Von Stuttgart nach Fehmarn sind es manchmal weit weniger als die 888 Kilometer, die mir mein Navigationsgerät anzeigt. Die Politik in Schleswig-Holstein täte gut daran, in diesen Tagen genau nach Stuttgart zu schauen. Wir können dort etwas lernen. Nicht, ob es richtig oder falsch ist, einen Kopfbahnhof zum Tunnelbahnhof umzubauen und ihn mitsamt des Schienennetzes unter die Erde zu verlegen. Denn in solchen Fragen gibt es kein „richtig” oder „falsch”. So einfach ist die Welt nicht. So einfach kann man sich die Welt auch nicht machen.
Nein, wir können aber lernen, wie man Demokratie gestalten sollte, damit ihre Prozesse dazu taugen, die Menschen mitzunehmen, damit möglichst vielen Menschen die Teilhabe an unserer Gesellschaft (wieder) zur Selbstverständlichkeit wird.
Wir sehen Erosion an allen Orten: Wahlbeteiligungen sinken noch schneller als die Auflage der Printmedien. Politik — und besonders: Politiker — werden pauschal abgekanzelt und werden in der Skala der unbeliebten Berufe nur noch von Versicherungsvertretern getoppt. Die Mitgliederzahlen der Parteien schrumpfen tendentiell. Gewerkschaften und anderen „klassischen” Organisationen geht es nicht anders. Das Einzige was steigt, scheint ein Gefühl des „abgekoppelt seins” vieler zu sein: „Die da oben”, „Was ich dazu meine, hört eh keiner”. Dass Gefühl der Ohnmacht steigt. Und damit sinkt auch immer das Gefühl der Bindung an den Staat, an die Entscheidung seiner Repräsentanten.
Das mag viele Gründe haben: Unsere Gesellschaft differenziert sich aus. „Rechts” und „Links” haben als einfache Schema ausgedient. Milieus werden heterogener. Und vieles andere mehr.
Wichtig ist: Die Antwort darauf wird nicht einfach sein, sie kann nicht: „Weiter so” oder „zurück” heißen. Denn solche Antworten werden den Graben immer großer werden lassen, in dessen Schatten Dinge heranwachsen, die nichts mehr mit Freiheit zu tun haben werden. Die Frage, ob der martialische Polizeieinsatz im Stuttgarter Schlossgarten rechtens war oder ob Bürgerinnen und Bürger nicht nur körperlich sondern auch in ihren Rechten durch die Gewalt der Polizei verletzt wurden, kann man vor Gericht klären. Verlorenes Vertrauen in den Staat gewinnt man so aber nicht wieder zurück.
Demokratie ist mehr, als vor Gericht Recht zu bekommen oder dem Zweifelnden herablassend ins Gesicht zu sagen, dass Verfahren sei korrekt nach Vorschrift durchgeführt wurden.
Großprojekte wie Bahnhöfe, Flughäfen, Straßen, Autobahnen, Brücken oder Tunnels werden immer Befürworter und Gegner haben. Politik hat die Aufgabe, die Freiheit der Bürger im Auge zu behalten. Sie will nachhaltig über den Tag hinaus denken. Und sie stets beachten, dass unsere Gesellschaft, unser System nur solange funktionieren kann, wie wir eine möglichst breite Akzeptanz für die zu fällende Entscheidung finden. Politik ist nicht die Macht, sie legitimiert durch gewonnene Akzeptanz die Macht.
Und dazu reicht der bisherige Werkzeugkasten der repräsentativen Demokratie nicht mehr aus. Wir brauchen mehr Einbindungen, andere Teilhabe an Entscheidungsprozessen, andere Formen der Entscheidungsfindungen. Felix Neumann hat das in einem klugen Blogbeitrag ausführlich beschrieben. Dabei ist mir wichtig, dass es nicht um Stuttgart geht, das Dilemma ist übertragbar. So können wir in der Sarrazin-Debatte und anlässlich der ekelhaften, zutiefst verwerflichen und antidemokratischen Kampagne, wie sie anschließend in der BILD-Zeitung zelebriert wurden, auf einer anderern Abstraktionsebene feststellen, dass vielen von dem, was Politik an Lernprozessen schon längst bewältigt hat, in der (ver)öffentlichten Meinung längst noch nicht wahrgenommen wird. Dass außerhalb des Raumschiffes der praktizierten Hauptstadtpolitik ein ganz andere Wahrnehmung der Dinge vorherrscht. Das macht auch deutlich, dass wir nicht nur, wie Felix Neumann zum Schluss zutreffend fordert, Mechanismen brauchen,” wie gesellschaftliche Debatten in politische Entscheidungen übersetzt werden, mit spürbaren Rückkopplungen.” Sondern natürlich auch, dass politische Entscheidungen in gesellschaftliche Debatten eingebunden sein, dass die Vertreter der politischen Gremien diese Debatten forcieren muss. Nicht theoretiosch. Sondern (auch) vor Ort. Überall. Nicht nur „reden, reden reden”, nicht nur zuhören, sondern auch: hingehen — und im Gespräch bleiben.
In Schleswig-Holstein steht uns mit der Fehmarnbeltquerung ein vergleichbar großes Projekt bevor. Manches mag für die Verbindung sprechen, manches dagegen. Zustimmung und Ablehnung geht quer durch die in Auflösung begriffenen Milieus. Wie in Stuttgart wird es kein einfaches richtig oder falsch geben, wenn wir über das Projekt reden. Aber alles falsch werden die machen, die dann sagen: „Das muss sein”, „Beschlossen ist beschlossen” oder „das darf nicht sein”, „dafür haben wir kein Geld” und dann einem Punkt machen. Mutiger wird es sein, sich zum Streit, zum Diskurs zu bekennen.
Pingback: Sammelmappe » Blog Archive » Remember, remember, the 30th of September
Pingback: The Revolution will not be televised… | Rot steht uns gut