Der Begriff „Bildungsinvestition“ ist falsch und gefährlich. Er reduziert Bildung auf etwas, das Zweckmäßigkeitsgedanken oder Fragen der „Nützlichkeit“ unterworfen wird. Bildung sind solche Kriterien fremd.
In der politischen Diskussion um den Umfang der Reduzierung der Anzahl von Lehrerplanstellen fällt häufiger der Begriff „Bildungsinvestition“. Mit ihm soll zumeist belegt werden, dass sich Investitionen in Bildung „rechnen“; Kürzungen in Bildungsausgaben mithin – besonders wenn sie im Kontext mit der notwendiger Konsolidierung des Landeshaushalts thematisiert werden – allenfalls zu einem Strohfeuer an „Einsparungen“ führen und endlich auf lange Sicht den Landeshaushalt schädigen.
Mangelnde Bildung verursacht unstrittig Folgekosten. Betroffene haben weniger Chancen, einen auskömmlichen Beruf zu finden, der es ihnen ermöglicht, sich und ihre Familie zu ernähren. Sie sind deshalb häufiger auf staatliche Leistungen angewiesen und zahlen, wenn sie denn Arbeit finden, aufgrund des vorgefundenen Lohnniveaus wenig Steuern.
Folgekosten unzureichender Bildung
Macht man sich auf der Suche nach einer Studie, die sich mit den Folgekosten unzureichender Bildung für die öffentlichen Haushalte beschäftigt, dann findet man ein Projekt der Bertelsmann-Stiftung, in dem die Autoren im Jahr 2010 nach eigenen Angaben für die Bundesrepublik Deutschland „wissenschaftliches Neuland“ betreten haben.
Neben dem individuellen Schicksal der betroffenen Menschen, heißt es dort, wirke sich unzureichende Bildung auch auf die gesamte Gesellschaft aus. Bei Bund, Ländern und Gemeinden entstünden Folgekosten durch Mindereinnahmen und Mehrausgaben, die die Autoren in vier Kostenarten aufteilen: entgangene Lohnsteuern, entgangene Beiträge zur Arbeitslosenversicherung, auszuzahlendes Arbeitslosengeld I und Sozialleistungen.
Die ermittelten Folgekosten der heutigen Bildungs- und Ausbildungsverteilung werden mit dem (fiskalischen) Ergebnis einer hypothetisch angenommenen besseren Bildungsverteilung und der damit verbundenen Folgeeinnahmen bzw. Ausgabeminderungen verglichen. Die Kosten die zusätzlich für die bessere Bildungsverteilung aufgewendet werden, werden nicht benannt.
Die Autoren kommen in der Zusammenfassung der Studie zu dem Schluss, dass, wenn man nicht jetzt entschieden Reformen in die Wege leite, in den nächsten 10 Jahren (2010 bis 2020) bundesweit rund 15 Milliarden Euro an Folgekosten auf die Gesellschaft hinzukämen – zusätzlich zu den Kosten, die die Gesellschaft für die hochgerechnet sieben Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter, die schon heute aus verschiedensten Gründen keine Ausbildung haben, erbringen muss.
150.000 junge Erwachsene, so die Studie, verlassen jährlich unser Bildungs- und Ausbildungssystem ohne Ausbildungsabschluss. Hochgerechnet auf die Altersgruppe der 25- bis 34-Jährigen sind das mehr als 1,5 Millionen Menschen. 22 Prozent von ihnen haben keinen Schulabschluss, 52 Prozent einen Hauptschulabschluss, 26 Prozent einen Realschulabschluss (Siehe Seite 6). „Bei aller Differenzierung ist ihnen eines gemeinsam: Ihre Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe sind wesentlich geringer als von Menschen mit einer beruflichen Ausbildung“.
Die Autoren versuchen eine Zuordnung der Folgekosten unzureichender Bildung auf die öffentlichen Haushalte der föderalen Ebenen (siehe Abbildung 13 und die dort folgenden Erläuterungen): 40 Prozent der Folgekosten betreffen nach ihren Berechnungen den Bund, 30 Prozent zahlen die Länder und je 15 Prozent entfallen auf die Kommunen und die Bundesagentur für Arbeit.
Der Berechnung der Auswirkungen auf Länderebene liegen zwei Szenarien zugrunde: Im ersten Szenario soll sich der Anteil der unzureichend Gebildeten um 20 Prozent, im zweiten um 50 Prozent verringern. Nach 10 Jahren soll in Schleswig-Holstein die Verbesserung der Bildungssituation zu einer Entlastung von 7,1 bzw. 17,7 Millionen Euro, nach 20 Jahren 12,6 bzw. 31, 5 Millionen Euro führen (siehe Tabelle 6, der dort verwendeten Begriffe „Folgekosten“ und „Gesamtkosten“ sind missverständlich).
Unschärfen
Schon im Vorwort der Studie räumen die Autoren ein, dass die Berechnungen unvollständig sind.
So werden die unmittelbaren monetären Auswirkungen auf die Konsumsteuern oder auf das Rentensystem nicht berücksichtigt. Mittelbare Einflüsse, die ein weiterer Bildungshorizont auf eine Gesellschaft haben wird – sinkende Kriminalität, besseres Gesundheitsverhalten, mehr bürgerschaftliches Engagement, erhöhtes gesellschaftliches Engagement – bleiben außen vor. Zudem werden die mit einem Bildungszuwachs verbundenen ökonomischen Wachstumspotentiale einer Gesellschaft – z.B. Bildungskompetenzen und volkswirtschaftliches Wachstum – nicht eingepreist.
Die Vermutung, dass eine Berücksichtigung auch dieser Komponenten noch mehr belegen könnte, Bildung „rechne“ sich, liegt nahe. Nun tritt die Studie aber mit Idee an, eben diese Vermutung durch Gewissheit zu ersetzen. Und eben das wird durch eine nur anteilige Betrachtung nicht erreicht.
Selbst ohne detaillierte Kenntnis über die Rechenmodelle überzeugt auch die Berechnung der Kosten auf Länderebene nicht. Die Kostenarten (Lohnsteuer, Arbeitslosenversicherung, ALG I, Sozialleistungen) sind weit überwiegend dem Bund zuzurechnen. Ihre Auswirkungen auf die Länderhaushalte müssen daher marginal sein, zumal Veränderungen bei der Lohnsteuer durch den horizontalen Länderfinanzausgleich weitgehend wegnivelliert werden. Anderseits sind die aufzubringenden Kosten im Bildungssystem, die wiederum bei den Ländern liegen würden, nicht erkennbar berücksichtigt worden. Vielleicht deutet der fast durchgehend benutzte Begriff der „Länderebene“ an, dass man nicht „Länderhaushalte“ meint. Egal wie es gemeint ist: die Zahlen sind unbrauchbar, um eine Belastung oder Entlastung der Länder zu belegen.
Handlungsbedarf
Dabei sind die Grundannahmen, dass mangelnde Bildung kostet, sicher richtig. Und der Anteil der unzureichend gebildeten 25- bis 34-Jährigen liegt in Schleswig-Holstein laut Studie über dem Bundesdurchschnitt. Handlung ist also nötig.
Anteile der unzureichend gebildeten 25- bis 34-Jährigen | |
Sachsen | 6,99 |
Brandenburg | 9,82 |
Thüringen | 11,38 |
Mecklenburg-Vorpommern | 11,42 |
Sachsen-Anhalt | 12,15 |
Bayern | 12,77 |
Baden-Württemberg | 15,03 |
Deutschland | 15,39 |
Berlin | 15,88 |
Hamburg | 15,94 |
Schleswig-Holstein | 16,02 |
Niedersachsen | 16,10 |
Rheinland-Pfalz | 16,71 |
Hessen | 16,72 |
Nordrhein-Westfalen | 19,53 |
Saarland | 21,21 |
Bremen | 24,82 |
(Quelle: Bertelsmann-Studie „Unzureichende Bildung: Folgekosten für die öffentlichen Haushalte”, Abbildung 4)
Betrachtet man zum Beispiel die Zahl der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss (nach Beendigung der Vollzeitschulpflicht), dann ist keine Entspannung in Sicht. Ihr Anteil lag in den letzten Jahrzehnten in Schleswig-Holstein stets deutlich über dem Länderdurchschnitt und näherte sich ihm erst in den letzten Jahren.
(Quelle: KMK-Dokumentationen 195 und 164: Schüler, Klassen, Lehrer und Absolventen der Schulen 1992 bis 2010, Tabellen C I 1 und C I 1.1., eigene Berechnung
Ansatzpunkte
Um unzureichende Bildung und Bildungsarmut zu reduzieren, ist eine – hier ist den Forderungen der Autoren der Studie unbedingt zuzustimmen – „konsequenter Veränderungen im gesamten Bildungssystem und eine besondere Förderung und Unterstützung für die Kinder, die wir heute im Bildungssystem zurücklassen.“ Krippen, Kindertagesstätten, Infragestellung des lehrerzentrierter Frontalunterricht vor vermeintlich homogenen Schülergruppen, Einführung eines inklusives Schulsystems, flächendeckende Ganztagsschulen, Förderung von Grund, Förder- und Hauptschulen in sozialen Brennpunkten, Lichtung des Maßnahmendschungels im Übergangssystem … die Autoren nennen vielfältige Ansatzpunkte.
Ziele formulieren
Nur: Dafür braucht es keiner haushalterischen Begründung. Denn der Mensch ist nicht allein ein Vernunftwesen, dem es aus den Vernunftsgründen der Aufklärung ermöglicht werden muss, einen brauchbaren Beitrag zum Gemeinwesen zu leisten (und der das dann bitte auch pflichtschuldig zu tun hat). Nein, schon weil wir – heute mehr denn je – nicht in die Zukunft schauen können, später notwendige Kompetenzen nicht kennen könne und deshalb nicht wissen, welche „spezielle“, “nützliche“ oder „berufsorientierte“ Bildung nötig ist, ist der allgemeinen Bildung stets Vorrang zu geben. Und diese ist allen zugänglich zu machen.
Dazu gehören drei Zielbereiche: Individualität als einzigartige Ausgestaltung der individuellen Fähigkeiten und Haltungen, Totalität als Entfaltung aller Kräfte des Individuums sowie Universalität als Teilhabe in allen Lebens- und Kulturbereichen. Aber zu den Zielen gehören auch Wege, die zu den Zielen führen. Was war hier bei Wilhelm von Humboldt angedacht? Bildung war bei ihm immer konzipiert als Selbstbildung, die zur Entfaltung von Individualität zur Humanität beitragen sollte. Die drei eben genannten Zielbereiche sind ihm zufolge also letztendlich nicht durch Fremdbildung sondern nur durch Selbstbildung zu erreichen. Dies bedeutet natürlich, dass man den Menschen erst zur Selbstbildung bringen muss
(Matthias von Saldern, Schulleistung 2.0 – Von der Note zum Kompetenzraster)
Dieser Gedankengang entzieht sich damit der Notwendigkeit, haushalterisch begründet zu werden. Die Worte, die Richard von Weizsäcker 1991 bei der Entgegennahme der Denkschrift „Kultur in Berlin“ zur „Kultur“ und „Subvention“ sagte und auf die Martin Lätzel gestern bei Facebook aufmerksam machte, lassen sich eins zu eins auf „Bildung“ und „Investition“ übertragen.
Kultur kostet Geld. Sie kostet Geld vor allem auch deshalb, weil der Zugang zu ihr nicht in erster Linie durch einen privat gefüllten Geldbeutel bestimmt sein darf. … Substanziell hat die Förderung von Kulturellem nicht weniger eine Pflichtaufgabe der öffentlichen Haushalte zu sein als zum Beispiel der Straßenbau, die öffentliche Sicherheit oder die Finanzierung der Gehälter im öffentlichen Dienst. Es ist grotesk, dass wir Ausgaben im kulturellen Bereich zumeist „Subventionen” nennen, während kein Mensch auf die Idee käme, die Ausgaben für ein Bahnhofsgebäude oder einen Spielplatz als Subventionen zu bezeichnen. Der Ausdruck lenkt uns in die falsche Richtung. Denn Kultur ist kein Luxus, den wir uns leisten oder auch streichen können, sondern der geistige Boden, der unsere eigentliche innere Überlebensfähigkeit sichert.
Ziele definieren
Es ist also nicht nur nicht nötig, eine finanzielle Begründung für Bildungsausgaben zu finden, sondern auch der falscher Weg. Der Investitionsbegriff reduziert die Aufgabe Bildung auf Nützlichkeitserwägungen und gebiert die nicht lösbare Anforderung, sein humanistisches Ziel einer Kosten-Nutzen-Analyse zu unterwerfen. Das scheitert auch daran, dass das Ziel nicht allein ein fiskalisches, sondern immer auch ein individuelles und gesellschaftliches Element hat. In der Schweiz benutzt man anscheinend den Begriff der Bildungsrendite (und unterteilt ihn in fiskalische, private und soziale Rendite). Das erscheint mir passender. Da Steuergeldern nicht von dukatenscheißenden Goldesel gespendet werden und ihr Einsatz deshalb überprüfbar und dem Ziel angemessen sein muss, sind Fragen der Rentierlichkeit nicht per se tabu. Sie bestimmen aber nicht das Ziel. Deshalb wären Forderungen nach „x.xxx nicht zu streichende Lehrerstellen“ oder „mehr Vertretungslehrer“ allein populistische und sehr unpolitische Forderungen, die ein wenig an Symptomen herumdoktern, aber die eigentliche Probleme nicht mal streifen. Das ist das bisher übliche vermeintliche Problemlösungsmuster: Stückwerk ohne Masterplan. Wege ohne Ziel.
Angesichts des Ausschlusses ganzer Bevölkerungsschichten von fast jeder gesellschaftlichen Teilhabe ist auch der Ruf nach „Reformpause“ blanker Unsinn. Das Gegenteil ist der Fall. Was wir brauchen, ist eine große gesellschaftliche Anstrengung, um das Bildungssystem endlich zu reformieren. Und zwar gründlich und im großen Zusammenhang. Das hat aber erst in zweiter Linie etwas mit Geld zu tun. In erster Linie ginge es darum, die Ziele zu vereinbaren, die Defizite klar zu benennen und Wege vorzuschlagen. Mit dem Kinderfinger auf den anderen zu zeigen und „in dessen Regierungszeit ging es bergab“ zu kreischen, erbonkelmäßig „ich werfe eine Lokalrunde Vertretungsstunden“ zu tönen oder großväterlich „ich rede mit euch allen und entscheide dann irgendwas“ zu brummen ist nicht das, was ich von Parteien erwarte, die um meine Stimme werben.