Es gibt Texte, die begleiten einen durch die Jahre. Und anstatt sie irgendwann wegzulegen und zu sagen „Das ist Geschichte”, muss man manche Argumente wieder und wieder wiederholen — und sich wie Sisyphos dabei glücklich wähnen.
Ich bin 1988 beruflich in die Staatskanzlei gewechselt, in das Büro des damaligen Ministerpräsidenten Björn Engholm. Das war eine spannende, lehrreiche Zeit. In vielerlei Hinsicht. Einer seiner guten Fähigkeiten war die Leidenschaft, stets Reden halten zu wollen, die nicht im Kleinklein der Parteipolitik oder Tagespolitik verharrten, sondern einen Gedanken aufgriffen, der über den Tag hinaus Gültigkeit behalten sollte. Manche dieser Reden waren echt gut. Sie gefallen mir noch heute.
So geht es mir mit seiner Antrittsrede als Bundesratspräsident, die er am 4. November 1988 in Bonn hielt. Wenn ich mich recht erinnere, hatte sie den an Hegel erinnernden Titel „Über die stetige Aufhebung von Grenzen“. Vor dem Hintergrund der fortschreitenden Integration Europas und unter Hinweis auf Norbert Elias beschrieb er die Integrationsprozesse auf der Ebene der Staatsgesellschaften und auf zwischenstaatlicher Ebene, die nach und nach zu stabiler werdenden Herrschaftsverbänden führten. Europas Grenzen, so dachte man damals, teils prophetisch, teils voreilig — 1988, Bonn, vor dem Mauerfall, vor dem Krieg in Jugoslawien — wären nicht mehr feindselig; wir seien auf gutem Wege, Grenzen, die uns noch trennen, zu beseitigen. Und im kleinräumigen, etwa im Lokalpatriotismus, sei die Grenze zwar noch da, aber längst liebenswert. Er erinnerte dann gleichwohl an Robert Musils Satz „Schließlich besteht das Ding nur durch seine Grenzen und damit durch einen gewissermaßen feindseligen Akt gegen seine Umgebung“ und rief dazu auf, unsere schlimmen Erfahrungen ins Positive zu wenden.
Dann macht Engholm aber einen fatalen Fehler: Er pries den bundesdeutschen Föderalismus als ein sehr brauchbares Modell für die Integration der (damals: zwölf) europäischen Staaten. Ich habe das damals geglaubt, heute nicht mehr. Denn das, was Engholm als Problem der Brüsseler Kompetenzzuwachses ausmachte — Verlust an Bürgernähe, demokratischer Beteiligung und demokratischer Kontrolle — als das schaffen wir in Schleswig-Holstein und in Hamburg auf kleinsten Raum noch viel besser. Jüngstes Beispiel ist die Kindergartenposse in Norderstedt, über die der NDR gestern und das Hamburger Abendblatt heute (wegen Zahlschranke bitte Google nach „Rückfall in die Kleinstaaterei“) berichten.
Man kann nicht so schlicht denken, wie manche Ministerien kleinkariert, bürgerfern und sinnbefreit entscheiden — und keine Scham haben, zu solchen Entscheidungen zu stehen. Das kleinste Pepita wird zur schier endlosen Ebene angesichts solcher Engstirnigkeit.
Nein. Verwaltungen sind dafür da, Lösungen für die Bürger und für das Land zu schaffen. Minister sind dafür da, nicht vermittelbare Entscheidungen frühzeitig zu bremsen. Wenn etwas aus formalrechtlichen Gründen nicht geht, dann sucht man gemeinsam mit den Bürgern, den Kommunen, den Institutionen, dem Nachbarland nach Lösungen, wie es doch geht. Grenzen sind zum überwinden da. Und nicht, um sie den Leuten vor Ort — die diese Grenze in keinerlei Hinsicht sinnstiftend wahrnehmen können — vor die Stirn zu klatschen.
Engholm fuhr damals fort und sagte: „Die Probleme, mit denen wir uns in der alltäglichen Politik konfrontiert sehen, sind nahezu ausnahmslos komplex, global, langfristig. Unser Problemlösungen — ich füge hinzu: unsere Problemlösungsfähigkeit — dagegen sind allzu oft unkomplex, provinziell und kurzatmig.“ Noch Fragen?
Die Lösung, so schloss Engholm, seien sechs Ansätze, die Politik alltäglich beachten solle:
- umfassende Bildung,
- ständiger Dialog,
- Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinweg,
- höchstmöglicher Sachverstand durch (wissenschaftliche) Beratung,
- öffentlichen Diskurs,
- Überprüfung schon getroffener Entscheidungen.
Ziemlich banal, nicht wirklich neu — aber anscheinend doch ziemlich schwer zu leben. Kann jemand mal die Rede ausdrucken und unseren Politikern an die Klotür (und zwar innen) kleben? Danke.
Ein super Artikel, danke!
Darf ich ihn auch ausdrucken? Das mit der Klotür lässt sich im Erfurter Landtag gut machen :-)