Lieber Christian von Boetticher,

Von | 18. Juli 2013
Ehemalige US-amerikanische Abhörgebäude, Teufelsberg Berlin

Ehemalige US-amerikanische Abhörgebäude, Teufelsberg Berlin | Foto: Jan Beck - CC BY 2.0

Auf Facebook schrei­ben Sie, dass der aktu­ell lau­fen­de NSA-Überwachungsskandal eine media­le Sau wäre, die durchs som­mer­ge­loch­te Dorf getrie­ben wür­de. Sie argu­men­tie­ren vom hohen Ross des welt­ge­wand­ten Juristen, dass schon alles mit rech­ten Dingen in den USA lie­fe und wir uns nicht fürch­ten soll­ten: Der Mensch sei der limi­tie­ren­de Faktor. Ich erlau­be mir ein­mal, eines Ihrer Zitate abzu­wan­deln: „Sorry, aber Technikdebatten von Nicht-Technikern sind immer wie phy­si­ka­li­sche Anmerkungen von Penny („TBBT”)!”

Die Daten wer­den ganz sicher nicht manu­ell aus­ge­wer­tet — es gibt kei­nen „Faktor Mensch” mehr. Die Daten die­nen zur Kalibrierung eines Systems, das für sich selbst defi­niert, was nor­ma­les und was abwei­chen­des Verhalten ist: Normal ist, was sta­tis­tisch die meis­ten Menschen machen. Die Menschen, die abwei­chen­des Verhalten zei­gen, also zum Beispiel Männer mitt­le­ren Alters, die sich auf Facebook mit wesent­lich jün­ge­ren Mädchen unter­hal­ten, wer­den dann an zustän­di­ge Stellen zur Überprüfung wei­ter­ge­lei­tet.

Christian von Boetticher bei Facebook

Christian von Boetticher kom­men­tiert bei Facebook.

Wer nicht über­prüft wer­den möch­te, soll­te sich also lie­ber vor­her schon über­le­gen, wel­ches Verhalten viel­leicht von den staat­li­chen Rechnern für abwei­chend gehal­ten wer­den könn­te. Man will ja nicht mit eigent­lich lega­len, aber doch irgend­wie abwei­chen­den Aktionen im Visier der Überwacher lan­den. Also soll­ten wir uns alle schön anpas­sen.

Meinen Sie immer noch, dass man sich als „anstän­di­ger Bürger” nicht wegen der Überwachung sor­gen muss? Ihr Parteifreund Michael Blume hat da ande­re Erfahrungen gemacht. Daten, die erho­ben wer­den, wer­den auch miss­braucht.

Und auch Sie machen den Fehler, den vie­le in der Politik zur Zeit machen: Sie gehen vom Status Quo aus: „Hey, ein paar Mails und Telefonverbindungen sind doch nicht so schlimm.” Aber die tech­ni­sche Entwicklung bleibt nicht ste­hen — mehr und mehr Geräte sind ans Internet ange­bun­den: Ihr Fernseher, Ihr Auto, Ihr Kühlschrank usw. — Stichwort „Internet der Dinge”.

Und dann kann man ein (ver­meint­lich) kom­plet­tes Abbild vom Leben der Menschen erstel­len: Wie lan­ge schla­fen Sie? Wann ste­hen Sie auf? Was essen Sie? Wohin bewe­gen Sie Sich? Was machen Sie unter­wegs? Mit wem tref­fen Sie sich? Welche Medien kon­su­mie­ren sie? Wann? Wo? Wie man all die­se Daten zusam­men­führt und so ver­ar­bei­tet, dass jeder auf­fällt, der nicht dem übli­chen Schema ent­spricht, erforscht die EU mit dem INDECT-Projekt. Dort sol­len Videobilder aus den mitt­ler­wei­le all­ge­gen­wär­ti­gen Überwachungskamera mit ande­ren Datenbanken zusam­men gebracht wer­den. Die USA machen das bereits heu­te mit ihrem „Information Awareness Office”. DAS ist, wovor die Piraten und all die­se ande­re Nerds schon seit Jahren und zum Teil seit Jahrzehnten war­nen.

Sie, Herr von Boetticher, haben doch erfah­ren, wie unse­re Gesellschaft mit Menschen umgeht, die nicht ins Raster pas­sen. Soll so eine frei­heit­li­che, eine offe­ne Gesellschaft aus­se­hen: Menschen, über­all und jeder­zeit über­wacht und ein­sor­tiert in klei­ne Schubladen? Hat dann der Terrorismus nicht geschafft, was er errei­chen woll­te? Terroristen kön­nen Leib und Leben bedro­hen — die Freiheit abschaf­fen kann nur die Politik.

12 Gedanken zu “Lieber Christian von Boetticher,”:

  1. JMK

    Gauck hat­te recht: kei­ne Aktenordner, die manu­ell durch­sucht wer­den. Eher Petabytes die durch Algorithmen eben kom­plet­te Profile aus­spu­cken, das geht bei Stichworten los und hör bei Bewegungsmustern auf.

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  2. Jörn

    Mein Lieblingssatz:

    Die Menschen, die abwei­chen­des Verhalten zei­gen, also zum Beispiel Männer mitt­le­ren Alters, die sich auf Facebook mit wesent­lich jün­ge­ren Mädchen unter­hal­ten, wer­den dann an zustän­dige Stellen zur Über­prü­fung wei­ter­ge­lei­tet.

    Treffer, ver­senkt, möch­te ich mal sagen.

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  3. Yves

    Wie ger­ne wür­de ich den text von Steffen doch als ver­schwö­rungs­theo­re­ti­sches Geschwurbel abtun.

    Leider zeigt er ziem­lich exakt auf was „Terrorismusbekämpfung” aus der „frei­en Welt” macht. Womit das Ziel von Terror wohl erreicht ist.

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    1. Steffen

      Noch vor ein paar Wochen hät­te ich das als Gefahr aber nicht als Realität gese­hen. Die USA strei­ten das aber nicht ein­mal mehr ab — sie sagen nur, dass das legal ist. Und Leuten, wie Herrn von Boetticher reicht das offen­bar an ethi­scher Begründung von Überwachung.

      Wie sag­te John Oliver neu­lich in der Daily Show? „Mr. President, wir wer­fen Ihnen nicht vor, dass Sie Gesetze gebro­chen haben — wir wun­dern uns nur, dass Sie das nicht muss­ten.” http://youtu.be/tilfgWzhsns

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  4. Christian von Boetticher

    Sehr geehr­ter Herr Voß,
    sie haben aus einer lan­gen Debatte bei mei­nem Facebook-Freund Philipp von Brandenstein einen Kommentar von ins­ge­samt acht mei­ner Debattenbeiträge her­aus­ko­piert und kom­men­tiert. Sie hät­ten sich genau­so gut in die Debatte ein­klin­ken kön­nen, aber das haben Sie nicht — honi soit qui mal y pen­se! Offenbar gehen Sie Diskussionen lie­ber aus dem Weg.

    Ich saß 2000/​2001 als Obmann im Echelon-Ausschuss des Europäischen Parlaments und ken­ne seit­dem die Möglichkeiten der NSA aber auch ihre Begrenzungen recht gut, denn ich habe mich über ein Jahr lang inten­siv mit allen tech­ni­schen Fachleuten in Europa über die rele­van­ten Fragen der Datenverarbeitungssystem aus­tau­schen kön­nen. Unser Abschlussbericht von damals ist noch im Netz, lesen Sie ihn ein­fach mal. Auch wenn die Technik heu­te deut­lich wei­ter ist, sind, gel­ten bestimm­te phy­si­ka­li­sche und tech­ni­sche Limitierungen immer noch, die mensch­li­chen ohne­hin.

    Aber ich fin­de inter­es­sant zu hören, was Ihrer Meinung nach die NSA genau macht. Sie erklä­ren das exak­ter als Herr Snowden, Respekt, wenn es denn stimm­ten wür­de. Bisher haben sich alle Legenden von einer Totalüberwachung jeden­falls in Luft auf­ge­löst, was natür­lich Verstöße gegen unser Recht nicht bes­ser macht.

    Wenn Sie mei­nen letz­ten Beitrag genom­men hät­ten, wäre viel­leicht deut­lich gewor­den, um was es in der Debatte eigent­lich ging. Darum schrei­be ich ihn hier abschlie­ßend:
    „Seit vie­len Jahren ist klar, dass wir in einer glo­ba­li­sier­ten Welt mit natio­na­ler Gesetzgebung den Bürgern auch nicht ansatz­wei­se mehr den Schutz und die Rechte gewähr­leis­ten kön­nen, die ihnen das Grundgesetz und der natio­na­le Staat ver­spricht. Wir kön­nen eine Finanztransaktionssteuer ein­füh­ren, die gilt dann aber am Finanzstandort London schon nicht mehr, wir kön­nen Käfighaltung für Hühner ver­bie­ten, aber die Nudelprodukte die wir essen, wer­den mit Eiern aus Thailand her­ge­stellt, wir kön­nen Kinderarbeit ver­bie­ten, aber wie die Kleidung in China her­ge­stellt wird, die wir tra­gen, bleibt recht­lich den Chinesen über­las­sen. Womit ich nicht gesagt habe, dass wir all das unter­las­sen soll­ten — es schützt uns nur nicht im sug­ge­rier­ten Umfang. Und jetzt stel­len wir fest, dass ein deut­schen Datenschutzgesetz, ja nicht ein­mal ein euro­päi­sches Datenschutzgesetz in der Lage ist, unse­re Daten zu schüt­zen. Die grund­le­gen­de Debatte über die Begrenztheit natio­na­ler Rechtssysteme ist also nicht neu, die Frage, die sie auf­wer­fen, ist des­halb abso­lut legi­tim, aber eben­falls nicht neu. Und sie haben Recht, es gibt kei­ne schnel­len Antworten…die gibt es schon seit Jahren nicht. Alle inter­na­tio­na­les Verhandlungen um Angleichungen der Rechtssysteme ste­cken in lang­jäh­ri­gen Verhandlungen (Kyoto-Protokoll, GATT-Verhandlungen, zuletzt das Meeresschutzabkommen der UNEP), von der Freihandelszone EU-USA noch gar nicht zu spre­chen. Dabei wird unser Rechtssystem im übri­gen „Federn las­sen”, weil bei Verhandlungen nicht zu erwar­ten ist, dass wir uns in allen unse­ren Ansichten durch­set­zen. Das ist der Grund, war­um ich weder die Rechtfertigung durch Innenminister Friedrich gut­hei­ße, noch die mas­si­ve Kritik an ihm, denn weder er noch irgend­ein ande­rer deut­scher Politiker kann die­se Lage kurz­fris­tig ändern. Das kön­nen der­zeit nur die Menschen in den USA…und da habe ich nach den Nachrichten von heu­te Morgen ganz gute Hoffnung”.
    In der wei­ter­ge­hen­den Hoffnung, dass sie nicht das Sommerloch im Landesblock fül­len woll­ten,
    ver­blei­be ich mit freund­li­chen Grüßen,
    Christian von Boetticher

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    1. Kai Bojens

      Herr von Boetticher, könn­ten Sie den Teil noch mal wie­der­ho­len, in dem Sie behaup­ten, dass die 35.000 Mitarbeiter der NSA unmög­lich alle E-Mails lesen kön­nen und des­we­gen der Faktor Mensch hier begren­zend wir­ke?

      Der Volksmund kennt so vie­le schö­ne Begriffe für Menschen, die frei von tech­ni­scher Sachkenntnis trotz­dem umso stär­ker eine Meinung dazu ver­tre­ten. Davon dür­fen Sie sich dann ger­ne einen aus­su­chen.

      Und als Hausaufgabe über­le­gen Sie ein­mal, wie Google es für 750 Millionen sei­ner Googlemail-Kunden schafft, die E-Mails zu ana­ly­sie­ren und Werbung ein­zu­blen­den, die zum Inhalt passt. Bonuspunkt gibt es für die Überlegung, wie die NSA das wohl macht.

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  5. jmk

    Der Snippet den Steffen aus­such­te passt schon ganz gut, sie wis­sen ja dass von den 1789 in 2012 wie­vie­le vom Foreign Intelligence Surveillance Court geneh­migt wur­den? Exakt. Alle 1789. Soviel zum Richtervorbehalt. Der ja selbst in Deutschland nur auf dem Papier steht und nicht wirk­lich ange­wen­det wird. Aber als juris­ti­sche­re Fachmann wis­sen Sie das ja.
    Dass ein Gesetz kei­ne Daten schüt­zen kann ist bekannt, nur dass unser Innenminister die­sen Rechtsbruch als Lappalie abtut die ande­re Seite der Medaille. Schlösser an mei­ner Wohnungstür ver­hin­dern kei­nen Einbruch, nur wird der Täter idR gesucht und es wird als Straftat bewer­tet. Im Falle Prism oder Tempora wird der Souverän die­ses Staates von sei­nen Repräsentaten noch ermahnt doch bit­te kei­ne Kritik zu üben und sich selbst zu schüt­zen.
    Die ers­te Ausformung der Selbstjustiz, die man durch­aus auf ande­re Bereich des gesell­schaft­li­chen Lebens aus­wei­ten könn­te.
    Welche Legenden haben sichd enn in Luft auf­ge­löst? Mir ist kein Sachverhalt bekannt der sich in den letz­ten Tagen rela­ti­vier­te.
    Selbst die Wikipedia ist hier bes­ser infor­miert.
    Sie schei­nen im Echelon Ausschuss nicht auf­ge­passt zu haben, der mensch­li­che Faktor ist hier nicht rele­vant. Prozesse sind voll­stän­dig zu auto­ma­ti­sie­ren, selbst die Auswertung und die Maßnahmen, das machen Firmen wie Youtube, Google, Amazon schon lan­ge vor. Lediglich die Algorithmen müs­sen neu jus­tiert, gepflegt wer­den even­tu­ell kann eine Endkontrolle durch Menschen statt­fin­den.

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  6. Nils Courvoisier

    Sehr geehr­ter Herr von Boetticher,

    wenn Sie 2000/​2001 als Obmann die Tätigkeiten der NSA „recht gut” ken­nen lern­ten, dann waren dies doch nur Dinge, die die NSA in Europa frei­gab. Und die­ses Wissen auf die heu­ti­ge Zeit und auch auf die nahe Zukunft zu bezie­hen, hal­te ich für mehr als blau­äu­gig. Wie das gan­ze in etwa funk­tio­nie­ren könn­te, kann man ja aus einem ein­fa­chen zivi­len Beispiel ler­nen. Schauen Sie sich nur an, wie Google funk­tio­niert und 2001 funk­tio­nier­te. Oder las­sen Sie sich von einem min­des­tens Halbprofi erklä­ren, was der Unterschied Google 2000 und 2013 ist. Nur zur Erinnerung: Die Werbung dort gab es noch nicht, als Sie Obmann des EPs waren.

    Ich befas­se mich beruf­lich sehr inten­siv mit Google, ich weiß, dass Steffen dies auch durch­aus macht und dort die Zusammenhänge kennt und ver­steht. Wenn man nun sieht, was Google alles kann und macht – und als Agentur oder beruf­lich sich damit befas­sen­de Person sieht man es sehr deut­lich – dann kann man sich vor­stel­len, was die NSA min­des­tens auch kann. Und mit die­sem Wissen über Google sind alle von Steffen ange­spro­che­nen Dinge für mich pro­blem­los nach­zu­voll­zie­hen. Mit etwas Zeit bin ich gar sicher, dass Steffen und ich dies auch umset­zen­den könn­ten. Technisch ist dies auch nicht sehr schwie­rig, es kos­tet nur Ressourcen und die rich­ti­ge Verknüpfung. Dann noch ein paar Sprachwissenschaftler dazu und fer­tig. Das ist kein Hokuspokus, den stef­fen von der NSA erwar­tet und beschreibt. Das ist real und fin­det bei Google in ande­rer Form durch­aus Verwendung.

    Kurz: Ich fin­de Ihren Kommentar ent­we­der naiv oder Sie hal­ten die Kritiker für naiv. Ich habe mich noch nicht ent­schie­den…

    Gruß,
    Nils Courvoisier

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  7. Heinrich

    Ich wun­de­re mich ein ums ande­re Mal, dass beson­ders Politiker von der CDU so lern­re­sis­tent sind und Fakten wider bes­se­ren Wissens so kon­se­quent ver­dre­hen kön­nen. Wobei ich mich tat­säch­lich nicht nur wun­de­re, son­dern fas­sungs­los bin.

    Man kann nur hof­fen, dass die men­ta­len Limitierungen der CDU irgend­wann nur noch ein Detail in den Geschichtsbüchern sind und Personen das poli­ti­sche Ruder über­neh­men, denen das Wohl des Volkes tat­säch­lich am Herzen liegt.

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  8. Torsten Krahn

    Herr von Boetticher scheint (neben vie­len ande­ren) nicht in der Lage, die tech­ni­sche Entwicklung der letz­ten 12 Jahre zu beur­tei­len. Deshalb fehlt auch der Weitblick. Was wir heu­te als legi­tim akzep­tie­ren, wird mor­gen mit noch viel aus­ge­feil­te­ren Methoden durch­ge­führt wer­den. Was heu­te ent­schie­den wird, ist die Basis für die Überwachung von mor­gen mit für die meis­ten Menschen unvor­stell­ba­ren Mitteln. Eigentlich ist in die­sem Zusammenhang mor­gen schon ges­tern.

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