Über 400 Bürgerinnen und Bürger aus Pinneberg und Umgebung, ein paar Dutzend auch aus anderen Regionen Schleswig-Holsteins und nochmal ein, zwei Dutzend Medienvertreter fanden am 7. November den Weg in das Pinneberger Rathaus, um eine sehr eigentümliche und sehr sozialdemokratische Veranstaltung zu besuchen: Brigitte Fronzek, Torsten Albig, Dr. Ralf Stegner und Mathias Stein haben sich in ihrer Partei, der SPD, darum beworben, Ministerpräsidentenkandidat zu werden. Wer es von ihnen wird, entscheidet die SPD in einer Art Vorwahl.
Das Amt ist beliebt, denn es sieht ganz danach aus, dass der Gewinner die SPD in eine Regierungsbeteiligung in Schleswig-Holstein führen und vielleicht sogar Ministerpräsident werden kann. Vielleicht ist das Amt auch beliebt, weil der derzeitige Frontmann, den wir neulich hier im Landesblog zusammen mit Wolfgang Kubicki zum Titan erhoben, nicht unumstritten ist. Man kann den Genossen also nur gratulieren, eine Wahl, sogar eine Auswahl zu haben.
Um das Ergebnis vorwegzunehmen: 335 Teilnehmer haben sich am Ende eine Meinung gebildet (Das soll was anderes sein als eine Abstimmung, auch wenn man es dem Ergebnis nicht ansieht). 3 entschieden sich dafür, den Zettel, auf dem sie ihre Stimmung kund tun sollten, ungültig zu machen. 134 (darunter 91 SPD-Mitglieder) gaben dem Kieler Oberbürgermeister Torsten Albig ihre Stimme, 104 (79) liehen sie dem Oppositionsführer im Kieler Landtag Ralf Stegner, 90 (70) votierten für Brigitte Fronzek und 4 (1) der Anwesenden entschieden sich für das Parteimitglied Mathias Stein.
Mehr Demokratie
Der Saal in Pinneberg ist proppenvoll. Nicht alle finden Platz, manche müssen sogar draußen stehen bleiben. Das hat was von einem Weihnachtsgottesdienst. An dem ist die Kirche auch endlich mal voll und der Pastor hat die einmalige Chance, Mitglieder und zukünftige Gottesdienstbesucher zu umwerben, zum Wiederkommen zu bewegen. Vielleicht hat sich die Partei das auch gedacht und deshalb unter dem Slogan „Mehr Demokratie“ eine 16-teilige Serie aufgelegt, an der die vier Kandidaten durch die Kreise, kreisfreien Städte und Arbeitgsgemeinschaften der SPD tingeln, um -
Ja, um was eigentlich? Um Wahlkampf für sich zu machen? Um zu zeigen, dass sie besser sind als ihre Mitstreiter? Um zu belegen, warum es mit ihnen am ehesten gelingen wird, eine sozialdemokratisch geführte Regierung in Schleswig-Holstein zu etablieren? Um im Kampf der Argumenten zu obsiegen und eine bestechende Vision für Schleswig-Holstein zu präsentieren? Wer so etwas erwartet hat, wurde enttäuscht. Nein, “Mehr Demokratie” bedeutet nur: Man will die Auswahl nicht in den sprichwörtlichen Hinterstübchen und Funktionärszirkeln treffen. Nicht Seil- oder Burschenschaftliche Verbindungen sollen entscheiden, sondern die Mitglieder. Und weil die SPD sich mit ihren Kandidaten nicht verstecken will und muss, darf auch die Öffentlichkeit Fragen stellen. Das kann man der SPD — und das sollte man bei aller folgenden Kritik auch nicht vergessen — zu Gute halten. Und es passt ziemlich genau zu dem, was Willy Brandt am 28. Oktober 1969 in einer Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag aus heute Sicht wenig spektakulär sagte: “Wir wollen mehr Demokratie wagen. Wir werden unsere Arbeitsweise öffnen und dem kritischen Bedürfnis nach Information Genüge tun. Wir werden darauf hinwirken, dass nicht nur durch Anhörungen im Bundestag, sondern auch durch ständige Fühlungnahme mit den repräsentativen Gruppen unseres Volkes und durch eine umfassende Unterrichtung über die Regierungspolitik jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken.”
Das Protokoll verzeichnete an dieser Stelle übrigens nur Zwischenrufe der Abgeordneten Dr. Barzel und Wehner, jedoch keinen Applaus durch die SPD. Wenn wir ehrlich sind, erhielte so ein Satz heutzutage von niemandem mehr Applaus. Er würde eher als rückständig und zaghaft empfunden werden. Das ist keine fiese Kritik, sondern der Preis des Fortschritts. Es ist die Feststellung, dass wir in den letzten 50 Jahren viel, sogar sehr viel, erreicht haben in unserer Gesellschaft. Daraus folgt allerdings auch, dass es nicht mehr allein reicht, sich allein auf Willy Brandt zu berufen, sondern dass man den Begriff “Mehr Demokratie” neu definieren muss. Wer, wie weiland Brandt, Entscheidungsprozesse schon allein deshalb als demokratisch begreift, weil er sie als „Front Cooking” betreibt, unterläuft heute das selbstverständlich gewordene demokratische Prinzip der Mitbestimmung, die aktiven und beeinflussenden Teilhabe am Willensbildungsprozess.
Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört
Manchmal ist es wichtig, wer etwas nichts macht, um den Wandel zu erkennen. Carsten Kock, launiger und begabter Sprecher eines privaten Kieler Radiosenders, moderiert die Veranstaltung. Carsten Kock ist nicht beim NDR. Und auf der Bühne steht auch kein rotes Sofa sondern ein tresenartiger Tisch. Es gibt nur ein einziges Grußwort. Die Gewerkschaften und die Jusos haben kein Stand im Foyeur. Dort gibt es auch kein Bier sondern — Sozialistengesetzen zum Trotz — Wasser der Marke “Fürst Bismarck”.
Nach Grußwort und kurzer Einführung durch den Kreisvorsitzenden lädt Carsten Kock die vier Kandidaten in zufälliger Reihenfolge zu einem Smalltalk auf die Bühne, bei dem sie mit einigen ihnen vorher nicht bekannten Fragen “konfrontiert” werden. Naja, genau genommen waren sie nur dem ersten Kandidaten, ausgelost wurde Mathias Stein, unbekannt. Die anderen kannten sie dann schon.
Hintereinander werden sie dem Publikum vorgestellt und sitzen dann nebeneinander. Wieder hintereinander stellen sie sich in einer 10-minütiger Rede vor und nebeneinander sitzend beantworten sie dann noch ein paar Fragen, die teils unmittelbar aus dem Publikum gestellt werden, teils zuvor von einem hilfsreichen Geist eingesammelt wurden. Der Ablauf ist sichtlich darauf abgestellt, keine Missstimmung aufkommen zu lassen. Dummerweise geht dabei auch jeder produktive Streit verloren. Und nun — 3 Stunden sind um und trotz des Sitzfleisch habenden und ausdauernd zuhörenden Publikums ist die Luft immer noch gut in dem Raum — können alle ihre Meinung kund tun.
Ich habe in den drei Stunden gelernt, dass alle vier den sozialdemokratischen Wertekanon ziemlich gleich drauf haben: Mehr für die Bildung, eine Energiewende und das Bekenntnis zu verantwortungsvollen Haushaltskürzungen bzw. Steuererhöhungen sind die aktuellen Ausprägungen von Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Die Unterschiede in der inhaltlichen Positionen sind marginal, im Nachkommabereich. Und es steht zu befürchten, dass sich die Kandidaten bei der nächsten Veranstaltung noch ähnlicher sein werden. Und als ob das Publikum es nicht wahrhaben will mit der Gleichheit, fragt es nach dem Nordstaat, der Rente mit 67, der Ausgestaltung einer kommunalen Strukturreform und immer wieder nach Bildung.
Die Antworten ähneln sich noch immer, nur verlieren die Kandidaten mittlerweile die Scheu, sich ihrem Vorredner anzuschließen: “wie Torsten schon richtig sagte”, “ich kann den Ralf da nur unterstützen”, “ich unterstreiche, was Brigitte sagte”. Einig SPD. Man glaubt fast, sie würden am liebsten als Quartett antreten, keiner distanziert sich inhaltlich vom anderen, keiner schlägt einen “anderen Weg” vor, vielleicht Brigitte Fronzek ein wenig, aber auch nur ein wenig.
Besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, daß jede Zeit eigene Antworten will
Ist das denn wirklich so: Demokratie ist die langweiligste und langatmigste Regierungsform, die wir haben — weil sie eben immer noch besser als eine Kurzweile, die mit Kurzatmigkeit einher geht? Wolfgang Michal spottete Ende der 80er Jahre des letzten Jahrtausends über die SPD in seinem Buch „Die SPD — staatstreu und jugendfrei” (Ich zitiere das aus dem Kopf, ich finde das Buch gerade nicht): „Jugendliche sind von den kurzen Schnittfolgen der Clips auf MTV und rasanten Computerspielen geprägt. Wer mit diesen Sehgewohnheiten in die Jahreshauptversammlung eines SPD-Ortsvereins gerät, der kommt sich bestenfalls so vor, als habe er die Slowmotiontaste seines Videorekorders gedrückt.” Man wird ihm in der SPD heute entgegenhalten: Es gibt keine Videorekorder mehr — Die SPD gibt aber es noch.
Das Wort “noch” unterstreiche ich. Aber ob diese Form der Veranstaltung dazu dienen wird, Politik den Menschen näher zu bringen, sie für eine Partei oder sogar für “Mehr Demokratie” zu gewinnen, das bezweifle ich doch. Es wird am Ende keinen Kompromiss geben können, sondern einen Gewinner! Und diesen Streit muss man ausfechten — mit lauteren Mitteln, guten Argumenten und mitreißenden Visionen. Deshalb meine Bitte: streitet euch, geratet aneinander, zeigt uns, wo ihr unterschiedlich seid. Seid nicht brav, sondern reisst uns durch euren Wettstreit mit. Und, liebe veranstaltende SPD, ändere den Ablauf der Veranstaltung so, dass das gefördert wird.
Hinweis: Der Autor ist nicht in der SPD und die Zwischenüberschriften sind Zitate von Willy Brandt
Eins muss man der Nord SPD lassen: Als Werbekampagne sind diese Vorwahlen unglaublich clever: Mediale Aufmerksamkeit (Werbung), ohne dafür zahlen zu müssen. Dagegen kann die CDU mit ihrer Veranstaltung im Atlantic inkl. freier Suppe und diesem m.E. eher drögen Kandidaten nicht anstinken — und gleichzeitig impliziert dieses „Mehr Demokratie” ja auch noch, dass die Gegner mit ihren ach so bösen Seilschaften total undemokratisch seien.
Ich habe gewagt, mal anders zu fragen: „Wart ihr also bis daher all die Jahrzehnte zu zaghaft oder gar undemokratisch?” und vor allem: „Wird das nun auf allen Ebenen, also auch bei den Listenerstellungen und vor allem auch bei kommenden Wahlen üblich, oder ist es nur ein Feigenblatt?”. Uh, ich bin schon lange nicht mehr so böse angeguckt worden — selbstverständlich in Kombination mit „Du bist doch auch nur so eine grüne/schwarze/gelbe/dunkelrote/orangefarbene” :)
Schauen wir also einfach mal, was weiter passiert. Eins ist sicher: Die Nord SPD konnte sich noch nie so lange Zeit lassen, Wahlkampf-Versprechen zu formulieren, denn man ist ja noch ein Weilchen in der Kandidatenfindungsphase :))))
Ist ein gutes Konzept. So ähnlich haben wir das in Baden-Württemberg ja auch gemacht. Allerdings geht die SPD-SH nochmal konsequenter zur Sache, bei uns (SPD-BW) gab es nur vier Regionalveranstaltungen, in einem bedeutend größeren Land.
Bin gespannt auf die Wahlbeteiligung. Wird wohl davon abhängen, wie diskursiv die Vorstellungsrunden noch werden.
Ich jedenfalls kann mir offene Vorwahlen sehr gut vorstellen, gerne auch auf lokaler Ebene.
Danke für den schönen Artikel. Ebenfalls weder SPD-Mitglied noch sonst ideologisch gebunden, würde ich allerdings anmerken:
Vielleicht kommt es auch gar nicht — kein bischen — darauf an, wie sich die Kandidaten inhaltlich unterscheiden, denn dass sie bezüglich der sozialdemokratischen Kernthesen groß abweichendes vertreten, ist bei Parteifreunden auch nicht unbedingt zu erwarten.
Die „Vorwahlen” sind mE. vor Allem, vielleicht ausschließlich, ein Test für Personality, Charisma, Fotogenität, rhetorische Gewandtheit. Ich denke, ausschließlich diese Aspekte werden am Ende den Sieger auszeichnen. Und haben das ja auch am Ende dieser ersten Veranstaltung schon getan.
Wer sich selbst ein Bild von der Veranstaltung und des Kandidaten machen möchte, kann sich die Aufzeichnung anschauen: http://www.ustream.tv/recorded/10696271