Vor wenigen Tagen war von Finanzminister Wiegard die Forderung nach einem einheitlichen Mehrwertsteuersatz zu lesen. Langfristig solle der ermäßigte Steuersatz komplett entfallen. Auch FDP-Fraktionschef Kubicki hat jüngst im Zusammenhang mit seiner Fundamentalkritik am Zustand seiner Partei eine Reform der Mehrwertsteuersätze gefordert. Demnach will Schleswig-Holstein in spätestens zwei Monaten eine Gesetzesinitiative für einen einheitlichen Mehrwertsteuersatz in den Bundesrat einbringen.
In der Tat gibt es Reformbedarf. Es ist, um ein paar Beispiele für die zahlreichen Ungereimtheiten zu nennen, schwer verständlich, warum auf Babywindeln 19 Prozent abzuführen sind, auf Tiernahrung oder auf Blumen jedoch nur 7 Prozent. Für Garnelen sind es ebenfalls 7 Prozent, während auf Langusten volle 19 Prozent erhoben werden. Wird Fast Food zum Mitnehmen verkauft gilt der ermäßigte Steuersatz, im Lokal verzehrt jedoch nicht. Und so kann die Liste munter fortgesetzt werden. Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft hat hieraus gar ein „Steuerkasino“ für Facebook-Nutzer gebastelt, um auf die Absurditäten der gegenwärtigen Unterschiede aufmerksam zu machen.
Dieser spielerische Aufwand wird nicht ohne Grund betrieben. Es geht (wie beim Glücksspiel) auch hier um viel Geld, um Steueraufkommen, das aus der — ziemlich neoliberalen — Perspektive der Initiative durch einen generell ermäßigten Steuersatz unter Wegfall der Ermäßigungen in den Händen der Bürger bleiben soll.
Diskutiert wird dieses Thema schon seit geraumer Zeit, auch der Berliner Koalitionsvertrag sieht „Handlungsbedarf bei den ermäßigten Mehrwertsteuersätzen“. Bislang jedoch ohne Ergebnis. Für den Bundesfinanzminister und die Bundesregierung birgt dieses Thema erheblichen Zündstoff: Immerhin sind hiervon neben Lebensmitteln auch andere Artikel des täglichen Bedarfs betroffen, deren Preise sehr sensibel beobachtet werden. Ein durchgängiger Preisanstieg würde in der öffentlichen Wahrnehmung — vor allem — die weniger betuchte Bevölkerung treffen. Die Gefahr, dass Veränderungen des Steuersatzes als sozial unausgewogen gebrandmarkt werden, ist groß, die Folgen für die nächsten Wahlen sind unabsehbar. Wohl nicht zuletzt deshalb haben die Koalitionsspitzen in Berlin jüngst Erhöhungen für Lebensmittel ausgeschlossen. Aber auch andere Probleme hängen an diesem Thema: Wie soll sich das Steueraufkommen in Anbetracht der hohen Staatsverschuldung insgesamt verändern? Und wie kann vermieden werden, dass die Veränderung öffentlich als pure Steuererhöhung bewertet wird? Nicht zu vergessen die kulturelle Dimension: Der ermäßigte Steuersatz auf Bücher zählt zu den Essentials des Leselands Deutschland, an ihm hängt – so der Tenor der Lobbygruppen — die Existenz der kleinen Buchhandlungen und auch der Verlage (die sich ohnehin von der Urheberrechtsdebatte bedroht fühlen). Insgesamt bildet die ermäßigte Steuer auf Kulturleistungen eine erhebliche Subvention. Deshalb freut sich der Deutsche Kulturrat als Spitzenverband der Kulturverbände darüber, dass die Regierungskoalition auch den ermäßigten Steuersatz für Kulturgüter erhalten will.
Die Mehrwertsteuer ist die wichtigste Einnahmequelle des Staates
Bislang gibt es neben dem Regelsteuersatz von 19 Prozent den ermäßigten Steuersatz von 7 Prozent, der insbesondere für Güter des lebensnotwendigen Bedarfs (75 Prozent der Ermäßigung entfällt auf Lebensmittel) gilt, aber auch aus kultur-, agrar- und verkehrspolitischen Gründen etwa für den ÖPNV, Leistungen der Landwirtschaft, Zahntechnik und gemeinnützige Einrichtungen angewandt wird. Einen auf sieben Prozent gesenkten Steuersatz gibt es seit Anfang des Jahres für Hotelübernachtungen. Eine vollständige Steuerbefreiung gibt seit Einführung der Mehrwertsteuer vor rund 40 Jahren für ärztliche Leistungen (Verzicht auf rund 4 Milliarden Euro/Jahr), Kontoführungsgebühren, Börsenumsätze und Mieten. Für land- und forstwirtschaftliche Betriebe gibt es besondere Durchschnittssätze von 5,5 oder 10,7 Prozent für bestimmte Erzeugnisse oder Umsätze.
Im Jahr 2009 betrug das Steueraufkommen knapp 177 Milliarden Euro. Damit bildet die Mehrwertsteuer die größte Einnahmequelle des Staates gefolgt von der Lohn- und Einkommensteuer mit 173,5 Milliarden Euro und der Energiesteuer mit knapp 40 Milliarden Euro. Die Körperschaftssteuer erbringt demgegenüber nur 7,1 Milliarden, dies ist noch weniger als die Kfz-Steuer (8,2 Milliarden Euro).
Der Anteil des ermäßigten Steuersatzes an den Einnahmen aus der Mehrwertsteuer beträgt 24 Milliarden Euro/Jahr. Es ist klar, dass Veränderungen der Umsatzbesteuerung erhebliche Folgen für Steuerzahler, wie auch für den Staatshaushalt haben. Beispielsweise könnte eine drastische Reduzierung der Ermäßigungsgründe rasch zu Mehreinnahmen von über 20 Milliarden Euro führen, ebenso wie eine Senkung des Regelsteuersatzes zu erheblichen Einnahmeverlusten des Staates führen könnte.
Folgen einer Abschaffung des ermäßigten Steuersatzes
Welche Folgen hätte eine Aufhebung des ermäßigten Steuersatzes? Welche Gruppen wären stärker oder weniger stark betroffen? Auskunft hierüber gibt eine Untersuchung in der Zeitschrift „Wirtschaftsdienst“ (11/2010, „Sollte der ermäßigte Mehrwertsteuersatz abgeschafft werden?“), in der die Wirtschaftswissenschaftler Wolfgang Eggert, Tim Krieger und Sven Stöwhase verschiedenen ökonomischen Aspekten dieser Frage nachgehen.
Leider liegt der Aufsatz nicht als öffentlich zugängliches Dokument vor, weshalb ich hier einige Ergebnisse referiere. Wichtigster Punkt: Zwar würde eine Aufhebung der Ermäßigung die ärmeren Bevölkerungsgruppen relativ am stärksten treffen, die absolute Belastung wäre jedoch bei den „Besserverdienenden“ höher. Wie das?
Zunächst einmal würden Haushalte mit geringerem Einkommen steuerlich relativ stärker belastet, da sie einen deutlich höheren Anteil ihres Einkommens für den ermäßigt besteuerten täglichen Bedarf verwenden. Arme geben anteilig mehr ihres Einkommens für Nahrungsmittel aus als Reiche, die hierfür zwar andererseits absolut mehr, im Verhältnis zu ihrem Einkommen aber weniger ausgeben. Die Armen würden also relativ stärker belastet, die Reichen gewinnen hingegen absolut. Beispiel: Wenn das Einkommen 1.000 Euro/Monat beträgt (Haushalt I) und 500 Euro für Artikel mit ermäßigtem Steuersatz ausgegeben werden, so beträgt die steuerliche Entlastung durch den auf 7 Prozent ermäßigten Steuersatz etwa 55 Euro, die bei vollem Steuersatz monatlich mehr bezahlt werden müssten (Preisgestaltung des Handels außen vor gelassen). Bei einem Einkommen von 3500 Euro (Haushalt II) und einem Konsum von Gütern mit ermäßigtem Steuersatz von 800 Euro beträgt die Entlastung hingegen 75 Euro/Monat. In dieser Beispielrechnung sind dies pro Jahr 660 Euro absolute und 5,5 Prozent relative Entlastung für einkommensschwache und 905 Euro absolute bzw. 2,2 Prozent relative Entlastung für einkommensstärkere Haushalte durch den ermäßigten Steuersatz.
Damit wird deutlich: Ein Wegfall des ermäßigten Steuersatzes würde die Einkommensschwachen zwar absolut härter treffen, die Einkommensstärkeren würden jedoch insgesamt steuerlich stärker belastet. In dem Wirtschaftsdienst-Artikel wird deshalb festgestellt, dass die Ermäßigung letztlich keine zielgruppenspezifische sozialpolitische Maßnahme darstellt (vgl. S. 746f). Sehr viel wirkungsvoller seien gezielte Unterstützungen wie Transferzahlungen oder eine progressive Einkommensteuer. Dabei würde die höhere Belastung höherer Einkommen infolge eines Wegfalls der Ermäßigung finanzpolitische Spielräume für zielgerichtete Entlastungen bzw. Transferzahlungen eröffnen, etwa für die besonders betroffene Gruppe der Alleinerziehenden.
Einheitlicher Mehrwertsteuersatz für alles?
Ein anderes Bild zeigt sich jedoch, wenn der ermäßigte Steuersatz abgeschafft und aufkommensneutral ein einheitlicher Steuersatz zugrunde gelegt wird, wie etwa von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft gefordert. Bei einem einheitlichen Steuersatz von z.B. 15 Prozent auf alle Güter und Leistungen würde sich eine steuerliche Gesamtbelastung der Haushalte I (Beispiel) durch die Mehrwertsteuer von 1.252 Euro/Jahr gegenüber bislang 968 Euro ergeben, mithin eine Zusatzbelastung von 284 Euro pro Jahr. Bei den Haushalten II würde sich hingegen eine jährliche Gesamtbelastung von 4.380 Euro ergeben gegenüber bislang 4.460, mithin eine Entlastung von 80 Euro. Die Einkommensschwachen würden also – ohne begleitende Transfermaßnahmen, für die bei einer aufkommensneutralen Umstellung keine Mittel vorhanden wären — unterm Strich mehr, die Einkommensstarken weniger Steuern zahlen.
Fazit
Die Abschaffung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes belastet keineswegs besonders die einkommensschwächeren Gruppen, vielmehr würden die besser Verdienenden tatsächlich absolut stärker belastet. Da die relative Belastung der gering Verdienenden, bei denen sich jeder fehlende Euro unmittelbar bemerkbar macht, jedoch deutlich höher wäre, wären begleitende zielgruppenspezifischen Unterstützungsmaßnahmen erforderlich, um eine Senkung des Lebensstandards zu vermeiden. Eine Abschaffung des ermäßigten Steuersatzes mit gleichzeitiger Senkung des Steuersatzes würde demgegenüber die Geringverdiener deutlich stärker belasten und die besser Verdienenden entlasten.
Die jetzigen Planungen der Regierungskoalition in Berlin umschiffen diese Fragen, indem die politisch sensible Nahrungsmittelbesteuerung und die Kultursubventionierung ausgeklammert werden. Da es schwer vorstellbar ist, dass ausgerechnet landwirtschaftliche Leistungen künftig mit dem vollen Steuersatz belastet werden, läuft es auf eine Mini-Reform hinaus. Zweifellos ist es zutreffend, wenn Finanzminister Wiegard auf den Unsinn einer zusätzlichen Kaffeesteuer bei gleichzeitig ermäßigtem Mehrwertsteuersatz hinweist. Solche „Peanuts“ sind allerdings unterm Strich nicht mehr als eine Bereinigung unsinniger Vorschriften. Substantielle Veränderungen sind dies nicht. Vielleicht ist das ja ganz gut so …
Unlängst nahm sich die FAZ dieses Themas an, nicht ohne ihrerseits eine Studie (pdf, 2.86 MB, 460 S.) zu bemühen, nach der die meisten Ermäßigungen einer „tragfähigen Begründung” entbehren. Nur zu dumm, dass die Forscherinnen und Forscher der Saarbrückener Untersuchung zu diesem Ergebnis im Auftrag von Finanzminister Schäuble gekommen sind. Die Studie schlichtweg nicht zu beachten, dürfte also schwierig werden.
Die (oben anschaulich beschriebene) sozial ausgleichende Wirkung der Ermäßigung auf Nahrungsmittel ist unstrittig, will man sich nicht grundsätzlich jedweder Abweichung vom Steuersatz verwehren. Dass es bei diesem Projekt aber um mehr geht als um das sprichwörtliche „täglich Brot” und den Wochenmarkteinkauf verwitweter Altersrentnerinnen in 1-Zimmer-Wohnungen, wird spätestens klar, wenn sich Bilderstrecken in den Onlineausgaben der Zeitungen einstellen, die die unüberschaubaren und keiner — zumindest keiner um sozialen Ausgleich bemühten — Logik mehr folgenden Ausnahmeregelungen und Ermäßigungen mit launigen Unterschriften illustrieren.
Hier hatte die Koalition die Möglichkeit, zu zeigen, dass es ihr um nachvollziehbare und das heißt bürgernahe Politik geht. Wenn es einen Anfang zu machen gelte, zu zeigen, in Berlin den diversen Begehren offener und subtiler Lobbyeinflüsse standhalten zu können, welche Reform böte sich eher an als die der Mehrwertsteuer. Die des Gesundheitswesens? Der Länderfinanzen?
Stets die Ausnahme der Lebensmittel mitgedacht — Wer sieht sich denn noch als Gewinner der zahlreichen Abweichungen von 19 auf 7%? Die (derzeitige) Ersparnis bei Trüffeln und Kunstgütern wird vergleichsweise schnell zu verschmerzen sein. Und bei unteren Einkommen wird sich absolut ohnehin wenig und relativ bei Beibehaltung der Ermäßigung auf Nahrungsmittel ebensowenig verändern.
Eine Politik, die „Zusammenhalt” ihrem Koalitionsvertrag gleichsam als Motto voranstellt, sollte den durch sie bestellten Sachverständigen Gehör schenken und sich auf eine einfache haushälterische Regel besinnen: Je klarer ist, wie (und wofür) die Beiträge aller erhoben werden, umso größer ist die Zahlungsbereitschaft.
Oha! Die berüchtigte Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft
Das denke ich bei „Studien” der Hans-Böckler-Stiftung auch immer…
Ich plädiere auf jeden Fall für den einheitlichen Steuersatz von 19%. Der soziale Ausgleich sollte durch Erhöhung von Kindergeld, Hartz4-Satz, Einkommensteuerfreibetrag und/oder negative Einkommensteuer für Geringverdiener problemlos möglich sein. Und das Geld dafür wäre durch die Reform sofort vorhanden. Alles andere lässt die Tür für Steuerabsurditäten auch zukünftig weit offen.
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