Es geht längst nicht mehr um den Streit um ein Jahr gymnasialen Schulunterricht — Die politische Auseinandersetzung um G8 und G9 ist zur Grundsatzfrage über die weitere Existenz und Existenzberechtigung des Gymnasiums geworden — und damit gleichzeitig über die Zukunft des deutschen Sozialstaates.
So sieht es jedenfalls Reinhold Günther, stellvertretender Vorsitzender des Kreiselternbeirats Gymnasium Nordfriesland, Mitglied im Landeselternbeirat Gymnasien, Mitglied der Initiative „G9jetzt” und Mitinitiator einer Großdemonstration in Kiel am Samstag, dem 22. Januar 2011 um 12.00 Uhr, vor der entscheidenden Sitzungswoche des Landtags, in der das neue Schulgesetz der schwarz-gelben Koalition verabschiedet werden soll. Vom Asmus-Bremer-Platz soll eine möglichst große Menschenmenge sodann zum Landeshaus ziehen. Doch anstatt wie üblich gegen eine drohende parlamentarische Entscheidung zu protestieren, soll die Demonstration diejenigen auffordern, für die Gesetzesnovelle zu stimmen, die qua selbstverstandenem oder -auferlegtem Oppositionsauftrag und/oder einer entgegengesetzten dogmatischen Grundeinstellung dagegen zu stimmen drohen. Jede Stimme, die die Mehrheit für die Novelle vergrößere, setze ein Signal für den Bildungsstandort Schleswig-Holstein.
Quo vadis Gymnasium — Aufklärungsarbeit zu G8
Reinhold Günther hat in den letzten Monaten das Land der Horizonte bereist, um den persönlichen Horizont seiner Zuhörer zu erweitern. Auf zahlreichen Veranstaltungen hat er seinen 70-minütigen Vortrag „Quo vadis Gymnasium?” gehalten, in dem er das Konzept G8 eindrucksvoll auseinander nimmt: Abgespecktes Turbo-Abitur ohne Zeit für Persönlichkeitsentwicklung und Engagement in Sportvereinen oder menschliches Normal-Abitur, das sei hier die Frage. Eigentlich könnte ihm das Thema egal sein: Sein jüngstes Kind steht kurz vor dem G8-Abitur an einem Husumer Gymnasium, ihn als Vater werden die Auswirkungen künftig nicht mehr betreffen. Doch Günther sorgt sich nicht nur um die Kinder, auf deren Rücken dieser politische „Schulkrieg” ausgetragen werde. Er sieht das große Ganze, den deutschen Sozialstaat, bedroht. Nur eine gute Ausbildung in der Gegenwart würde demnach zu leistungsfähigen Arbeitnehmern und Unternehmern in der Zukunft und damit weiterem Wirtschaftswachstum führen, das den Sozialstaat überhaupt am Leben halte. Deutschland sei nicht trotz, sondern wegen G9 Exportweltmeister geworden. G8 habe demgegenüber keine pädagogischen Vorteile, das sei auch weitgehend anerkannt. Die Ergebnisse sprächen für sich: Die schulischen Leistungen würden eher schwächer, zwischen 80 und 90 Prozent der Eltern rufen nach der Rückkehr zu G9.
Die Ziele des G8-Konzepts, die Verbesserung der Allgemeinbildung, die Stärkung der Studienfähigkeit, die Vergleichbarkeit der Abschlüsse mit anderen Bundesländern, die Erleichterung umzugsbedingter Schulwechsel, die Anpassung an internationale Standards, die Senkung von Kosten und ein früherer Berufseinstieg seien nur zum Teil oder gar nicht erreicht und mit der Wegnahme der Zeit der Kinder erkauft worden, die sich wie ihre Eltern massiv unter Druck gesetzt fühlten. In einigen Bundesländern mit G8 gäbe es das Phänomen, dass Eltern VHS-Kurse besuchen „Wie hält sich mein Kind bei G8 in diesem oder jenem Fach”. Vereinssport, Musikunterricht, Kirchen — auch außerschulische Einrichtungen leiden unter den Folgen.
Dass die Zustände der stets als G8-Beispiele aufgeführten EU-Länder nicht tragen, kann Günther belegen. Um allein personell vergleichbare Verhältnisse wie in Finnland herzustellen, müsste man bei uns die Personalzahl vervierfachen, in vielen Ländern seien die Abiturienten mit ihrem Abschluss nur begrenzt oder gar nicht studienfähig und müßten von den Universitäten teuer nachqualifiziert werden. Auch an der Uni Kiel werde bereits mit propädeutischen Übungen in einigen Studiengängen gegengesteuert, da die Studienanfänger eben nicht mehr die allgemeine hochschulische, wie persönliche Reife haben. „Die Kluft zwischen Schulergebnis und Anforderungen der Universitäten wird immer größer”, macht Günther deutlich.
Auch andere Bundesländer haben diesbezüglich „Riesen-Probleme” mit G8. Im SPD-geprägten Rheinland-Pfalz hätten nur 13 von 146 Gymnasien den G8-Antrag gestellt, die restlichen bleiben G9. Es sollen maximal 20km zur nächsten G9 Schule sein, damit die Eltern wählen können, wo sie ihr Kind einschulen lassen wollen.
Die Industrie, die sich früher lautstark für die Verkürzung der Schulzeit eingesetzt habe, wolle diese Forderung ebenfalls nicht mehr wiederholen: Persönlichkeit des Bewerbers, Kommunikationsfähigkeit, praktische und Auslandserfahrung seien nunmehr die maßgeblichen Kriterien, für nur 3% der Unternehmer ist die Dauer der schulisch-universitären Ausbildung wichtig — „Wir streiten uns also um 3%!” streicht Günther die Absurdität der Auseinandersetzung heraus.
Wenig Beachtung gerade bei den kommunalen Schulträgern habe die Frage der Schulkostenbeiträge für Gymnasiasten erfahren. Sie betragen für G9 z.Zt. 921 Euro im Jahr pro Schüler, die zur Schulerhaltung, Hausmeisterentlohnung, Energiekosten etc. zur Verfügung stehen. Für G8 würde sich der Schulkostenbeitrag auf 1036 Euro im Jahr pro Schüler erhöhen. Dies stelle gerade für die Kommunen im ländlichen Raum eine hohe Belastung dar, die einen hohen Anteil auswärtiger Schüler beschulen.
Plädoyer für ein neues G9-Modell — „Y++”
Doch was wäre zu tun, um G8 den Schrecken zu nehmen? „Lehrpläne entrümpeln” ist eine sehr beliebte, pauschale Forderung. Doch wenn es stimme, dass sich das Wissen der Welt alle fünf Jahre verdoppele, ist es dann überhaupt sinnvoll Lehrpläne zu kürzen, oder müßte man sich nicht sogar über die Erweiterung Gedanken machen, fragt Günther in seinen Vorträgen provokativ.
Das neue Schulgesetz biete mehrere Perspektiven: Eine ist, die Schulen entscheiden selber darüber, ob G9, G8 oder das Y – Modell angeboten wird. Zusammen mit seinem Kollegen Tim Schröder hat Reinhold Günther ein „Y++“-Modell entwickelt, das ohne weitere Gesetzesänderung zu bewerkstelligen sei. Dies hat Günther auch in einer Stellungnahme zum Gesetzgebungsverfahren dargelegt. Es kehre zu G9 als Standard zurück, eröffne aber die Möglichkeit einer optionalen Verkürzung der Oberstufe. Die nach G8 für die Sekundarstufe vorgesehene Stoffverdichtung solle damit für diejenigen Schüler, die wollen und können, in die Oberstufe verlagert werden. Ziel sei es, G8 zur Förderung der überdurschnittlich guten Schüler und nicht als überforderndes Pflichtprogramm für alle Schüler anzubieten. Danach sollen alle Schüler, egal ob G9 oder G8 bis zum Ende der 9. Klassenstufe gleich unterrichtet werden, der Nachmittag ausschließlich der gymnasialen Schulkultur, Musik, Sport, Kunst oder Hausaufgabenhilfe vorbehalten sein. Mitte der 9. Klasse setze man sich dann zusammen, um zu entscheiden, dass ein Kind in der Lage wäre, mehr Unterricht aufzunehmen und sich Ende der 10. Klasse für den direkten Aufstieg in die 12. Klasse zu qualifizieren.
Die zusätzlichen Stunden — an drei bzw. vier Tagen in der Woche jeweils zwei Stunden extra in 10. und 12. Klassenstufe — seien zumut- und durchführbar, kind-, eltern- und lehrergerecht, koste keinen Cent mehr, die Nachmittage blieben für die Schulkultur frei. Eine Überforderung der Jüngsten werde vermieden, eine kindgerechte Lernatmosphäre in Unter- und Mittelstufe wiederhergestellt, der Unterricht wieder effektiver, das Niveau des alten G9-Abiturs bleibe erhalten. Das Prinzip ist von der Schulgröße unabhängig, Schulwechsel werden wieder unkomplizierter ermöglicht, bei Nichtbestehen des „Turbo-Abiturs” könne das letzte Jahr in einer Klasse des folgenden dreijährigen Durchgangs wiederholt werden. Kommen an einer Schule nicht genügend Interessenten zusammen, kann das Bildungsministerium die schulübergreifende Zusammenfassung an einer Schule in zumutbarer Entfernung verfügen. Die Schulträger würden wegen des wegfallenden Nachmittagsunterrichts nicht mehr gezwungen, teure Schulmensen zu errichten.
Was G9-Befürworter von Schulfriedensaktivisten unterscheidet — Ein Kommentar
Während Günther in intensiver Recherche bislang nicht widerlegte Sachargumente zusammengetragen hat, die durchaus gewichtig scheinen, sie in zahlreichen Vorträgen erläuterte und konkrete Überlegungen dazu anstellte, wie man die gesetzliche Regelungen verbessern kann, hat die „Volksinitiative Schulfrieden” nach eigenen Angaben 25.000 Unterschriften gesammelt, und sie am Mittwoch Landtagspräsident Geerdts übergeben, mit dem Ziel, die vorgesehenen Änderungen am Schulgesetz auf Eis zu legen. „Verlässlichkeit” ist dabei gleichzeitig ihr einziges Argument wie Forderung an eine Koalition, die für die bestehende gesetzliche Regelung nicht verantwortlich war und diese auch nicht wollte. Eine Woche vor der geplanten Beschlussfassung des Landtages hat die Initiative dennoch mit dem Versuch der kurzfristigen Torpedierung des Gesetzgebungsverfahrens die Aufmerksamkeit der Opposition und damit der Medienöffentlichkeit sicher.
So erstaunt es nicht, dass Grünen-Fraktionschef Robert Habeck den Ball aufnahm und den Schulfrieden als „Alternative zum Schulgesetz von Union und FDP” lobte, um im Ältestenrat eine Verschiebung der zweiten Lesung in den Februar vorzuschlagen und bei Erfolglosigkeit die Beantragung der Absetzung des Tagesordnungspunktes anzudrohen. SPD-Bildungsexperte Henning Höppner rief die Koalition auf, „ihren Schulgesetzentwurf bis nach den vorgezogenen Neuwahlen auf Eis zu legen”, sprach von „Torschlusspanik” und bot an, „in den Fragen der Schulstruktur ein Moratorium zu beschließen.”
Erneut hat damit die „Dagegen-Politik” vorläufig die Oberhand gewonnen — ob sie im parlamentarischen Verfahren obsiegt, bleibt abzuwarten. Wieder einmal bewiesen ist vielmehr, dass die Gefahr für die Zukunft der Bildung im Land nicht zu unterschätzen ist. Wie sehr die Bildungspolitik in der feindlichen schleswig-holsteinischen Atmosphäre politischer Dogmen und Strategien bisher tatsächlich zerrieben wurde, wird wohl erst in einiger Zukunft offenbar. Dass die heutige Opposition tatsächlich von der Regierung verlangt, die Füße still zu halten, nachdem sie die Bildungspolitik im Lande selbst erst vor 4 Jahren auf den Kopf gestellt hat und während man im Hinterkopf bereits an der eigenen Regierungserklärung zur Bildungspolitik der kommenden Legislatur arbeitet, ist eine Auffassung von Demokratie die jeder Beschreibung spottet. Denn derartige Begrenzungen regierungspolitischen Handlungsspielraums, wie sie die Opposition fordert, ist der Demokratie fremd. Ob das links-oppositionelle Bestreben, durch die Zerschlagung von G9 die Gemeinschaftsschulen als Schulform der Wahl zu manifestieren, auf lange Sicht verhindert werden kann, bleibt ungewiß. Die Befürchtung, das Gymnasium könnte unter einer anders-farbigen Regierung zugunsten einer Einheitsschule mit einem Einheitslehrer fallen, wabert jedenfalls durchs Land, lähmt Schüler, Eltern, wie Lehrer. Ich bestreite keineswegs, dass die Bildungspolitik auf dem Rücken der Schüler ausgetragen wird. Das gilt umso mehr in einem politisch so sehr gespaltenen Land wie Schleswig-Holstein. Mag es für die Schüler Bayerns in der Vergangenheit womöglich doch nicht zum Nachteil gewesen sein, dass eine Partei so kontinuierlich lange hat allein regieren können?!?
Auf beiden Seiten beteiligten Bürgern — Eltern, Schülern, Lehrern — ist bei aller unterschiedlicher Meinung für das große Engagement zu danken, das beweist, das Schule für viele eben (noch) nicht bloße Abladestelle zur Erziehung und Wissensmästung der „Gören”, sondern gemeinsam gestaltete Brutstätte für ebenso engagierte, informierte und mündige Bürger von Morgen ist, die ihre Zukunft und die Zukunft unseres Landes in ihren zukünftig hoffentlich gut qualifizierten und gut bezahlten Händen halten. Ich mache aus meiner Hoffnung aber keinen Hehl, dass der G9-Demonstration am Samstag eine möglichst breite Beteiligung zuteil wird, die dem einen oder anderen Abgeordneten vielleicht doch noch zu denken gibt.
Verweise:
- Mehr zu G9jetzt!
- G9jetzt!: Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Landesregierung
- G9jetzt!: Information zum Vorschlag zur Lösung des G8/G9-Problems
- Reinhold Günther: Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Landesregierung
- Landesblog: An den Schulen
- Landesblog: Sind wir nicht alle ein bisschen 100 Prozent?
- Landesblog: Ein bisschen Frieden wäre klug
- Landesblog: Das Dilemma der Schulen — Zufall oder Kalkül
Bilder freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Reinhold Günther
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