Am Freitag dieser Woche will der Wahlkreisausschuss abschließend über letzte Abgrenzungsdetails der 35 Landtagswahlkreise befinden. Bereits in der letzten Woche hat der Ausschuss grundsätzlich über die Wahlkreiskulisse abgestimmt, was bei SPD, Grünen und Linkspartei, aber auch in der Presse zu heftiger Kritik geführt hat. Mit einem Dringlichkeitsantrag hat die SPD-Fraktion im Landtag versucht, im letzten Moment wieder Bewegung in die Diskussion zu bringen. Der Landtag hat die Befassung jedoch abgelehnt.
Im Landesblog haben wir kritisiert, dass es der Öffentlichkeit mangels Veröffentlichung der verschiedenen Vorschläge kaum möglich ist, sich in dieser wichtigen Frage ein eigenes Urteil zu bilden, bevor eine abschließende Entscheidung gefallen ist.
Dem soll mit diesem Artikel abgeholfen werden. Neben den rechtlichen Vorgaben und den Interessen der politischen Akteure werden die einzelnen Vorschläge für die Wahlkreisgrenzen dargestellt und bewertet. Auf geht’s.
Warum müssen die Wahlkreise neu geschnitten werden?
Es gibt zwei Gründe für die Neuzuschneidung: Der Landtag hat im März die Reduzierung der Wahlkreise von 40 auf 35 beschlossen, fünf Wahlkreise müssen also wegfallen. Außerdem darf die Größe der Wahlkreise (gemessen an der Bevölkerung) nicht mehr als 20 Prozent von der Durchschnittsgröße abweichen. Das ist in § 16 LWahlG geregelt, in dem sich auch die Kriterien finden, nach denen die Wahlkreisgrenzen zu ziehen sind:
§ 16
Wahlkreise
(1) Das Land wird in 35 Wahlkreise eingeteilt.
(2) Die Wahlkreise sind so zu begrenzen, dass sie unter Berücksichtigung der folgenden
Grundsätze möglichst gleiche Bevölkerungszahlen aufweisen:
1. Sie müssen ein zusammenhängendes Ganzes bilden;
2. sie sollen auch im Hinblick auf die Bevölkerungsentwicklung möglichst beständig sein;
3. Gemeindegrenzen sollen nur ausnahmsweise durchschnitten werden;
4. örtliche Zusammenhänge sind nach Möglichkeit zu wahren.
(3) Die Bevölkerungszahl eines Wahlkreises darf nicht mehr als 20 v. H. von der
durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise abweichen. (…)
Beide Änderungen gehen auf die Entscheidungen des Landesverfassungsgerichts im August 2010 zurück, mit denen das geltende Wahlrecht für verfassungswidrig erklärt worden war.
Warum sind möglichst gleich große Wahlkreise wichtig?
Denn die Frage der erlaubten maximalen Abweichung hat auch einen verfassungsrechtlichen Hintergrund: Bezogen auf die Gleichheit der Wahl macht es einen Unterschied, wie viele Wähler sich einen Wahlkreisabgeordneten „teilen“ müssen, bzw. wie viel Gewicht der eigenen Stimme bei dieser Wahl zukommt: Je kleiner der Wahlkreis, desto größer der Einfluss der Erststimme.
Das Landesverfassungsgericht hat die alte Regelung, die 25 Prozent Abweichung erlaubte, auch aus einem anderem Grund kritisiert: „Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Partei mit vergleichsweise wenigen Erststimmen einen Wahlkreis gewinnt, hängt nicht zuletzt von der Größe dieses Wahlkreises im Vergleich zu den anderen Wahlkreisen ab (…) [Es] wäre eine maximale Abweichung vom größten Wahlkreis von lediglich 15 v.H. zu den anderen Wahlkreisen anzustreben. (…)
Außerdem problematisierte das Landesverfassungsgericht die Orientierung des LWahlG an der Gesamt- statt an der Wahlbevölkerung: „Die Gefahr von Überhangmandaten ließe sich hier reduzieren, wenn nur auf die Wahlberechtigten abgestellt wird.“
Die Landtagsmehrheit machte hier wie auch sonst bei der Wahlrechtsreform nur halbe Sachen: Statt auf 15 Prozent wurde die maximale Abweichung nur auf 20 Prozent abgesenkt, und Maßstab bleibt weiterhin die Gesamtbevölkerung. Das ist nicht gut. Zwar sorgt der im neuen Wahlrecht vorgesehene volle Ausgleich von Überhangmandaten dafür, dass die Größe der Wahlkreise die Kräfteverhältnisse im Landtag nicht mehr verzerren kann. Die Größenabweichungen bleiben aber wichtig für die Frage, wie stark der Landtag durch Überhang- und Ausgleichsmandate (unnötig) aufgebläht wird.
Welche Interessen haben die Parteien?
Für die großen Parteien CDU und SPD geht es beim Zuschneiden der Wahlkreise um das politische Kapital und Prestige, das für die Parteien und die einzelnen Abgeordneten mit direkt gewonnen Wahlkreisen verbunden ist. Deshalb wünschen sie sich möglichst viele Wahlkreise dort, wo sie am stärksten sind. Der SSW gewinnt zwar keine Direktmandate, möchte aber sein Stammgebiet im Norden und im Westen von Schleswig-Holstein möglichst stark im Landtag vertreten wissen. Partei- und regionalpolitische Interessen (Stadt gegen Land, West- gegen Ostküste) gehen ineinander über.
Der Vorschlag der Landeswahlleiterin
Die Landeswahlleiterin hatte dem Wahlkreisausschuss einen Vorschlag präsentiert: Die Kreise Nordfriesland, Dithmarschen, Rendsburg-Eckernförde, Ostholstein und Lauenburg würden je einen Wahlkreis verlieren, wie man — mit etwas Mühe — aus dieser Karte ablesen kann. Sieben Wahlkreise haben nach diesem Vorschlag eine Abweichung von mehr als 15 Prozent, große und kleine Wahlkreise sind bunt über Stadt, Land und Regionen verteilt. Die durchschnittliche Abweichung beträgt 9,3 Prozent — ein akzeptabler Wert. Der Vorschlag der Landeswahlleiterin entspricht sowohl den Vorgaben des § 16 Abs. 2 LWahlG als auch den verfassungsrechtlichen Vorgaben gut. Der Vorschlag kann mit Recht als ausgewogen gelten. Keine Landsmannschaft, keine Partei wird einseitig aus Gründen, die keinen gesetzlichen Rückhalt haben, benachteiligt. Politisch gesehen tut er der CDU am meisten weh: In Nordfriesland, Dithmarschen und Lauenburg gingen drei traditionell von der CDU gewonnene Wahlkreise verloren, und auch die restlichen wegfallenden Wahlkreise hat die CDU 2009 direkt gewonnen.
Die bisherige Aufteilung der Wahlkreise kann hier (PDF-Dokument) nachgelesen werden.
Was hat die Ausschussmehrheit beschlossen?
Eine Mehrheit aus CDU, FDP und SSW und (sic!) der Landeswahlleiterin hat im Wahlkreisausschuss indessen eine andere Wahlkreiskulisse beschlossen. Man sollte meinen, dass dieser Vorschlag deshalb Erfolg hatte, weil er die (verfassungs)rechtlichen Vorgaben und regionalpolitischen Gesichtspunkte noch besser umsetzt. Wenigstens sollte man erwarten können, dass der Mehrheitsvorschlag zwar den politischen Interessen der Mehrheitsparteien besser Rechnung trägt, die gesetzlichen Vorgaben aber jedenfalls nicht schlechter umsetzt als der Vorschlag der Landeswahlleiterin. Man ahnt es: Nichts davon ist der Fall.
Die wesentlichen Unterschiede des Mehrheitsbeschlusses: Dithmarschen/Steinburg behält in diesem Modell alle vier Wahlkreise (die alle mehr als 15 Prozent nach unten vom Durchschnitt abweichen), stattdessen verliert Lübeck einen von drei Wahlkreisen. Neben der regionalen Verteilung mutet die ebenfalls abweichende konkrete Grenzziehung, vorsichtig formuliert, merkwürdig an. Die Kreisstadt Eutin soll dem Wahlkreis Plön-Süd, die Nachbarstadt Malente Plön-Nord zugeschustert werden, zum Ausgleich soll die gerade erst gegründete Gemeinde Schwentinental auseinandergerissen werden.
Statt sieben gibt es nun zwölf (also mehr als ein Drittel) Wahlkreise mit einer verfassungsrechtlich kritischen Abweichung von über 15 Prozent, die Durchschnittsabweichung ist ebenfalls höher. Außerdem werden entgegen § 16 Abs. 2 Nr. 3 LWahlG zweimal Gemeindegrenzen durchschnitten, nämlich in Lübeck und in Schwentinental. Und im Westen des Landes, also dort, wo traditionell CDU-Kandidaten reüssieren, gibt es nun eine auffällige Häufung kleiner Wahlkreise, im östlichen Holstein viele große Wahlkreise. Ziemlich kühn, diesen Vorschlag als den regional ausgewogeneren zu präsentieren.
In Lübeck und Ostholstein hat der Beschluss folgerichtig erhebliche Empörung ausgelöst, auch CDU-MdLs, -Lokalpolitiker und -Landräte aus der Region sind not amused.
Man muss nun, wie SPD und Grüne es tun, nicht gleich „Rache an Lübeck“ für deren Uni-Proteste oder wahltaktisches Feintuning zugunsten passgenauer „schwarzer“ Plöner Wahlkreise vermuten. Dennoch ist es erstaunlich, wie unverhohlen die CDU-Fraktion die Grenzziehung (fast) rein politisch rechtfertigt: Der CDU gehe es um viele Wahlkreise in CDU-Stammgebieten, der SPD um den Schutz ihrer Hochburgen, jeder müsse Federn lassen, also sei der Vorschlag nicht nur rechtlich zulässig (was niemand bezweifelt), sondern ausgewogen und fair. Fast schon rührend ist in Zeiten von Email, Telefon, Individualverkehr und ÖPNV das weitere, vorgeschobene Argument der CDU, nur der Mehrheitsvorschlag ermögliche, dass auch in den Flächenkreisen noch ein zuständiger Abgeordneter in erreichbarer Nähe ist (was zudem offenbar nur an der Westküste, nicht aber in Ostholstein ein Problem ist, wo man große Wahlkreise klaglos hinnimmt). Besonders bigott bemerkenswert ist, dass auch der SSW seine Zustimmung zum Mehrheitsvorschlag mit der nötigen Verhinderung zu großer Wahlkreise rechtfertigt, wollte der SSW doch die Zahl der Wahlkreise ursprünglich sogar auf nur noch 27 reduzieren.
Entscheidendes Kriterium der Ausgewogenheit ist für die CDU erkennbar weder die Frage, ob die Abweichungen vom der mittleren Wahlkreisgröße möglichst gering sind und die übrigen gesetzlichen Vorgaben möglichst genau beachtet wurden, sondern allein, ob die wegfallenden Wahlkreise die parteipolitischen Interessen ausbalancieren. Nur: Dieses Kriterium sieht das Gesetz nicht vor. Dass die politischen Interessen aller Parteien in der Diskussion trotzdem eine Rolle spielen, versteht sich von selbst. Dass diese Interessen die Mehrheitsentscheidung des Wahlkreisausschuss zu Lasten der gesetzlichen Ziele maßgeblich bestimmt haben, ist höchst unerfreulich.
Vorläufiges Fazit: Eine sachlich schlechtere Lösung dem sachlich besseren Vorschlag vorzuziehen, um einen politischen Vorteil für die eigene Partei und die eigene Klientel zu erreichen — das ist wohl die Definition schlechter Politik. Und Schleswig-Holstein scheint entschlossen, wieder einmal mit schlechtem Beispiel voranzugehen.
Habe ich das korrekt verstanden? Die Landeswahlleiterin macht einen Vorschlag, aber stimmt noch nicht einmal selbst dafür?
ja, das ist korrekt. Zum Thema Ausgewogenheit: Lübeck 210.000 Einwohner, 2 Wahlkreise, Schleswig-Flensburg, 200.000 Einwohner, 3 Wahlkreise.
Was ist der Aufreger? Zumindest die älteren Kollegen haben mir versichert, dass früher im Wahlkreisausschuss einstimmig abgestimmt wurde. Was wird denn nach der Volkszählung passieren? Wir (bzw meine Nachfolger) werden wieder neu schneiden müssen, da zumindest in SL-FL man eh schon an der unteren Grenze ist.
und ich dachte, dass Gerrymandering in Deutschland nicht so stark auftritt.
http://de.wikipedia.org/wiki/Gerrymandering