Ich geh dann mal wählen

Von | 30. November 2010

 Seid aber Täter des Worts und nicht Hörer allein, wodurch ihr euch selbst betrügt. Jakobus 1, 22

Gestern haben eini­ge regio­na­le Politiker ange­kün­digt, einem ziem­lich bescheu­er­ten Gesetz zuzu­stim­men, das damit in etwa einem Monat in Kraft tre­ten wird.

Wer glaubt, dass ich mit die­sem Satz allein den Vierzehnten Staatsvertrag zur Änderung rund­funk­recht­li­cher Staatsverträge beschrei­be, ist ein nai­ver Mensch.

Ende 2009 gab es in Deutschland 1.924 Gesetze und 3.440 Verordnungen mit ins­ge­samt 76.382 Artikeln und Paragraphen. Die Fülle der Ländergesetze und EU-recht­li­chen Vorschriften sind da noch nicht mal mit­ge­zählt. Und jedes Jahr wer­den hun­der­te von die­sen Gesetzen geän­dert. Und zu fast jedem kann man die­ser oder jener Meinung sein. Und das ist gut so. Und noch mal hun­der­te von die­sen Gesetzen wer­den nicht geän­dert. Und zu vie­len die­ser Nichtänderungen kann man die­ser oder jener Meinung sein. Und das ist gut so. Und bei mas­sen­haft die­ser nicht geän­der­ten, geän­der­ten, erlas­se­nen oder auf­ge­ho­be­nen Vorschriften rufen nicht weni­ge Menschen in die­ser Republik: Ihr tickt ja wohl nicht rich­tig; Ihr habt ja kei­ne Ahnung von der Sache; Das gefähr­det die Zukunft der [Jugend|Moral|Gesellschaft|Wirtschaft|Kleingärten]. Und wenn man sich die Dinge ohne Parteibrille, mit ein wenig Abstand und gesun­dem Menschenverstand dann anschaut, dann stellt man häu­fig genug fest: „Ein Dokument des Irrsinns in Deutschlands Politik“.

 Soweit, so rich­tig. Soweit, so all­täg­lich banal.

Vielen Politikern man­gelt es auch heu­te anschei­nend — das kann man wohl ohne grö­ße­re Untersuchungen in den Raum rufen — immer noch an dem, was Max Weber ihnen als ent­schei­den­de psychologische(sic!) Qualität abver­lang­te: Augenmaß, die Fähigkeit, die Realitäten mit inne­rer Sammlung und Ruhe auf sich wir­ken zu las­sen, also: Distanz zu den Dingen und Menschen. Überhaupt lie­ße sich mit Webers „Politik als Beruf“ ohne viel Aufwand dem gest­ri­gen Sturm der Empörung gegen die Entscheidung der Grünen Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen, aus „par­la­men­ta­ri­schen Zwängen“ her­aus eine bestimm­te Entscheidung zu tref­fen, aufs Einfachste eine argu­men­ta­ti­ve Basis gegen die­se Art der Politik geben. Auch der so gern zitier­te Tweet der Grünen:

 

ist „ein Dokument des Irrsinns in Deutschlands Politik“.

Aber dar­um geht es mir jetzt nicht. Sie, nicht nur die Grünen in NRW, sind für ihre Dummheit selbst ver­ant­wort­lich und müs­sen mit der Folge rech­nen: Wähler und Sympathisanten sind vor den Kopf gesto­ßen, wen­den sich ab, bün­deln sich neu, suchen ande­re Verbündete. Das wer­den die grü­nen Akteure am Rhein auch gewusst haben. Sie sind ja viel­leicht dumm, aber nicht blöd. Sie wer­den ihre Entscheidung, im bes­ten Fall, in Distanz zu den Dingen und Menschen gefällt haben. Diese Distanz dür­fen Politiker nicht nur, sie müs­sen sie sogar haben. Auch gegen­über der Netzgemeinde. Denn die Todsünde „Distanzlosigkeit“ ist, wie­der Weber: „eine jener Qualitäten, deren Züchtung bei dem Nachwuchs unse­rer Intellektuellen sie zu poli­ti­scher Unfähigkeit ver­ur­tei­len wird. Denn das Problem ist eben: wie hei­ße Leidenschaft und küh­les Augenmaß mit­ein­an­der in der­sel­ben Seele zusam­men­ge­zwun­gen wer­den kön­nen?“

Wir, die Netzgemeinde, die Kritiker des JMStV wer­den damit leben müs­sen. Und wir wer­den damit leben. Den Kopf in den Sand zu ste­cken, kann die Antwort  nicht sein. Denn das, was ich von Politikern erwar­te, erwar­te ich auch von mir und jedem ande­ren poli­tisch inter­es­sier­ten: Distanz zu den Parteien und Politikern. Und zwar nicht, indem ich mich fern­hal­te, son­dern als Gegenpol zur Distanzlosigkeit. Wer jetzt, wie der wüten­de Thomas Knüwer, ruft: „Ich gehe nicht mehr wäh­len“, ist drau­ßen aus dem Spiel. Er will nicht mehr mit­ma­chen und das heißt auch: Er will nicht mehr Kritik üben, er will sich zukünf­tig sei­ner Stimme ent­hal­ten, nicht nur am Wahltag, son­dern auch als Zwischenrufer. Ihm geht jeder Anspruch aufs zuhö­ren ab. Das ruft man in auf­ge­reg­ter Wut. Dann ist aber auch gut. Dann denkt man am nächs­ten Tag ein­mal drü­ber nach und stellt fest, dass das nicht sei­ne Meinung ist.

Nein, Politikern ohne inne­res Schwergewicht und ethi­sches Gewissen straft man nicht durch „macht ohne mich wei­ter“ son­dern mit Luther: „Hier ste­he ich, ich kann nicht anders“. Lasst uns das auch wei­ter­hin als Aufruf nicht nur zum Beziehen eines Standpunktes son­dern auch zum akti­ven Handeln ver­ste­hen. Denn dem Wort müs­sen Taten fol­gen. Und nicht mehr wäh­len zu gehen ist kei­ne Tat, son­dern eine Verweigerung. Die Antwort muss sein: Unsere Überzeugungsarbeit fort­set­zen, denn auch Staatsverträge sind, wie Parlamentsmehrheiten oder -zuge­hö­rig­keit, nicht für die Ewigkeit gemacht.

Von:

Swen Wacker, 49, im Herzen Kieler, wohnt in Lüneburg, arbeitet in Hamburg.

5 Gedanken zu “Ich geh dann mal wählen”:

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  2. Johanstormarn

    Das schö­ne an der Distanz: Es gibt einem die Möglichkeit eine Nacht in Ruhe zu schla­fen, sich die Dinge noch mal gründ­lich und in Ruhe durch­zu­le­sen (Dinge=Gesetze, nicht Drittberichterstattung). Seine eige­ne Interpretation gegen ande­re Interpretationen zu vali­die­ren und dann hat sich häu­fig schon viel Aufregung gelegt.

    Zweiter Vorteil der Distanz: Man kann in Ruhe die Prozesse der Gesetzesentstehung und die Beteiligten anschau­en und schau­en, war­um sich sei­ne Meinung nicht durch­ge­setzt hat und war­um zum Beispiel eine Partei sich manch­mal anders verhält/​verhalten muss, als eine Fraktion.

    Vieles, was ich an dem Unmut sehe ist:
    a) Fehlende Distanz /​ Kenntnis des Gesetzesinhalts im Wortlaut
    b) Fehlendes Verständnis für poli­ti­sche Prozesse
    Aber natür­lich kann man es trotz­dem blöd fin­den und dage­gen sein. Nur die Menge an Kurzschlussreaktionen zeigt, dass hier die Distanz fehl­te.

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    1. Steffen VoßSteffen Voß

      Vielleicht soll­te sich Knüwer ein WordPress-Plugin instal­lie­ren, das für ihn bis 10 zählt, bevor er los­schrei­ben kann ;-)

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      1. Rudolf RIep

        Das Zählen dürf­te dann aber nicht so schnell gehen. „Macht ohne mich wei­ter” gibt denen, die man für unfa­hig hält, einen Freifahrschein. Besser man mischt sich ein. Das hilft aber nichts, wenn das nur in der vir­tu­el­len Welt geschieht. Die Entscheidungen, auch die, die man falsch fin­det, wer­den im wirk­li­chen Leben gefällt und von den Parteien vor­be­rei­tet. Dort ist der Platz um den Lauf der Dinge zu beein­flus­sen. Wer aber glaubt, dass er allei­ne den Gang bestim­men kann, den ein Gesetz gehen muss, der wird sehr schnell frus­triert wer­den. Wenn man erst mal begrif­fen hat, dass es auch ande­re Sichtweisen und „Wahrheiten” gibt als die eige­nen, wird mit Ruhe und Gelassenheit dar­an arbei­ten kön­nen, die eige­nen Ideen durch­zu­set­zen. „Alle blöd außer ich!” hilft jeden­falls nicht.
        Rudolf Riep

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