Birt Acres ist ein englischer Filmpionier des ausgehenden 19ten Jahrhunderts, für den das Medium Film eher ein Instrument für wissenschaftliche Arbeiten als ein Unterhaltungsmedium war — was ihn nicht daran hinderte, kommerziell nutzbare Filmkameras und Schmalfilmkameras für den Hausgebrauch zu entwickeln und darüber pleite zu gehen. Am 21. Juni 1895 war er in Kiel und filmte die Eröffnung des Kaiser-Wilhelm-Kanals in Kiel. Der Filmstreifen Opening of the Kiel Canal gilt als älteste Filmaufnahme Deutschlands. Eine Kopie davon liegt im Landesarchiv in Schleswig.
Birt Acres hat sich getäuscht: Filme dienen heute in erster Linie der Unterhaltung. Landesarchive sind in unserer Wahrnehmung ebenfalls Instrumente für wissenschaftliche Arbeiten, keine Unterhaltungsmedien. Landesarchive sind, das ist nicht zu leugnen, nur in Maßen unterhaltsam. Das ist aber nicht schlimm. Denn sie sind ein notwendiger, unverzichtbarer Bestandteil unserer Gesellschaft. Sie sind das wohlsortierte kulturelle, gesellschaftliche und rechtsstaatliche Gedächtnis und schaffen damit die Plätze, an denen spätere Generationen Geschichte erforschen. Sie sind kein zu verspöttelnder Tummelplatz für Ortschronistinnen oder der netterweise vorhandene Übungsort für angehende Historiker. Selbst der Verlust von Archivmaterial ist wieder etwa Archivwürdiges: Verheerende Brände, Pestepidemien, verbrannte Erde hinterlassende sterbende Diktaturen oder zweite Weltkriege schaffen Lücken. Lücken, die sich nicht und nie wieder schließen lassen: Eine nicht widerrufbare Amnesie. Quod non est in actis, non est in mundo (Was nicht in den Akten ist, ist nicht in der Welt). Archive müssen also sein. Und das Wissen um das „sein-müssen” muss bewusst sein.
Im Gespräch mit der shz kündigte Rainer Hering, Direktor des Landesarchivs Schleswig-Holstein, vor einigen Wochen an, dass er verstanden hat: Archive sind nicht sexy, aber man kann sie bekannter machen, man kann, etwa mit Ausstellungen und Veröffentlichungen, für ihre Aufgabe werben.
Dass das bitte nötig ist, wissen wir spätestens seit der Antwort der Landesregierung auf die große Anfrage der SSW über „Das Schleswig-Holsteinische Archivwesen“. Auf 19 schlanken Seiten beschreibt sie ein Desaster: Ohne Archive hat unsere öffentliche Gesellschaft kein Gedächtnis. Sie sind also nicht beliebig, kein „nice to have“, keine Einsparmasse. Dennoch wurden 30 Prozent des Personalbudget in den letzten 10 Jahren eingespart. Nach Auffassung der Landesregierung gibt das „Anlass zur Überprüfung des Aufgabenkanons und der Aufgabenerledigung“. 3 Kreise (Segeberg, Rendsburg-Eckernförde und Ostholstein) besitzen kein Archiv, 9 Städte, 43 Ämter und 10 Gemeinden ebenfalls. Peinliche 32 Prozent der Kommunen haben keine “Archivlösung“. Nebenbei: Archive sind keine rechtsfreien Räume – die Kreise sind gehalten, Archive zu führen. Immerhin: 129 selbständige kommunale Archive gibt es. Das Landesarchiv berät 27 kommunale Archive – gegen Geld. Es fehlt an allen Ecken und Enden, nur 2 Kreisarchive können kreisangehörigen Kommunen Beratungsverträge anbieten, überwiegend sind sie personell nicht der Lage, weitergehende Unterstützung zu leisten. Dabei mangelt es nicht an Nachfrage: Das Auftragvolumen des Jahres 1999 von 28.000 (analogen) Kopien hat sich bis 2009 fast verdreifacht: 80.700 (analoge und digitale) Kopien. Scanner und Personal sind täglich 10 Stunden im Einsatz, dennoch kommt es zum Teil zu monatelangen Wartezeiten. Auch wenn Regionalgeschichte nicht verbindlich im Lehrplan vorgeschrieben ist, so soll es dennoch möglich sein, mit authentischen Geschichtsquellen zu arbeiten – ausgenommen vielleicht in geschichtslosen Gegenden, wo Kommunalpolitiker entschieden haben, ohne Archive auszukommen. Gegenden mitten in Europa in denen die Gefahr besteht, dass Lücken in unsere jüngere Geschichte gerissen werden.
Zaghafte, digitale Pflanzen, die noch mehr Aufmerksamkeit und Werbung verdient haben, wachsen (noch) im Verborgenen: Das virtuelle Museum zeigt die Geschichte der deutsch-dänischen Grenzregion von 1830 bis heute. Das Landesarchiv lebt beispielhaft „open-access“ vor: Es ist die erste Behörde im Land Schleswig-Holstein, die ihre wissenschaftlichen Publikationen online frei zugänglich anbietet. 8 Titel sind in den letzten vier Jahren veröffentlicht worden.
Gestern Abend ist der neunte Titel, zugleich der 100ste Band der Veröffentlichungen des Landesarchivs Schleswig-Holstein hinzukommen: Auf 500 Seiten, für Archivare ist das ein „kompaktes Nachschlagewerk“, stellt der Archivführer Schleswig-Holstein etwa 150 amtliche und öffentlich zugängliche Archive der Kommunen, der Kirchen, des Landes sowie einiger privater Träger vor. Nach 15 Jahren gibt es wieder einen aktuellen Überblick über Archive in Schleswig-Holstein. Das Werk beschreibt die Geschichte des Archivs und gibt eine Übersicht über die archivierten Unterlagen mit Angaben zu Umfang und Laufzeit. Es hält Angaben zu Adressen, Öffnungszeiten, Ansprechpartnerinnen und -partnern, Internetauftritt und Findmitteln bereit, stellt die technische Ausstattung vor. Das Schöne: Die Übersicht über die Bestände der Archive gibt es auch online oder zum download als EPUB, mobi oder pdf. Als Buch (ISBN 978 – 3-937816 – 83-8) kann man es für 34,80 € kaufen. Natürlich fehlen noch Dinge, konnten Landesarchivar Professor Rainer Hering, die Kieler Stadtarchivarin Jutta Briel und Dr. Annette Göhres, die Leiterin des Nordelbischen Kirchenarchives bei der Vorstellung des Buches berichten: Eine Online-Recherche etwa, oder die vielen in den Archiven der gerade im Umbruch befindlichen Kirchenkreise lagernden Bestände unser kulturelles Gedächtnisses.
Der Weg bis zum Archiv, das nah bei mir ist, weil ich es von überall via Internet erreichen und durchsuchen kann, ist noch lang und – so wird es sein: – teuer. Knapp ist nicht die Ressource Personal, knapp ist nicht die Ressource Nachfrage. Knapp ist nicht das Aufbewahrenswerte. Knapp ist das Geld. Archive bieten sich an, jenseits vom Pepita der Land- Kreis-, Amts-, Gemeindestruktur effizient und kostengünstig aufgestellt zu werden. Vielleicht kann Digitalisierung und Internet helfen, aus dieser Not ein wenig eine Tugend machen. Archive werden dadurch nicht sexy. Aber näher.
Dafür brauchen sie öffentliches Gehör. Die Vorstellung des Archivführers garnierte der Landesarchivar mit einer Lesung aus den Kriminalromanen des Autors und Historikers Christian von Dithfurth (der Autor selbst musste kurzfristig durch Krankheit absagen, dafür las ein Schauspieler aus dem Kieler Ensemble), dessen leicht paranoider Held Joseph Maria Stachelmann, ein Historiker, als Amateurdetektiv das spannende, packende und endlich falllösende in Archiven findet. Auch das macht Archive nicht sexy. Aber bekannter — und das ist gut so.