Christoph Andreas Leicht, seit einem Jahr Präses der IHK Lübeck, kam am 18. Januar auf dem Neujahrempfang der IHK Lübeck schnell auf den Punkt: Es läuft gut. Die historisch höchste Beschäftigungsquote in Schleswig-Holstein; die geburtenstarken Jahrgänge zahlen in die Steuer- und Sozialsystem ein; die öffentliche Hand verfügt über die höchsten Einnahmen, die sie je hatte.
Aber der Staat: Überschuldet, konkursreife Bundesländer, überdehnte soziale Netze. Schlimmer noch: Für keine einzige Zukunftsfrage, so Leicht, läge ein „kluger, ein strategischer, ein ganzheitlicher und nachhaltiger Antwortvorschlag auf dem Tisch“. Dann zählt er sie auf: Der demographische Wandel und seine Auswirkungen auf das Gesundheitswesen, Rentenversicherung, die Erwirtschaftung unseres Lebenstandards und das Ehrenamt; die Sockel-Arbeitslosigkeit; die Bildungsfrage; die marode Infrastruktur; die Energiefrage; das föderale System mit seinem Bildungsseparatismus. Und schließlich die Parteiendemokratie, die seiner Meinung nach mehr auf innerparteiliche Durchsetzbarkeit und Partikularinteressen schiele als auf das große Ganze. Der Präses hat da sicher bestimmte Entscheidungen vor Augen. Andere denken an ermäßigte Steuern für Hotelbetriebe oder an ein Leistungsschutzrecht für Verleger.
Natürlich, es gibt Lösungsansätze für die von ihm beschriebenen drängenden Probleme. Erst letzte Woche hat der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Kieler Landtag, Robert Habeck, die Zuständigkeit der Länder in Bildungsfragen in Frage gestellt. Die Energiefrage war nachhaltig beantwortet, sie ist allerdings durch die Partikularinteressen der Atomkraftbetreiber wieder ein Stück weit geöffnet worden und verunsichert aktuell weite Teile der Bevölkerung. Aber es stimmt auch, dass wir uns seit Jahren um die Folgen, die mit dem demographischen Wandel kommen werden, herumlavieren. Er, der Wandel, betrifft eben nicht allein das Renteneintrittsalters. Er trifft gerade den ländlichen Räumen ins jetzt schon wunde Herz. Dem Volljuristen Leicht wird man nicht vorwerfen können, er betreibe einfältige Parteienschelte, denn er bleibt nicht bei oberflächlicher Kritik stehen, sondern bringt sich ein.
Um die Zukunft gestalten zu können, so sagt der geschäftsführende Gesellschafter eines Freizeitparks, braucht es in Unternehmen, in der Politik und in der Gesellschaft erst eine Zielvorstellung, wie es sein sollte und dann eine längerfristige Agenda — einen Zettel, auf dem wir schreiben, was zu tun ist. Nicht zum sklavischen Abarbeiten, sondern als Orientierung, immer mit der Möglichkeit der Feinkorrektur. Dass er damit auf eine Lücke hinweist, weil in der Landespolitik eine Vision 2030 nämlich längst noch nicht diskutiert wird, ist das eigentliche Dilemma. Der gebürtige Oberallgäuer hält sich nicht lange damit auf, das zu beklagen. Er stellt das fest und umreißt dann eine Vision eines Schleswig-Holsteins im Jahr 2030.
Das gab es seit Jahren nicht mehr. Unter Heide Simonis, Schleswig-Holstein litt unter den Björnout-Syndrom, wurden Denkfabriken und Zukunftskongresse wieder eingesammelt. Man war sich selbst genug, wollte lieber selbst denken. Schützend umgeben von hohen Rand des tiefen Suppentellers. Ein Alltag legte sich über das Land und nach den erlebten Affären war man sicher nicht unfroh, dies als ruhiges Fahrwasser zu begreifen — während anderswo die Welt weiterströmte. Bis diese Periode mit einem lauter Knall, der Schleswig-Holstein wieder untrefflich ins Rampenlicht der Republik brachte, endete.
Mit Peter Harry Carstensen, zunächst mit Ralf Stegner und dann mit Wolfgang Kubicki politisch verbandelt, steuerte das Land weiter am Rande des finanziellen Abgrunds ohne klaren Kurs. Liest man die Koalitionsvereinbarungen von 2005 und 2009, dann findet man viele akribisch aufgezählte und sorgsam abgewogene „Aufgaben”. Alles richtig, aber der Geist des zukünftigen Schleswig-Holstein wehte nicht durch die Zeilen.
Leicht, Vater eines 6-Jährigen Sohnes, wirft keinen Hut in den Ring. Er umreißt eine Vision, die die Wirtschaft, genauer: die IHKen, in der zweiten Jahreshälfte dieses Jahres präsentieren wollen. Er skizziert eine Region zwischen Flensburg, Hamburg und Rostock, die sich nicht in einer Randlage sieht, sondern sich als Bindeglied zu einem neuen, großen nordeuropäischen Wirtschaftsraum begreift. In diesem Raum liegen neben den norddeutschen Bundesländern die dänischen Regionen Süddänemark, Seeland und Kopenhagen und das schwedische Schonen. Nationalstaatliche Grenzen oder einzelne Bundesländer mag es da noch geben. Aber in zentralen Komplexen wie Bildung, Ausbildung, Arbeitsmarkt, Verwaltung und Wissenschaft spielen sie keine Rolle mehr. Sie stören nicht mehr die neu entstehenden Räume, die sowohl im Internet als auch in der Realität mit den Nationalstaatsgrenzen des letzten Jahrtausends nichts anfangen können. In einer solchen Welt sind Länderfusionen keine Themen, da deren Folge für die gesellschaftlichen Akteure, von den Partikularinteressen einiger weniger Amtsträger abgesehen, bedeutungslos sind. Dem in der ersten Reihe sitzenden Ministerpräsident a.D. Björn Engholm, der vor Jahren die Region Mare Balticum als blühende wirtschaftliche und kulturelle Vision in die schleswig-holsteinische Politik einführte, werden die Ohren geklingelt haben.
Die Schritte, die dem Lübecker Unternehmer vorschweben, verfallen nicht in das übliche Muster Transferleistungen streichen, Steuern senken, Staat böse.
So fordert er nicht etwa die Kürzung der Transferleistungen, sondern will Wachstumspotentiale ausschöpfen, damit immer weniger Menschen wenigstens den möglichen Teil des immer mehr wachsenden Bedarfs an Transferleistungen erbringen können. Er scheut sich nicht — mit Hinweis auf die fatale Staatsverschuldung und mit Blick auf die nicht funktionierenden Mechanismen der Einnahmeverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen — die Systemfrage zu stellen und fordert, wenn auch recht pauschal, eine „Neue Architektur des Systembaus“. Sicher, es ist leicht und zeugt noch längst nicht von Übereinstimmung, wenn man sich unter solchen gemeinsamen Überschriften treffen kann. Aber ohne Streit, Diskussionen und einen Wettbewerb der Ideen wird die Zukunft unseres Landes nicht gestaltet werden, sondern kommt ungeformt und ohne reservierten Platz auf uns zu, legt unser Land zu den Akten der Geschichte.
Seine Forderung, dass sich der Staat entlang der Erwartungen der Bürger und Unternehmerinnen zu organisieren hat und nicht andersherum, ist im Grunde richtig. Wenn auch nicht klar wird, warum er das auf das Ausgabeverhalten des Staates beschränkt: denn der von ihm selbst beklagte Bildungsseperatismus ist nichts anderes als beredter Ausdruck dieser strukturkonservativen, engstirnigen Denkrichtung, die stets in Behördenstrukturen und Grenzen, aber nie in Prozessen und Bedürfnissen denkt. Zuletzt habe ich das an der Norderstedter Kindergartenposse im Landesblog diskutiert.
Und schließlich und nicht uneigennützig fordert er nicht nur langfristige Strukturreformen, sondern will die Wirtschaftsverbände an der Umsetzung beteiligt beteiligt sehen.
Eher en passant führt er die Landespolitik vor. „Wer mit notwendigen Sparmaßnahmen die Bürgerinnen und Bürger auf einen harten Weg durch die Wüste führt, muss auch sagen, wo das grüne Land wieder erreicht werden kann“. Die Landesregierung müsse „tatsächlich strategisch sparen“, „jede Reduktion eines Etatpostens auf eine ausgearbeitete und überzeugende Landesstrategie“ einzahlen. Denn nur wer „Ausgabeprioritäten im Gesamtzusammenhang schlüssig begründen“ kann, könne auch Verzicht vermitteln. Und dort, wo er die Landesregierung lobt, nämlich für ihren „tatsächlichen Einstieg in die Ausgabenreduktion“, da vergleicht er diesen „historischen“ Schritt unter dem Applaus der 1.700 anwesenden Unternehmer mit der Schröderschen Agenda 2010. „Ein Geschäftsmodell für unser Land entwickeln, das umfasst mehr außer cost cutting“.
Was wohl der zarte Hinweis darauf ist, dass die sogenannte Schuldenbremse, also die Idee, ab dem Jahre 2020 allenfalls noch konjunkturell begründete Schulden aufzunehmen, eben kein Ziel im politischen Sinne ist — sondern eben nur eine begleitende Eigenschaft, damit man überhaupt wieder in der Lage ist, Ziele, so man denn welche formuliert hat, zu erreichen. Mal abgesehen davon, dass ein ausgeglichener Haushalt im Jahr 2020 nichts als eine kleine Zwischenetappe wäre, bevor der eigentliche Aufstieg beginnt, nämlich den bis dahin angehäuften Schuldenberg von dann vielleicht 33 Milliarden Euro überhaupt erst abbauen zu können.
Betrachten wir die Wachstumspotentiale, die Präses Leicht in unserer Region sieht, mit diesem Aspekt im Hinterkopf, dann sehen wir die Widersprüche, die es zu überwinden gilt: optimale Bildungsstrukturen; eine gute Infrastruktur mit Straßen, Schienenwegen, Datenautobahnen, Häfen und Flughäfen; starke und erfolgreiche Zukunftsbranchen: ein gesundes, moderndes, weltoffenes, tolerantes und kulturell ansprechendes Lebensumfeld ohne ideologischen Scheuklappen. Das sind häufig genug Investitionen, die aus dem Landeshaushalt finanziert oder wenigstens mitfinanziert werden müssen. Wie das alles ohne Steuererhöhungen bei wachsenden Transferleistungen finanziert werden soll, bleibt zunächst ein Rätsel. Besonders, wenn der Wissenschaftsminister wegen seines Engagements für die aus Leichts Sichts unverzichtbaren Universitäten und Fachhochschulen und den Kampf für mehr Studienplätze in Schleswig-Holstein gelobt wird. Oder wenn der zweigleisige Ausbau der Bahnstrecke von Lübeck bis Puttgarden auf einer Trasse gefordert wird, die zum einen den Tourismus befördert und nicht behindert und zum anderen größtmögliche Rücksicht auf Anwohner, Landwirte und Umwelt nimmt. All das wird man nicht mit schlankeren Verwaltungsstrukturen, angepasstem Beamtenrecht und E-Goverment allein wuppen können. Sein berechtigter Wunsch, nicht in Rituale und Angstszenarien zu verfallen, wird auch an der Frage Steuererhöhungen (und sei es wenigstens durch konsequenten Abbau von Steuerleichterungen) gemessen werden.
Es bewegt sich also was im Lande Schleswig-Holstein. Landtagspräsident Torsten Geerdts entwarf jüngst seine persönliche Vision von der Zukunft Schleswig-Holsteins, die Grünen formulieren ihre Ziele, die Wirtschaft präsentiert ihre Vision von Schleswig-Holstein im Jahre 2030. Legt man diese Papiere nebeneinander und sucht Parallelen, so findet man die ebenso wie den Willen zum miteinander reden.
Wir werden erwarten können, dass nach der Entscheidung der SPD über ihren Kandidaten für die bevorstehende Landtagswahl auch von dort eine programmatische Erneuerung ausgehen wird. Und der ebenfalls bevorstehende Stabwechsel von Peter Harry Carstensen auf Christian von Boetticher wird sicher ebenfalls die Notwendigkeit zu Positionierung geben. Auf die Entwürfe anderer, ehemals bedeutender gesellschaftliche Kräfte wie Kirchen oder Gewerkschaften wird man nicht warten müssen.
Nachdem sich das Land in den letzten Jahren ausgiebig mit sich, seinen handelnden Akteuren und skandalösen Banken beschäftigt hat, besteht also gute Hoffnung, dass wir uns mit unserer Zukunft beschäftigen und ihre Gestaltung angehen. Denn: Wer Visionen hat, dem geht es gut. Und wer keinen Vision hat, muss nicht zum Arzt gehen — er kann sich gleich zur Ruhe begeben.