Die Experten haben gesprochen und es an deutlicher Kritik nicht mangeln lassen. Nun liegt der Ball im Parlament, das bis Ende Mai ein neues, verfassungsgemäßes Wahlrecht schaffen muss. Der Landtag soll in seiner März-Tagung das neue Wahlrecht verabschieden.
Wer sich einen Rest an Idealismus (und Naivität) bewahrt hat, würde angesichts der vielfältigen und teils grundlegenden Kritik in der Ausschussanhörung vermuten, dass die Fraktionen nun in sich gehen, die Argumente wägend einen sachgerechten Kompromiss aushandeln. Neue Verhandlungen gibt es bislang allerdings nicht. Aber in den letzten Tagen haben Landtagspräsident Geerdts und die SPD-Fraktion mit öffentlichen Äußerungen die Debatte wieder in die Schlagzeilen gebracht.
Zeit für einen Blick in die Glaskugel: Kommt nun Bewegung in die Sache? Wo liegt Spielraum für Kompromisse? Was wird am Ende herauskommen? (für Eilige: Die Auflösung steht erst ganz am Ende)
Interessen der Parteien
Einigkeit besteht zwischen den Fraktionen allein darin, zukünftig Überhangmandate vollständig durch Ausgleichsmandate zu kompensieren, damit das Wahlrecht nie wieder die Wahlmehrheit zur Parlamentsminderheit macht. Die verbliebenen Hauptstreitpunkte sind die Zahl der Wahlkreise, Ein- oder Zweistimmenwahlrecht und der Wahltermin. Für weiterreichende Änderungen fehlen Zeit und politischer Wille. Und die übrigen Streitpunkte – Wahlrecht mit 16, Sitzzuteilung nach D’Hondt oder Sainte-Laguë, zulässige Abweichung der Wahlkreisgrößen – sind letztlich untergeordnete Verhandlungsmasse.
Wie viele Wahlkreise?
Paradoxerweise ist ein Kompromiss bei der Zahl der Wahlkreise gleichzeitig am leichtesten und am unwahrscheinlichsten. Grüne/SSW wollen nur 27, CDU/FDP 35 Wahlkreise statt bisher 40. Die SPD hat am Freitag 33 Wahlkreise und 34 Listenmandate vorgeschlagen, wodurch die Regelgröße des Landtages auf 67 Abgeordnete sinken würde. Weder 35 noch 33 Wahlkreise würden zukünftig extreme Aufblähungen des Landtages verhindern. Die Anzahl möglicher Überhangmandate würde zwar um fünf bzw. sieben im Vergleich zu den jetzt 40 Wahlkreisen sinken, der vorgesehene Vollausgleich durch Ausgleichsmandate würde diesen Effekt aber mehr oder minder aufwiegen, da jedes Überhangmandat regelmäßig mit zwei bis drei Ausgleichsmandaten ausbalanciert werden muss. Die Vorschläge von CDU/FDP/SPD sind, weil sie bewusst große Landtage in Kauf nehmen, nicht nur politisch fragwürdig, sie erfüllen auch die Vorgaben des Landesverfassungsgerichts nicht. Deshalb soll die Regelgröße von 69 Abgeordneten aus der Verfassung gestrichen werden, damit einem das Landesverfassungsgericht nicht noch einmal in die Suppe spucken kann.
Der politische Flurschaden wäre gleichwohl groß, wenn sich auch nach der kommenden Landtagswahl deutlich mehr als 69 Abgeordnete im Parlament tummeln. Wer dieses Risiko eingeht, muss starke widerstrebende Beweggründe haben. Mehr Abgeordnete heißt mehr Posten und mehr Geld für die Parteikasse. Dieses Motiv ist aber bei einzelnen Parteien unterschiedlich stark. Die Grünen können auf deutliche Stimmenzuwächse bei der nächsten Wahl rechnen, wegfallende Ausgleichsmandate werden mit regulären Mandaten ausgeglichen, man kann gelassen sein. Bei der CDU ist offen, ob sie besser abschneidet; ohne Überhangmandate drohen ein Drittel der jetzt 34 Mandate wegzubrechen. Noch düsterer sind die Aussichten der FDP: Sie könnte die Hälfte der Stimmen und, fallen keine Ausgleichsmandate an, bis zu zwei Drittel der Mandate einbüßen.
Am schwersten wiegt das Interesse der großen Parteien CDU und SPD an einer möglichst hohen Zahl von Wahlkreisen. Direktmandate bringen Prestige und politisches Kapital für Partei und erfolgreiche Kandidaten. Diese politische Ressource ist nur für CDU und SPD von Bedeutung, da (bis auf Weiteres) nur sie Direktmandate zu erringen in der Lage sind. Last but not least: Je weniger Wahlkreise es gibt, desto mehr Abgeordnete bzw. Kandidaten werden sich im Vorfeld in innerparteiliche Konkurrenzkämpfe begeben müssen, politische Claims werden völlig neu abgesteckt. Das wird zu Unruhe und vielen frustrierten Verlierern und entsprechend umkämpften Listenparteitagen führen. Jeder Wahlkreis mehr lässt ein wenig Druck aus dem Parteikessel. Da die Fraktions- auch die Parteivorsitzenden sind, wird klar, warum CDU und SPD an dieser Stelle mauern und Zuflucht zu der – argumentativ schwachbrüstigen, aber vereinzelt gestützten – Behauptung suchen, die Zahl von Direktmandaten dürfe von Verfassung wegen nicht kleiner als die der Listenmandate sein. Diese Strategie lässt wenig Raum für einen Kompromiss zwischen allen Parteien, der bei 30 bis 32 Wahlkreisen liegen könnte.
Wann wird gewählt?
Berücksichtigt man sowohl sachliche als auch taktische Erwägungen, wird die nächste Landtagswahl im Februar oder März 2012 stattfinden. Warum? Für die Streichung der Verfassungsvorgabe von 69 Abgeordneten braucht es eine 2/3-Mehrheit. Die SPD will das damit in ihren Händen liegende Erpressungspotenzial nutzen und hat ihre Zustimmung an die Einigung auf einen möglichst frühen Wahltermin geknüpft. Die SPD will im November 2011 wählen, Schwarzgelb erst im September 2012. Unüberbrückbar? Keineswegs: Die Landeswahlleiterin hat den Wunschtermin der SPD — 13.11.2011 — und auch den folgenden Sonntag rausgeschossen, weil dann die „stillen“ Feiertage Volkstrauertag und Totensonntag sind. Denkbar wäre zwar der 27.11., doch darauf wird sich Schwarzgelb schon aus Gründen der Gesichtswahrung nicht einlassen. Anschließend kommen Adventszeit und Weihnachtsferien, die sind für Wahlen tabu. Realistisch kommt damit ein Wahltermin erst ab Februar in Betracht.
Das Beharren der Regierungskoalition auf eine Wahl erst im August oder September kann man getrost als taktische Verhandlungsposition bezeichnen. Denn bei einem Wahltermin nach den Sommerferien müsste die Regierung als eine ihrer letzten Amtshandlungen vor den Sommerferien die Pflöcke für den nächsten Landeshaushalt einschlagen und all die schmerzhaften Einsparungen benennen, mit denen das strukturelle Haushaltsloch gestopft und der Pfad zur Einhaltung der Schuldenbremse eingehalten werden soll. Das würde im ohnehin absehbar schwierigen Wahlkampf der Regierungskoalition als zusätzliche Spaßbremse wirken. Da in den Sommerferien nicht gewählt werden kann und auch eine Konstituierung des Landtages in den Ferien untunlich ist, liegt ein Wahltermin später als Mai nicht im Interesse von CDU und FDP. Weil die SPD das weiß, wird sie sich einen früher gelegenen Wahltermin kaum abhandeln lassen. Damit bleibt ein Zeitkorridor Februar bis April 2011 übrig, wobei man noch die drei in den Osterferien liegenden Sonntage heraus rechnen muss und wohl auch noch die letzten beiden Aprilsonntage, um die heiße Wahlkampfphase aus den Osterferien herauszuhalten.
Weil man der Regierungskoalition offenbar jede Hinterhältigkeit zutraut, wollte die SPD den Wahltermin in die Verfassung aufnehmen. Die Verfassungsästheten haben bei der Anhörung die Nase gerümpft; und es war klar, dass CDU und FDP nicht mitmachen. Wenig überraschend ist die SPD nun von dieser Forderung abrückt, will eine andere Form verbindlicher Übereinkunft über den Wahltermin treffen.
Eine oder zwei Stimmen?
Die kleinen Parteien hängen am Zweistimmenwahlrecht, den großen ist es lästig, zumal sie – vermutlich irrig – glauben, dass mit der Zweistimme gesplittete Stimmen bei einer Rückkehr zum Einstimmenwahlrecht wieder bei Ihnen landen, bisherige Erststimmen- also zukünftige Zweitstimmenergebnisse werden.
Das Landesverfassungsgericht hat die Rückkehr zum Einstimmenwahlrecht ausdrücklich als einen Hebel zur Vermeidung von Überhangmandaten ins Spiel gebracht. Weil die großen Parteien an den Wahlkreisen und die kleinen Parteien am Zweistimmenwahlrecht hängen, bietet sich ein Tauschgeschäft an: CDU und SPD stimmen einer Reduzierung der Wahlkreise auf unter 35 zu, die kleinen Parteien sagen dem Zweistimmenwahlrecht Adieu. So auch der neueste Vorschlag der SPD.
Der Verlust der zweiten Stimme wäre wohl zu verschmerzen, wenn dadurch ein Wahlrechtskompromiss möglich wird. Zwar ermöglicht erst das Zweitstimmenwahlrecht eine echte Persönlichkeitswahl, weil der Wähler zwischen Kandidaten- und Parteistimme unterscheiden kann (das scheint CDU und SPD, die ständig Loblieder auf die Persönlichkeitswahl anstimmen, offenbar nicht zu interessieren). Das tatsächliche Wahlverhalten ist in dieser Hinsicht aber eher ernüchternd. Das Stimmensplitting ist meist taktisch motiviert mit dem Ziel, dem favorisierten politischen Lager zu Überhangmandaten zu verhelfen (nur weil CDU und FDP in den Wahlkreisen Flensburg und Plön-Nord beim Stimmensplitting effektiver waren als das rotgrüne Lager, hat die Regierungskoalition überhaupt eine Mehrheit im Landtag). Dieses Motiv fällt im zukünftigen Wahlrecht jedoch weg, weil Überhangmandate voll ausgeglichen werden. Und um die Persönlichkeitswahl zu stärken, gibt es bessere Instrumente, etwa das Panaschieren und Kumulieren.
Auszählen nach D’Hondt oder Sainte-Laguë?
Das Sitzzuteilungsverfahren nach D’Hondt bevorzugt einseitig große Parteien, deshalb finden SPD und CDU es gut. Doch es verstößt gegen das Prinzip der Erfolgsgleichheit aller Wählerstimmen. Das Landesverfassungsgericht hält das Verfahren deshalb für problematisch. Mit dem Sainte-Laguë-Verfahren steht eine bessere Alternative bereit. Sämtliche Experten auf der Wahlrechtsanhörung haben für den Abschied von D’Hondt plädiert, einer der Experten hat in einem sehr lesenswerten Beitrag noch einmal nachgelegt und die mandatsrelevanten Verzerrungen aufgezeigt, zu denen D’Hondt bei zurückliegenden Landtagswahlen geführt hat. Wenn Ausschussanhörungen irgendeinen Sinn haben sollen, und wenn SPD, CDU und FDP noch einen Funken Redlichkeit und politischer Glaubwürdigkeit für sich in Anspruch nehmen wollen, muss zukünftig nach dem Sainte-Laguë-Verfahren gewählt werden. Die SPD hat dies offenbar eingesehen und ist umgeschwenkt. Das hat nichts mit Entgegenkommen zu tun, sondern ist der einzige Weg, sich nicht der Lächerlichkeit preiszugeben.
Abweichung der Wahlkreisgröße
Etwas für Liebhaber des Wahlrechts ist die Frage, wie weit die Größe eines Wahlkreises von der mittleren Größe höchstens abweichen darf und ob Richtschnur die Gesamtbevölkerung oder die Zahl der Wahlberechtigten sein soll. Bislang sind 25 Prozent Abweichung erlaubt. Das Verfassungsgericht verlangt geringere Abweichungen, vorgeschlagen sind 15 und 20 Prozent. Elementare politische Interessen der Parteien sind von dieser Frage nicht betroffen, die Neuzuschneidung der Wahlkreise ist aber umso einfacher, je größer der Abweichungskorridor ist. Man wird sich deshalb auf eine 20-Prozent-Grenze einigen.
Wählen schon mit 16?
Die SPD möchte Jugendliche mit 16 an die Wahlurnen lassen, Grüne, SSW und Linke sind auch dafür. Bei CDU und FDP stößt man auf taube Ohren, gerade die CDU fürchtet wohl, dass die Jugendlichen unterproportional konservativ wählen würden. Die Forderung wird deshalb aller Voraussicht nach unter den Tisch fallen, zumal sie nichts mit den Entscheidungen des Landesverfassungsgerichts zu tun hat und für ein verfassungsgemäßes Wahlrecht irrelevant ist.
Was kommt am Ende raus?
Der Landtagspräsident bietet sich weiter als Vermittler an und wünscht sich einen Wahlrechtskonsens. Es wird sicher weitere Verhandlungen geben. Allerdings hat der Präsident sich in seinem letzten Interview für ein Gleichgewicht von Direkt- und Listenmandaten und gegen eine Koppelung von Wahlrechtsreform und Festlegung des Wahltermins ausgesprochen. Damit hat er in zwei zentralen Punkten Partei ergriffen und wird kaum noch als „ehrlicher Makler“ zwischen den Landtagsfraktionen agieren können. Ein Konsens wird damit noch unwahrscheinlicher, als er aufgrund der taktischen Ausgangslage und dem Stand der politischen Kultur in Schleswig-Holstein ohnehin schon ist.
Was folgt aus alledem? Es zeichnen sich drei denkbare Szenarien ab:
Szenario 1: Die Belgien-Koalition
Die Konsensbemühungen scheitern, insbesondere weil eine Einigung über die Zahl der Wahlkreise einen echten Kompromiss voraussetzen würde, zu dem SPD und CDU augenscheinlich nicht bereit sind. Schwarzgelbrot einigt sich auf Folgendes: 34 bis 35 Wahlkreise, Streichen der Regelgröße 69 aus der Verfassung, Wahltermin Februar/März 2012, Sainte-Laguë-Verfahren, Abweichung der Wahlkreisgrößen max. 20 Prozent, Wahlalter 18; offen: Ein- oder Zweistimmenwahlrecht (je nach Durchsetzungsvermögen der FDP, Tendenz: Zweistimmenwahlrecht).
Wahrscheinlichkeit: hoch
Szenario 2: Konsens
Alle (evt. außer Linke-Fraktion) einigen sich auf: 30 bis 32 Wahlkreise, Streichen der Regelgröße 69 aus der Verfassung (und ggf. auf Klarstellung, dass es weniger Direkt- als Listenmandate geben darf), Wahltermin Februar/März 2012, Sainte-Laguë-Verfahren, Abweichung der Wahlkreisgrößen max. 20 Prozent, Wahlalter 18, Einstimmenwahlrecht.
Wahrscheinlichkeit: gering
Szenario 3: Jamaika plus SSW
Pokert die SPD beim Wahltermin zu hoch, um unbedingt noch 2011 wählen zu können, ist auch noch die Konstellation denkbar, bei der Schwarzgelb die Grünen und den SSW ins Boot holt (das reicht für eine verfassungsändernde Mehrheit). Ergebnis könnte ein Wahlrecht wie im Szenario 2 sein. Da die SPD aber jüngst Kompromissbereitschaft beim Wahltermin signalisiert hat, gilt:
Wahrscheinlichkeit: sehr gering
Besonders bei den Szenarien 2 und 3 ist noch denkbar, dass man den Kompromiss ausdrücklich als Übergangswahlrecht bezeichnet und damit gegen Kritik abschirmt. Gleichzeitig könnte man für die nächste Wahlperiode die Einrichtung einer Enquetekommission vereinbaren, die sich mit den Umbrüchen im Parteiensystem und Möglichkeiten für mehr Transparenz und direkte Einflussmöglichkeiten der Wählerinnen und Wähler befasst.
Fazit: Der Landtag ist drauf und dran, die Chance zu einem breit getragenen, substanziell verbesserten und vom Wahlvolk akzeptierten Wahlrecht zu verspielen. Dann bekäme Schleswig-Holstein ein Wahlrecht, das über kurz oder lang wieder zu einem stark aufgeblähten Landtag führt, weshalb über kurz oder lang das Wahlrecht zwar nicht verfassungsrechtlich, aber politisch wieder auf der Tagesordnung stehen wird.
Ich hoffe, dass zumindest die Prognose eines Wahltermins im Februar oder März nicht eintritt. Mit den üblichen 6 Wochen Vorlauf eines Landtagswahlkampfs hieße das wieder im Winter zu plakatieren, in den Fußgängerzonen zu wahlkämpfen und bei Wind und Wetter Infomaterial zu verteilen. Ich dachte, das hätten wir endlich hinter uns gelassen.
Vielleicht sollten alle Parteien mal nicht nur an die Diäten der Abgeordneten und taktische Spielereien denken, sondern auch daran, dass die einfachen Parteimitglieder von der Basis dann wohl bei Wetterverhältnissen wie jetzt – oder schlimmer noch bei Temperaturen um die Null Grad, Wind und Eisregen in den Fußgängerzonen stehen. Völlig merkbefreit diese Idee.
In der Zeit zwischen November und April sollten eigentlich keine Wahltermine liegen. Wenn man sich also nicht auf einen Termin bis Ende Oktober 2011 einigen kann, dann sollten man besser auch mit keinem vor Mai 2012 um die Ecke kommen. Aber wahrscheinlich ist bei diesem Thema eh schon jede Vernunft aller Beteiligten ausgeschaltet und es geht nur noch darum, um jeden Preis die Terminfrage zu „gewinnen”.
Wolfgang Kubicki hatte bei seinem Gespräch mit Ralf Stegner (http://www.youtube.com/watch?v=P586EPuuM3E#t=3m10s) März/April 2012 als (frühest)möglichen Termin genannt.
Das macht’s nicht wirklich besser. Vor Mai ist Moppelkotze.