Wettstreit oder Wettkuscheln?

Von | 7. November 2010

 

Über 400 Bürgerinnen und Bürger aus Pinneberg und Umgebung, ein paar Dutzend auch aus ande­ren Regionen Schleswig-Holsteins und noch­mal ein, zwei Dutzend Medienvertreter fan­den am 7. November den Weg in das Pinneberger Rathaus, um eine sehr eigen­tüm­li­che und sehr sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Veranstaltung zu besu­chen: Brigitte Fronzek, Torsten Albig, Dr. Ralf Stegner und Mathias Stein haben sich in ihrer Partei, der SPD, dar­um bewor­ben, Ministerpräsidentenkandidat zu wer­den. Wer es von ihnen wird, ent­schei­det die SPD in einer Art Vorwahl.

Das Amt ist beliebt, denn es sieht ganz danach aus, dass der Gewinner die SPD in eine Regierungsbeteiligung in Schleswig-Holstein füh­ren und viel­leicht sogar Ministerpräsident wer­den kann. Vielleicht ist das Amt auch beliebt, weil der der­zei­ti­ge Frontmann, den wir neu­lich hier im Landesblog zusam­men mit Wolfgang Kubicki zum Titan erho­ben, nicht unum­strit­ten ist. Man kann den Genossen also nur gra­tu­lie­ren, eine Wahl, sogar eine Auswahl zu haben.

Um das Ergebnis vor­weg­zu­neh­men: 335 Teilnehmer haben sich am Ende eine Meinung gebil­det (Das soll was ande­res sein als eine Abstimmung, auch wenn man es dem Ergebnis nicht ansieht). 3 ent­schie­den sich dafür, den Zettel, auf dem sie ihre Stimmung kund tun soll­ten, ungül­tig zu machen. 134 (dar­un­ter 91 SPD-Mitglieder) gaben dem Kieler Oberbürgermeister Torsten Albig ihre Stimme, 104 (79) lie­hen sie dem Oppositionsführer im Kieler Landtag Ralf Stegner, 90 (70) votier­ten für Brigitte Fronzek und 4 (1) der Anwesenden ent­schie­den sich für das Parteimitglied Mathias Stein.

Mehr Demokratie

Der Saal in Pinneberg ist prop­pen­voll. Nicht alle fin­den Platz, man­che müs­sen sogar drau­ßen ste­hen blei­ben. Das hat was von einem Weihnachtsgottesdienst. An dem ist die Kirche auch end­lich mal voll und der Pastor hat die ein­ma­li­ge Chance, Mitglieder und zukünf­ti­ge Gottesdienstbesucher zu umwer­ben, zum Wiederkommen zu bewe­gen. Vielleicht hat sich die Partei das auch gedacht und des­halb unter dem Slogan „Mehr Demokratie“ eine 16-tei­li­ge Serie auf­ge­legt, an der die vier Kandidaten durch die Kreise, kreis­frei­en Städte und Arbeitgsgemeinschaften der SPD tin­geln, um -

Ja, um was eigent­lich? Um Wahlkampf für sich zu machen? Um zu zei­gen, dass sie bes­ser sind als ihre Mitstreiter? Um zu bele­gen, war­um es mit ihnen am ehes­ten gelin­gen wird, eine sozi­al­de­mo­kra­tisch geführ­te Regierung in Schleswig-Holstein zu eta­blie­ren? Um im Kampf der Argumenten zu obsie­gen und eine bestechen­de Vision für Schleswig-Holstein zu prä­sen­tie­ren? Wer so etwas erwar­tet hat, wur­de ent­täuscht. Nein, “Mehr Demokratie” bedeu­tet nur: Man will die Auswahl nicht in den sprich­wört­li­chen Hinterstübchen und Funktionärszirkeln tref­fen. Nicht Seil- oder Burschenschaftliche Verbindungen sol­len ent­schei­den, son­dern die Mitglieder. Und weil die SPD sich mit ihren Kandidaten nicht ver­ste­cken will und muss, darf auch die Öffentlichkeit Fragen stel­len. Das kann man der SPD — und das soll­te man bei aller fol­gen­den Kritik auch nicht ver­ges­sen — zu Gute hal­ten.  Und es passt ziem­lich genau zu dem, was Willy Brandt am 28. Oktober 1969 in einer Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag aus heu­te Sicht wenig spek­ta­ku­lär sag­te: “Wir wol­len mehr Demokratie wagen. Wir wer­den unse­re Arbeitsweise öff­nen und dem kri­ti­schen Bedürfnis nach Information Genüge tun. Wir wer­den dar­auf hin­wir­ken, dass nicht nur durch Anhörungen im Bundestag, son­dern auch durch stän­di­ge Fühlungnahme mit den reprä­sen­ta­ti­ven Gruppen unse­res Volkes und durch eine umfas­sen­de Unterrichtung über die Regierungspolitik jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform von Staat und Gesellschaft mit­zu­wir­ken.”

Das Protokoll ver­zeich­ne­te an die­ser Stelle übri­gens nur Zwischenrufe der Abgeordneten Dr. Barzel und Wehner, jedoch kei­nen Applaus durch die SPD. Wenn wir ehr­lich sind, erhiel­te so ein Satz heut­zu­ta­ge von nie­man­dem mehr Applaus. Er wür­de eher als rück­stän­dig und zag­haft emp­fun­den wer­den. Das ist kei­ne fie­se Kritik, son­dern der Preis des Fortschritts. Es ist die Feststellung, dass wir in den letz­ten 50 Jahren viel, sogar sehr viel, erreicht haben in unse­rer Gesellschaft. Daraus folgt aller­dings auch, dass es nicht mehr allein reicht, sich allein auf Willy Brandt zu beru­fen, son­dern dass man den Begriff “Mehr Demokratie” neu defi­nie­ren muss. Wer, wie wei­land Brandt,  Entscheidungsprozesse schon allein des­halb als demo­kra­tisch begreift, weil er sie als „Front Cooking” betreibt, unter­läuft heu­te das selbst­ver­ständ­lich gewor­de­ne demo­kra­ti­sche Prinzip der Mitbestimmung, die akti­ven und beein­flus­sen­den Teilhabe am Willensbildungsprozess.

Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört

Manchmal ist es wich­tig, wer etwas nichts macht, um den Wandel zu erken­nen. Carsten Kock, lau­ni­ger und begab­ter Sprecher eines pri­va­ten Kieler Radiosenders, mode­riert die Veranstaltung. Carsten Kock ist nicht beim NDR. Und auf der Bühne steht auch kein rotes Sofa son­dern ein tre­sen­ar­ti­ger Tisch. Es gibt nur ein ein­zi­ges Grußwort. Die Gewerkschaften und die Jusos haben kein Stand im Foyeur. Dort gibt es auch kein Bier son­dern — Sozialistengesetzen zum Trotz — Wasser der Marke “Fürst Bismarck”.

Nach Grußwort und kur­zer Einführung durch den Kreisvorsitzenden lädt Carsten Kock die vier Kandidaten in zufäl­li­ger Reihenfolge zu einem Smalltalk auf die Bühne, bei dem sie mit eini­gen ihnen vor­her nicht bekann­ten Fragen “kon­fron­tiert” wer­den. Naja, genau genom­men waren sie nur dem ers­ten Kandidaten, aus­ge­lost wur­de Mathias Stein, unbe­kannt. Die ande­ren kann­ten sie dann schon.

Hintereinander wer­den sie dem Publikum vor­ge­stellt und sit­zen dann neben­ein­an­der. Wieder hin­ter­ein­an­der stel­len sie sich in einer 10-minü­ti­ger Rede vor und neben­ein­an­der sit­zend beant­wor­ten sie dann noch ein paar Fragen, die teils unmit­tel­bar aus dem Publikum gestellt wer­den, teils zuvor von einem hilfs­rei­chen Geist ein­ge­sam­melt wur­den. Der Ablauf ist sicht­lich dar­auf abge­stellt, kei­ne Missstimmung auf­kom­men zu las­sen. Dummerweise geht dabei auch jeder pro­duk­ti­ve Streit ver­lo­ren. Und nun — 3 Stunden sind um und trotz des Sitzfleisch haben­den und aus­dau­ernd zuhö­ren­den Publikums ist die Luft immer noch gut in dem Raum — kön­nen alle ihre Meinung kund tun.

Ich habe in den drei Stunden gelernt, dass alle vier den sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Wertekanon ziem­lich gleich drauf haben: Mehr für die Bildung, eine Energiewende und das Bekenntnis zu ver­ant­wor­tungs­vol­len Haushaltskürzungen bzw. Steuererhöhungen sind die aktu­el­len Ausprägungen von Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Die Unterschiede in der inhalt­li­chen Positionen sind mar­gi­nal, im Nachkommabereich. Und es steht zu befürch­ten, dass sich die Kandidaten bei der nächs­ten Veranstaltung noch ähn­li­cher sein wer­den. Und als ob das Publikum es nicht wahr­ha­ben will mit der Gleichheit, fragt es nach dem Nordstaat, der Rente mit 67, der Ausgestaltung einer kom­mu­na­len Strukturreform und immer wie­der nach Bildung.

Die Antworten ähneln sich noch immer, nur ver­lie­ren die Kandidaten mitt­ler­wei­le die Scheu, sich ihrem Vorredner anzu­schlie­ßen: “wie Torsten schon rich­tig sag­te”, “ich kann den Ralf da nur unter­stüt­zen”, “ich unter­strei­che, was Brigitte sag­te”. Einig SPD. Man glaubt fast, sie wür­den am liebs­ten als Quartett antre­ten, kei­ner distan­ziert sich inhalt­lich vom ande­ren, kei­ner schlägt einen “ande­ren Weg” vor, viel­leicht Brigitte Fronzek ein wenig, aber auch nur ein wenig.

Besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, daß jede Zeit eigene Antworten will

Ist das denn wirk­lich so: Demokratie ist die lang­wei­ligs­te und lang­at­migs­te Regierungsform, die wir haben — weil sie eben immer noch bes­ser als eine Kurzweile, die mit Kurzatmigkeit ein­her geht? Wolfgang Michal spot­te­te Ende der 80er Jahre des letz­ten Jahrtausends über die SPD in sei­nem Buch „Die SPD — staats­treu und jugend­frei” (Ich zitie­re das aus dem Kopf, ich fin­de das Buch gera­de nicht):  „Jugendliche sind von den kur­zen Schnittfolgen der Clips auf MTV und rasan­ten Computerspielen geprägt. Wer mit die­sen Sehgewohnheiten in die Jahreshauptversammlung eines SPD-Ortsvereins gerät, der kommt sich bes­ten­falls so vor, als habe er die Slowmotiontaste sei­nes Videorekorders gedrückt.” Man wird ihm in der SPD heu­te ent­ge­gen­hal­ten: Es gibt kei­ne Videorekorder mehr — Die SPD gibt aber es noch.

Das Wort “noch” unter­strei­che ich. Aber ob die­se Form der Veranstaltung dazu die­nen wird, Politik den Menschen näher zu brin­gen, sie für eine Partei oder sogar für “Mehr Demokratie” zu gewin­nen, das bezweif­le ich doch. Es wird am Ende kei­nen Kompromiss geben kön­nen, son­dern einen Gewinner! Und die­sen Streit muss man aus­fech­ten — mit lau­te­ren Mitteln, guten Argumenten und mit­rei­ßen­den Visionen. Deshalb mei­ne Bitte: strei­tet euch, gera­tet anein­an­der, zeigt uns, wo ihr unter­schied­lich seid. Seid nicht brav, son­dern reisst uns durch euren Wettstreit mit. Und, lie­be ver­an­stal­ten­de SPD, ände­re den Ablauf der Veranstaltung so, dass das geför­dert wird.

Hinweis: Der Autor ist nicht in der SPD und die Zwischenüberschriften sind Zitate von Willy Brandt

Von:

Swen Wacker, 49, im Herzen Kieler, wohnt in Lüneburg, arbeitet in Hamburg.

4 Gedanken zu “Wettstreit oder Wettkuscheln?”:

  1. Daniela

    Eins muss man der Nord SPD las­sen: Als Werbekampagne sind die­se Vorwahlen unglaub­lich cle­ver: Mediale Aufmerksamkeit (Werbung), ohne dafür zah­len zu müs­sen. Dagegen kann die CDU mit ihrer Veranstaltung im Atlantic inkl. frei­er Suppe und die­sem m.E. eher drö­gen Kandidaten nicht anstin­ken — und gleich­zei­tig impli­ziert die­ses „Mehr Demokratie” ja auch noch, dass die Gegner mit ihren ach so bösen Seilschaften total unde­mo­kra­tisch sei­en.

    Ich habe gewagt, mal anders zu fra­gen: „Wart ihr also bis daher all die Jahrzehnte zu zag­haft oder gar unde­mo­kra­tisch?” und vor allem: „Wird das nun auf allen Ebenen, also auch bei den Listenerstellungen und vor allem auch bei kom­men­den Wahlen üblich, oder ist es nur ein Feigenblatt?”. Uh, ich bin schon lan­ge nicht mehr so böse ange­guckt wor­den — selbst­ver­ständ­lich in Kombination mit „Du bist doch auch nur so eine grüne/​schwarze/​gelbe/​dunkelrote/​orangefarbene” :)

    Schauen wir also ein­fach mal, was wei­ter pas­siert. Eins ist sicher: Die Nord SPD konn­te sich noch nie so lan­ge Zeit las­sen, Wahlkampf-Versprechen zu for­mu­lie­ren, denn man ist ja noch ein Weilchen in der Kandidatenfindungsphase :))))

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  2. Christian S.

    Ist ein gutes Konzept. So ähn­lich haben wir das in Baden-Württemberg ja auch gemacht. Allerdings geht die SPD-SH noch­mal kon­se­quen­ter zur Sache, bei uns (SPD-BW) gab es nur vier Regionalveranstaltungen, in einem bedeu­tend grö­ße­ren Land.

    Bin gespannt auf die Wahlbeteiligung. Wird wohl davon abhän­gen, wie dis­kur­siv die Vorstellungsrunden noch wer­den.

    Ich jeden­falls kann mir offe­ne Vorwahlen sehr gut vor­stel­len, ger­ne auch auf loka­ler Ebene.

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  3. rizzo

    Danke für den schö­nen Artikel. Ebenfalls weder SPD-Mitglied noch sonst ideo­lo­gisch gebun­den, wür­de ich aller­dings anmer­ken:

    Vielleicht kommt es auch gar nicht —  kein bischen — dar­auf an, wie sich die Kandidaten inhalt­lich unter­schei­den, denn dass sie bezüg­lich der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Kernthesen groß abwei­chen­des ver­tre­ten, ist bei Parteifreunden auch nicht unbe­dingt zu erwar­ten.

    Die „Vorwahlen” sind mE. vor Allem, viel­leicht aus­schließ­lich, ein Test für Personality, Charisma, Fotogenität, rhe­to­ri­sche Gewandtheit. Ich den­ke, aus­schließ­lich die­se Aspekte wer­den am Ende den Sieger aus­zeich­nen. Und haben das ja auch am Ende die­ser ers­ten Veranstaltung schon getan.

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