik solche und noch viele andere Misstände verschleiert, kann ich durchaus nachvollziehen. So lange die Politiker nur noch das Ziel der Macht im Auge haben, um das Staaatsvermögen zu beherrschen, aber in keinster Weise den Bürger vertreten (höchstens mal mit austauschbaren Lügen im Wahlkampf) haben sie gar kein Interesse, dass eine Mehrheit sie versteht.
Ich finde die Erhebung informativ und sie stützt eine seither gefühlte und eher emotionale Meinung mit Sachfakten. Dass in den Rand- und Schlussbemerkungen des Autors jede Partei ihr Fett wegbekommt, außer der SPD, ist sicher Zufall!
> Dass in den Rand- und Schlussbemerkungen des Autors jede Partei ihr Fett wegbekommt, außer der SPD, ist sicher Zufall!
Ja. Das sehe ich auch so. Denn lobend erwähnt wird sie (im Gegensatz zu anderen) auch nicht. Es liegt in der unvermeidlichen Natur der Sache, dass Bewertungen dazu führen, dass manche gelobt, mache kritisiert und manche beschwiegen werden. Daraus einen Strick zu drehen klappt nur dann, wenn ich belegen könnte, dass die Auswahl) in welche Richtung auch immer) manipulativ erfolgte. Das habe ich nicht festgestellt.
Ich schrieb ja.…Zufall! Nicht Vorsatz!
Interessant ist ja, mit welchen Quellen bei den Piraten gearbeitet wurde: Nämlich mit Quellen aus anderen Landesverbänden der Piratenpartei und deren Wiki.
Hallo zusammen!
Toll, dass hier so eine lebhafte Diskussion über unser Projekt entsteht.
Selbstverständlich wurde die SPD nicht bevorzugt. Genau wie die anderen Parteien haben wir auch hier jede Menge Verständlichkeits-Verstöße gefunden, wie man auf http://www.textmonitor.de ja auch sieht. Leider gibt es bis jetzt kein Kurzprogramm der SPD. Daher sind sie in diesem Bereich nicht vergleichbar. Aber vielleicht kommt ja noch was =).
Und geht’s allerdings auch weniger darum, einzelne Parteien an den Pranger zu stellen. Vielmehr möchten wir auf das Thema Textverständlichkeit aufmerksam machen. Das ist nicht nur ein Politiker-Problem, sondern zieht sich durch viele „Branchen”. Man denke nur mal an Vertragsbedingungen, Beipackzettel, Bedienungsanleitungen usw. Die Landtagswahl ist natürlich ein extrem dankbares Thema. Mit schlechten Ergebnissen war zu rechnen. Aber vielleicht nimmt’s sich der eine oder andere Politiker ja zu Herzen …
Ihr Hinweis auf die Landtagswahl SH ist eigentlich das, was mich am meisten beeindruckt. Wenn ich einmal sehe welche Inhalte die SPD und vor allem in welchem Imfang und mit welcher Bürgerbeteiligung, bis jetzt vorantreibt, stelle ich mir einfach die Frage wie das zu den dargestellten Ergebnissen führt. Die Themenvielfalt die die SPD täglich ins Land getragen hat, spiegelt sich darin nicht wider.
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