Einheitlicher Mehrwertsteuersatz – gerecht oder ungerecht?

Von | 13. Dezember 2010

Vor weni­gen Tagen war von Finanzminister Wiegard die Forderung nach einem ein­heit­li­chen Mehrwertsteuersatz zu lesen. Langfristig sol­le der ermä­ßig­te Steuersatz kom­plett ent­fal­len. Auch FDP-Fraktionschef Kubicki hat jüngst im Zusammenhang mit sei­ner Fundamentalkritik am Zustand sei­ner Partei eine Reform der Mehrwertsteuersätze gefor­dert. Demnach will Schleswig-Holstein in spä­tes­tens zwei Monaten eine Gesetzesinitiative für einen ein­heit­li­chen Mehrwertsteuersatz in den Bundesrat ein­brin­gen.

In der Tat gibt es Reformbedarf. Es ist, um ein paar Beispiele für die zahl­rei­chen Ungereimtheiten zu nen­nen, schwer ver­ständ­lich, war­um auf Babywindeln 19 Prozent abzu­füh­ren sind, auf Tiernahrung oder auf Blumen jedoch nur 7 Prozent. Für Garnelen sind es eben­falls 7 Prozent, wäh­rend auf Langusten vol­le 19 Prozent erho­ben wer­den. Wird Fast Food zum Mitnehmen ver­kauft gilt der ermä­ßig­te Steuersatz, im Lokal ver­zehrt jedoch nicht. Und so kann die Liste mun­ter fort­ge­setzt wer­den. Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft hat hier­aus gar ein „Steuerkasino“ für Facebook-Nutzer gebas­telt, um auf die Absurditäten der gegen­wär­ti­gen Unterschiede auf­merk­sam zu machen.
Dieser spie­le­ri­sche Aufwand wird nicht ohne Grund betrie­ben. Es geht (wie beim Glücksspiel) auch hier um viel Geld, um Steueraufkommen, das aus der — ziem­lich neo­li­be­ra­len — Perspektive der Initiative durch einen gene­rell ermä­ßig­ten Steuersatz unter Wegfall der Ermäßigungen in den Händen der Bürger blei­ben soll.

Diskutiert wird die­ses Thema schon seit gerau­mer Zeit, auch der Berliner Koalitionsvertrag sieht „Handlungsbedarf bei den ermä­ßig­ten Mehrwertsteuersätzen“. Bislang jedoch ohne Ergebnis. Für den Bundesfinanzminister und die Bundesregierung birgt die­ses Thema erheb­li­chen Zündstoff: Immerhin sind hier­von neben Lebensmitteln auch ande­re Artikel des täg­li­chen Bedarfs betrof­fen, deren Preise sehr sen­si­bel beob­ach­tet wer­den. Ein durch­gän­gi­ger Preisanstieg wür­de in der öffent­li­chen Wahrnehmung — vor allem — die weni­ger betuch­te Bevölkerung tref­fen. Die Gefahr, dass Veränderungen des Steuersatzes als sozi­al unaus­ge­wo­gen gebrand­markt wer­den, ist groß, die Folgen für die nächs­ten Wahlen sind unab­seh­bar. Wohl nicht zuletzt des­halb haben die Koalitionsspitzen in Berlin jüngst Erhöhungen für Lebensmittel aus­ge­schlos­sen. Aber auch ande­re Probleme hän­gen an die­sem Thema: Wie soll sich das Steueraufkommen in Anbetracht der hohen Staatsverschuldung ins­ge­samt ver­än­dern? Und wie kann ver­mie­den wer­den, dass die Veränderung öffent­lich als pure Steuererhöhung bewer­tet wird? Nicht zu ver­ges­sen die kul­tu­rel­le Dimension: Der ermä­ßig­te Steuersatz auf Bücher zählt zu den Essentials des Leselands Deutschland, an ihm hängt – so der Tenor der Lobbygruppen — die Existenz der klei­nen Buchhandlungen und auch der Verlage (die sich ohne­hin von der Urheberrechtsdebatte bedroht füh­len). Insgesamt bil­det die ermä­ßig­te Steuer auf Kulturleistungen eine erheb­li­che Subvention. Deshalb freut sich der Deutsche Kulturrat als Spitzenverband der Kulturverbände dar­über, dass die Regierungskoalition auch den ermä­ßig­ten Steuersatz für Kulturgüter erhal­ten will.

Die Mehrwertsteuer ist die wichtigste Einnahmequelle des Staates

Bislang gibt es neben dem Regelsteuersatz von 19 Prozent den ermä­ßig­ten Steuersatz von 7 Prozent, der ins­be­son­de­re für Güter des lebens­not­wen­di­gen Bedarfs (75 Prozent der Ermäßigung ent­fällt auf Lebensmittel) gilt, aber auch aus kul­tur-, agrar- und ver­kehrs­po­li­ti­schen Gründen etwa für den ÖPNV, Leistungen der Landwirtschaft, Zahntechnik und gemein­nüt­zi­ge Einrichtungen ange­wandt wird. Einen auf sie­ben Prozent gesenk­ten Steuersatz gibt es seit Anfang des Jahres für Hotelübernachtungen. Eine voll­stän­di­ge Steuerbefreiung gibt seit Einführung der Mehrwertsteuer vor rund 40 Jahren für ärzt­li­che Leistungen (Verzicht auf rund 4 Milliarden Euro/​Jahr), Kontoführungsgebühren, Börsenumsätze und Mieten. Für land- und forst­wirt­schaft­li­che Betriebe gibt es beson­de­re Durchschnittssätze von 5,5 oder 10,7 Prozent für bestimm­te Erzeugnisse oder Umsätze.

Im Jahr 2009 betrug das Steueraufkommen knapp 177 Milliarden Euro. Damit bil­det die Mehrwertsteuer die größ­te Einnahmequelle des Staates gefolgt von der Lohn- und Einkommensteuer mit 173,5 Milliarden Euro und der Energiesteuer mit knapp 40 Milliarden Euro. Die Körperschaftssteuer erbringt dem­ge­gen­über nur 7,1 Milliarden, dies ist noch weni­ger als die Kfz-Steuer (8,2 Milliarden Euro).

Der Anteil des ermä­ßig­ten Steuersatzes an den Einnahmen aus der Mehrwertsteuer beträgt 24 Milliarden Euro/​Jahr. Es ist klar, dass Veränderungen der Umsatzbesteuerung erheb­li­che Folgen für Steuerzahler, wie auch für den Staatshaushalt haben. Beispielsweise könn­te eine dras­ti­sche Reduzierung der Ermäßigungsgründe rasch zu Mehreinnahmen von über 20 Milliarden Euro füh­ren, eben­so wie eine Senkung des Regelsteuersatzes zu erheb­li­chen Einnahmeverlusten des Staates füh­ren könn­te.

Folgen einer Abschaffung des ermäßigten Steuersatzes

Welche Folgen hät­te eine Aufhebung des ermä­ßig­ten Steuersatzes? Welche Gruppen wären stär­ker oder weni­ger stark betrof­fen? Auskunft hier­über gibt eine Untersuchung in der Zeitschrift „Wirtschaftsdienst“ (11/​2010, „Sollte der ermä­ßig­te Mehrwertsteuersatz abge­schafft wer­den?“), in der die Wirtschaftswissenschaftler Wolfgang Eggert, Tim Krieger und Sven Stöwhase ver­schie­de­nen öko­no­mi­schen Aspekten die­ser Frage nach­ge­hen.
Leider liegt der Aufsatz nicht als öffent­lich zugäng­li­ches Dokument vor, wes­halb ich hier eini­ge Ergebnisse refe­rie­re. Wichtigster Punkt: Zwar wür­de eine Aufhebung der Ermäßigung die ärme­ren Bevölkerungsgruppen rela­tiv am stärks­ten tref­fen, die abso­lu­te Belastung wäre jedoch bei den „Besserverdienenden“ höher. Wie das?

Zunächst ein­mal wür­den Haushalte mit gerin­ge­rem Einkommen steu­er­lich rela­tiv stär­ker belas­tet, da sie einen deut­lich höhe­ren Anteil ihres Einkommens für den ermä­ßigt besteu­er­ten täg­li­chen Bedarf ver­wen­den. Arme geben antei­lig mehr ihres Einkommens für Nahrungsmittel aus als Reiche, die hier­für zwar ande­rer­seits abso­lut mehr, im Verhältnis zu ihrem Einkommen aber weni­ger aus­ge­ben. Die Armen wür­den also rela­tiv stär­ker belas­tet, die Reichen gewin­nen hin­ge­gen abso­lut. Beispiel: Wenn das Einkommen 1.000 Euro/​Monat beträgt (Haushalt I) und 500 Euro für Artikel mit ermä­ßig­tem Steuersatz aus­ge­ge­ben wer­den, so beträgt die steu­er­li­che Entlastung durch den auf 7 Prozent ermä­ßig­ten Steuersatz etwa 55 Euro, die bei vol­lem Steuersatz monat­lich mehr bezahlt wer­den müss­ten (Preisgestaltung des Handels außen vor gelas­sen). Bei einem Einkommen von 3500 Euro (Haushalt II) und einem Konsum von Gütern mit ermä­ßig­tem Steuersatz von 800 Euro beträgt die Entlastung hin­ge­gen 75 Euro/​Monat. In die­ser Beispielrechnung sind dies pro Jahr 660 Euro abso­lu­te und 5,5 Prozent rela­ti­ve Entlastung für ein­kom­mens­schwa­che und 905 Euro abso­lu­te bzw. 2,2 Prozent rela­ti­ve Entlastung für ein­kom­mens­stär­ke­re Haushalte durch den ermä­ßig­ten Steuersatz.

Damit wird deut­lich: Ein Wegfall des ermä­ßig­ten Steuersatzes wür­de die Einkommensschwachen zwar abso­lut här­ter tref­fen, die Einkommensstärkeren wür­den jedoch ins­ge­samt steu­er­lich stär­ker belas­tet. In dem Wirtschaftsdienst-Artikel wird des­halb fest­ge­stellt, dass die Ermäßigung letzt­lich kei­ne ziel­grup­pen­spe­zi­fi­sche sozi­al­po­li­ti­sche Maßnahme dar­stellt (vgl. S. 746f). Sehr viel wir­kungs­vol­ler sei­en geziel­te Unterstützungen wie Transferzahlungen oder eine pro­gres­si­ve Einkommensteuer. Dabei wür­de die höhe­re Belastung höhe­rer Einkommen infol­ge eines Wegfalls der Ermäßigung finanz­po­li­ti­sche Spielräume für ziel­ge­rich­te­te Entlastungen bzw. Transferzahlungen eröff­nen, etwa für die beson­ders betrof­fe­ne Gruppe der Alleinerziehenden.

Einheitlicher Mehrwertsteuersatz für alles?

Ein ande­res Bild zeigt sich jedoch, wenn der ermä­ßig­te Steuersatz abge­schafft und auf­kom­mens­neu­tral ein ein­heit­li­cher Steuersatz zugrun­de gelegt wird, wie etwa von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft gefor­dert. Bei einem ein­heit­li­chen Steuersatz von z.B. 15 Prozent auf alle Güter und Leistungen wür­de sich eine steu­er­li­che Gesamtbelastung der Haushalte I (Beispiel) durch die Mehrwertsteuer von 1.252 Euro/​Jahr gegen­über bis­lang 968 Euro erge­ben, mit­hin eine Zusatzbelastung von 284 Euro pro Jahr. Bei den Haushalten II wür­de sich hin­ge­gen eine jähr­li­che Gesamtbelastung von 4.380 Euro erge­ben gegen­über bis­lang 4.460, mit­hin eine Entlastung von 80 Euro. Die Einkommensschwachen wür­den also – ohne beglei­ten­de Transfermaßnahmen, für die bei einer auf­kom­mens­neu­tra­len Umstellung kei­ne Mittel vor­han­den wären — unterm Strich mehr, die Einkommensstarken weni­ger Steuern zah­len.

Fazit

Die Abschaffung des ermä­ßig­ten Mehrwertsteuersatzes belas­tet kei­nes­wegs beson­ders die ein­kom­mens­schwä­che­ren Gruppen, viel­mehr wür­den die bes­ser Verdienenden tat­säch­lich abso­lut stär­ker belas­tet. Da die rela­ti­ve Belastung der gering Verdienenden, bei denen sich jeder feh­len­de Euro unmit­tel­bar bemerk­bar macht, jedoch deut­lich höher wäre, wären beglei­ten­de ziel­grup­pen­spe­zi­fi­schen Unterstützungsmaßnahmen erfor­der­lich, um eine Senkung des Lebensstandards zu ver­mei­den. Eine Abschaffung des ermä­ßig­ten Steuersatzes mit gleich­zei­ti­ger Senkung des Steuersatzes wür­de dem­ge­gen­über die Geringverdiener deut­lich stär­ker belas­ten und die bes­ser Verdienenden ent­las­ten.

Die jet­zi­gen Planungen der Regierungskoalition in Berlin umschif­fen die­se Fragen, indem die poli­tisch sen­si­ble Nahrungsmittelbesteuerung und die Kultursubventionierung aus­ge­klam­mert wer­den. Da es schwer vor­stell­bar ist, dass aus­ge­rech­net land­wirt­schaft­li­che Leistungen künf­tig mit dem vol­len Steuersatz belas­tet wer­den, läuft es auf eine Mini-Reform hin­aus. Zweifellos ist es zutref­fend, wenn Finanzminister Wiegard auf den Unsinn einer zusätz­li­chen Kaffeesteuer bei gleich­zei­tig ermä­ßig­tem Mehrwertsteuersatz hin­weist. Solche „Peanuts“ sind aller­dings unterm Strich nicht mehr als eine Bereinigung unsin­ni­ger Vorschriften. Substantielle Veränderungen sind dies nicht. Vielleicht ist das ja ganz gut so …

5 Gedanken zu “Einheitlicher Mehrwertsteuersatz – gerecht oder ungerecht?”:

  1. Philipp Neuenfeldt

    Unlängst nahm sich die FAZ die­ses Themas an, nicht ohne ihrer­seits eine Studie (pdf, 2.86 MB, 460 S.) zu bemü­hen, nach der die meis­ten Ermäßigungen einer „trag­fä­hi­gen Begründung” ent­beh­ren. Nur zu dumm, dass die Forscherinnen und Forscher der Saarbrückener Untersuchung zu die­sem Ergebnis im Auftrag von Finanzminister Schäuble gekom­men sind. Die Studie schlicht­weg nicht zu beach­ten, dürf­te also schwie­rig wer­den.

    Die (oben anschau­lich beschrie­be­ne) sozi­al aus­glei­chen­de Wirkung der Ermäßigung auf Nahrungsmittel ist unstrit­tig, will man sich nicht grund­sätz­lich jed­we­der Abweichung vom Steuersatz ver­weh­ren. Dass es bei die­sem Projekt aber um mehr geht als um das sprich­wört­li­che „täg­lich Brot” und den Wochenmarkteinkauf ver­wit­we­ter Altersrentnerinnen in 1-Zimmer-Wohnungen, wird spä­tes­tens klar, wenn sich Bilderstrecken in den Onlineausgaben der Zeitungen ein­stel­len, die die unüber­schau­ba­ren und kei­ner — zumin­dest kei­ner um sozia­len Ausgleich bemüh­ten — Logik mehr fol­gen­den Ausnahmeregelungen und Ermäßigungen mit lau­ni­gen Unterschriften illus­trie­ren.

    Hier hat­te die Koalition die Möglichkeit, zu zei­gen, dass es ihr um nach­voll­zieh­ba­re und das heißt bür­ger­na­he Politik geht. Wenn es einen Anfang zu machen gel­te, zu zei­gen, in Berlin den diver­sen Begehren offe­ner und sub­ti­ler Lobbyeinflüsse stand­hal­ten zu kön­nen, wel­che Reform böte sich eher an als die der Mehrwertsteuer. Die des Gesundheitswesens? Der Länderfinanzen?
    Stets die Ausnahme der Lebensmittel mit­ge­dacht — Wer sieht sich denn noch als Gewinner der zahl­rei­chen Abweichungen von 19 auf 7%? Die (der­zei­ti­ge) Ersparnis bei Trüffeln und Kunstgütern wird ver­gleichs­wei­se schnell zu ver­schmer­zen sein. Und bei unte­ren Einkommen wird sich abso­lut ohne­hin wenig und rela­tiv bei Beibehaltung der Ermäßigung auf Nahrungsmittel eben­so­we­nig ver­än­dern.

    Eine Politik, die „Zusammenhalt” ihrem Koalitionsvertrag gleich­sam als Motto vor­an­stellt, soll­te den durch sie bestell­ten Sachverständigen Gehör schen­ken und sich auf eine ein­fa­che haus­häl­te­ri­sche Regel besin­nen: Je kla­rer ist, wie (und wofür) die Beiträge aller erho­ben wer­den, umso grö­ßer ist die Zahlungsbereitschaft.

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  2. Hans-Dirk Kämpfer

    Ich plä­die­re auf jeden Fall für den ein­heit­li­chen Steuersatz von 19%. Der sozia­le Ausgleich soll­te durch Erhöhung von Kindergeld, Hartz4-Satz, Einkommensteuerfreibetrag und/​oder nega­ti­ve Einkommensteuer für Geringverdiener pro­blem­los mög­lich sein. Und das Geld dafür wäre durch die Reform sofort vor­han­den. Alles ande­re lässt die Tür für Steuerabsurditäten auch zukünf­tig weit offen.

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