Über die stetige Aufhebung von Grenzen

Von | 14. Januar 2011

Es gibt Texte, die beglei­ten einen durch die Jahre. Und anstatt sie irgend­wann weg­zu­le­gen und zu sagen „Das ist Geschichte”, muss man man­che Argumente wie­der und wie­der wie­der­ho­len — und sich wie Sisyphos dabei glück­lich wäh­nen.

Ich bin 1988 beruf­lich in die Staatskanzlei gewech­selt, in das Büro des dama­li­gen Ministerpräsidenten Björn Engholm. Das war eine span­nen­de, lehr­rei­che Zeit. In vie­ler­lei Hinsicht. Einer sei­ner guten Fähigkeiten war die Leidenschaft, stets Reden hal­ten zu wol­len, die nicht im Kleinklein der Parteipolitik oder Tagespolitik ver­harr­ten, son­dern einen Gedanken auf­grif­fen, der über den Tag hin­aus Gültigkeit behal­ten soll­te. Manche die­ser Reden waren echt gut. Sie gefal­len mir noch heu­te.

So geht es mir mit sei­ner Antrittsrede als Bundesratspräsident, die er am 4. November 1988 in Bonn hielt. Wenn ich mich recht erin­ne­re, hat­te sie den an Hegel erin­nern­den Titel „Über die ste­ti­ge Aufhebung von Grenzen“. Vor dem Hintergrund der fort­schrei­ten­den Integration Europas und unter Hinweis auf Norbert Elias beschrieb er die Integrationsprozesse auf der Ebene der Staatsgesellschaften und auf zwi­schen­staat­li­cher Ebene, die nach und nach zu sta­bi­ler wer­den­den Herrschaftsverbänden führ­ten. Europas Grenzen, so dach­te man damals, teils pro­phe­tisch, teils vor­ei­lig — 1988, Bonn, vor dem Mauerfall, vor dem Krieg in Jugoslawien — wären nicht mehr feind­se­lig; wir sei­en auf gutem Wege, Grenzen, die uns noch tren­nen, zu besei­ti­gen. Und im klein­räu­mi­gen, etwa im Lokalpatriotismus, sei die Grenze zwar noch da, aber längst lie­bens­wert. Er erin­ner­te dann gleich­wohl an Robert Musils Satz „Schließlich besteht das Ding nur durch sei­ne Grenzen und damit durch einen gewis­ser­ma­ßen feind­se­li­gen Akt gegen sei­ne Umgebung“ und rief dazu auf, unse­re schlim­men Erfahrungen ins Positive zu wen­den.

Dann macht Engholm aber einen fata­len Fehler: Er pries den bun­des­deut­schen Föderalismus als ein sehr brauch­ba­res Modell für die Integration der (damals: zwölf) euro­päi­schen Staaten. Ich habe das damals geglaubt, heu­te nicht mehr. Denn das, was Engholm als Problem der Brüsseler Kompetenzzuwachses aus­mach­te — Verlust an Bürgernähe, demo­kra­ti­scher Beteiligung und demo­kra­ti­scher Kontrolle — als das schaf­fen wir in Schleswig-Holstein und in Hamburg auf kleins­ten Raum noch viel bes­ser. Jüngstes Beispiel ist die Kindergartenposse in Norderstedt, über die der NDR ges­tern und das Hamburger Abendblatt heu­te (wegen Zahlschranke bit­te Google nach „Rückfall in die Kleinstaaterei“) berich­ten.
Man kann nicht so schlicht den­ken, wie man­che Ministerien klein­ka­riert, bür­ger­fern und sinn­be­freit ent­schei­den — und kei­ne Scham haben, zu sol­chen Entscheidungen zu ste­hen. Das kleins­te Pepita wird zur schier end­lo­sen Ebene ange­sichts sol­cher Engstirnigkeit.

Nein. Verwaltungen sind dafür da, Lösungen für die Bürger und für das Land zu schaf­fen. Minister sind dafür da, nicht ver­mit­tel­ba­re Entscheidungen früh­zei­tig zu brem­sen. Wenn etwas aus for­mal­recht­li­chen Gründen nicht geht, dann sucht man gemein­sam mit den Bürgern, den Kommunen, den Institutionen, dem Nachbarland nach Lösungen, wie es doch geht. Grenzen sind zum über­win­den da. Und nicht, um sie den Leuten vor Ort — die die­se Grenze in kei­ner­lei Hinsicht sinn­stif­tend wahr­neh­men kön­nen — vor die Stirn zu klat­schen.

Engholm fuhr damals fort und sag­te: „Die Probleme, mit denen wir uns in der all­täg­li­chen Politik kon­fron­tiert sehen, sind nahe­zu aus­nahms­los kom­plex, glo­bal, lang­fris­tig. Unser Problemlösungen — ich füge hin­zu: unse­re Problemlösungsfähigkeit — dage­gen sind all­zu oft unkom­plex, pro­vin­zi­ell und kurz­at­mig.“ Noch Fragen?

Die Lösung, so schloss Engholm, sei­en sechs Ansätze, die Politik all­täg­lich beach­ten sol­le:

  • umfas­sen­de Bildung,
  • stän­di­ger Dialog,
  • Zusammenarbeit über Parteigrenzen hin­weg,
  • höchst­mög­li­cher Sachverstand durch (wis­sen­schaft­li­che) Beratung,
  • öffent­li­chen Diskurs,
  • Überprüfung schon getrof­fe­ner Entscheidungen.

Ziemlich banal, nicht wirk­lich neu — aber anschei­nend doch ziem­lich schwer zu leben. Kann jemand mal die Rede aus­dru­cken und unse­ren Politikern an die Klotür (und zwar innen) kle­ben? Danke.

Von:

Swen Wacker, 49, im Herzen Kieler, wohnt in Lüneburg, arbeitet in Hamburg.

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