Um Schleswig-Holsteins finanzielle Lage steht es schlecht. Der Anteil der sogenannten freiwilligen Leistungen im Landeshaushalt lag schon 1998 unter 5% der Gesamtausgaben. Der Rest ist verplant oder durch das Land nicht oder nur kaum beeinflussbar – für Löhne, Gehälter, Pensionen, Pflichtzahlungen und vor allem für eines: Zinsen.
Zur Zeit belaufen sie sich auf 1 Milliarde Euro im Jahr, 2020 werden es schon 1,7 Milliarden Euro pro Jahr sein. Der Schuldenberg, den das Land angehäuft hat, beträgt heute 27 Milliarden Euro, er erhöht sich bis 2020 auf wenigstens 33 Milliarden Euro.
1975 gab das Land für Vergangenheitslasten (Schulden, Pensionen…) 15% seiner Steuereinnahmen aus, heute sind es mehr als ein Drittel, 2020 werden es schon über 40% sein.
In dieser Situation soll nun eine Schuldenbremse für Abhilfe sorgen. Bis zum Jahr 2020 müssen die Länder ihre strukturelle Neuverschuldung auf Null runterfahren. Danach dürfen sie nur noch Konjunktur-Dellen mit Krediten ausgleichen (die sie im Aufschwung wieder zurückzahlen müssen) oder in absoluten Notlagen Kredite aufnehmen.
Doch die Bremse, die gerade erst von allen Parteien (außer den Linken) in der Landesverfassung verankert wurde, steht schon wieder zur Debatte. Erst kürzlich hat Thorsten Albig, Spitzenkandidat der Nord-SPD bei den Landtagswahlen am 6. Mai 2012, in einem Interview mit der Rheinischen Post gefordert, die Debatte über die Schuldenbremse neu zu führen. Damit stellte er den Sinn eines (Neu)verschuldungsstopps ebenso in Frage wie er sich verfassungsrechtlich weit vor wagt. Ein guter Grund für den Landesblog, dieses Thema in seine Einzelheiten aufzulösen.
Defizite — seit eh und je
Seit Jahrzehnte wird der Anstieg der Schulden wortreich beklagt. 1983, ältere Haushaltsdebatten stellt das Landtagsinformationssystem digital nicht zur Verfügung, sagte der damalige Finanzminister Roger Asmussen, dass der „schrittweise Abbau der Neuverschuldung“ ein wesentlicher Schwerpunkt der damaligen Landesregierung sei. Tatsächlich aber war und ist der Schuldenstand des Landes seit jeher ein verlässlicher Wachstumsbereich:
Quelle: Statistische Jahrbücher 2010/11, 2005/06, „Erfolgsrechnung“ der Regierung.
Die Beträge sind Millionen Euro (5.000 entsprechen also 5 Milliarden Euro)
Auf der schiefen Ebene
Im Jahr 2006 zog Professor Helmut Seitz, Finanzwissenschaftler an der TU Dresden, in einem im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung erstellten Gutachten zur „Haushaltspolitischen Lage und Perspektive des Landes Schleswig-Holstein“ eine vernichtende Bilanz: „Der Landeshaushalt (verfügt) über keinerlei Risikoabsorptionsfähigkeit mehr. Erneute Einbrüche bei den Steuereinnahmen und/oder zusätzliche unabwendbare Ausgabenlasten würden das Land in eine extreme Haushaltsnotlage bringen, sofern nicht zügig und massiv finanzpolitisch umgesteuert wird“. Die Folgekosten der Vergangenheit schränkten die Gestaltungsmöglichkeit in der Zukunft mehr und mehr ein: „Während 1975 nahezu die Hälfte der Einnahmen für zukunftsorientierte Investitionen in Infrastruktur- und Humankapital gelenkt wurde, und lediglich circa 15% zur „Vergangenheitsbewältigung“ genutzt wurden, so werden heute weniger als 30% der Einnahmen für die Zukunftsorientierung aufgewendet, während die Zins- und Pensionslasten zwischenzeitlich mehr als 25% der Einnahmen absorbieren“.
Die Finanzkrise 2007 belegte erschreckend eindrucksvoll die mangelnde „Risikoabsorptionsfähigkeit“ der öffentlichen Haushalte: Die notwendigen Gegenmaßnahmen führten zu einem weiteren steilen Anstieg der Verschuldung, zugleich brachen Einnahmen in einem in der Geschichte des Landes einmaligen Umfang weg. Die im Gutachten angekündigte Haushaltsnotlage für Schleswig-Holstein scheint sich, wie jüngst der Stabilitätsrat befand, trotz aller Mühen der aktuellen Landesregierung, zu bestätigen.
Letzte Ausfahrt
In den Verfassungen der Länder und des Bundes wurde seit Ende der 1960er Jahre hinweg die Höhe der Kredite, die ein Land aufnehmen durfte, an die Höhe der Ausgaben für Investitionen gekoppelt. Bei einer „Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ durfte man davon noch oben hin abweichen.
Dieser Nettoneuverschuldungsgrenze lag die Annahme zugrunde, dass Investitionen etwas Werthaltiges sind, weshalb man in ihrer Höhe auch Kredite aufnehmen dürfe. Die Belastungen durch die (höheren) Schulden gleichen sich mit den Vorteilen durch die öffentlichen Investitionen generationenübergreifend aus. In der praktischen Umsetzung versagte die Regelung aus vielerlei Gründen:
- Mit einmaligen Investitionen sind häufig dauerhafte (konsumtive) Folgekosten verbunden.
- Der Begriff der Investition ist für öffentliche Haushalte, die Abschreibungen nicht kennen, Inventar nicht ausweisen, Privatisierungserlöse nicht gegenrechnen und die Bewertung von Vermögen und Schulden mangels Bilanzierung unterlassen, zu ungenau.
- Verzögert sich eine etatisierte Investitionen, können Kredite gleichwohl aufgenommen wurden.
- In „guten“ Zeiten wurde nicht Schulden getilgt, sondern die Ausgaben erhöht oder Steuern gesenkt.
- Folgekosten der angehäuften Schulden werden vernachlässigt
- Die „Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ war so schwammig formuliert, dass sie in den letzten Jahren zum Normalfall wurde.
Da der Kurs in eine Sackgasse geführt hatte, wurde das bisherige Paradigma verworfen und neu definiert. Unter dem Eindruck der Finanzkrise beschlossen Bund und Länder 2009 eine Schuldenbremse — eine verfassungsrechtliche Regelung, die Bund und Ländern verbindliche Vorgaben zur stufenweisen Verminderung des Haushaltsdefizits macht. Der Bund muss ab 2016 grundsätzlich ohne neue strukturelle (das sind: nicht konjunkturbedingte) Kredite auskommen. 2020 soll dann auch für die Länderhaushalte Schluss mit der strukturellen Neuverschuldung sein. Konjunkturelle Dellen dürfen in einem engen Rahmen durch Kredite ausgeglichen werden. Naturkatastrophen und außergewöhnliche Notsituationen lassen Ausnahmen zu. Schleswig-Holstein nahm im Mai 2010, zur Finanzkrise hatte sich die Eurokrise gesellt, eine dem Bund vergleichbare, im Detail strengere, Regelung in die Artikel 53 und 59a seiner Verfassung auf .
Teufel versus Beelzebub?
Nun ist die Einführung der Schuldenbremse nicht ohne Kritik geblieben. Insbesondere von der Teilen der Linken, der Gewerkschaften sowie ihnen nahestehenden Volkswirtschaftlern (Exemplarisch die Kritik von Prof. Peter Bofinger) wurde die Schuldenbremse als Zukunftsbremse abgetan. Die teilweise sehr fundamental vorgetragene Kritik kann mich im Ergebnis nicht überzeugen:
- Sie unterstellt ein antizyklisches Verhalten des Staates, das so nie stattgefunden hat.
- Die Tatsache, dass der faktisch widerstandlos wachsende Verschuldensstand die notwendigen Spielräume zur aktiven politischen Gestaltung weiter und weiter einengt, wird vernachlässigt.
- Die unterstellten Interdependenzen öffentlicher Haushalte, die auf einer Ebene wertvolle Ausgaben finanzieren sollen, während die Ernte aus diesen Investitionen anderen Ebenen zufließt, existieren nicht.
- Die Kritik löst nicht den Widerspruch auf, wie nachhaltigkeitswirksame öffentliche Ausgaben überhaupt finanziert werden sollen, wenn durch schon vorhandene Kreditfinanzierungs- und Tilgungskosten der Handlungsspielraum faktisch gegen Null tendiert.
- Sie irrt, wenn sie unterstellt, Kredite seien zukünftig per se böse; die „Goldene Regel“, das machte auch der Sachverständigenrat in seinem Gutachten „Staatsverschuldung wirksam begrenzen“ deutlich, soll nicht zu der Akte „Irrtümer der jüngeren Geschichte“ gelegt, sondern, nachhaltig begrenzt, wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden.
- Die Ausweitung des Investitionsbegriffs auf Ausgaben, die das Humankapital erhöhen, ist durchaus richtig. Ihm müssten dann aber auch, um die gemachten Fehler nicht zu wiederholen, die Abschreibungen gegenübergestellt werden. Das Gutachten des Sachverständigenrates legt (Ziffer 129) den Verdacht nahe, dass das im Ergebnis auf ein Nullsummenspiel hinaus läuft.
Am 19. Mai 2010 beschloss der Kieler Landtag fast einstimmig (ohne die Stimmen der Linken) die Aufnahme einer Schuldenbremse in die Schleswig-Holsteinische Landesverfassung. CDU, FDP, Grüne, SPD und SSW zeigten sich, wie ein Blick auf die Presseerklärungen der Fraktionen oder in das Protokoll der Sitzung belegt, realistisch und gewillt, den Karren nicht weiter in den Dreck zu ziehen.
Per aspera ad astra
Die Schuldenbremse steht nun in der Landesverfassung, wäre nur mit einer — aktuell nicht ersichtlichen — 2/3-Mehrheit zu ändern und würde zudem beim Wegfall ansatzlos durch die weitgehend deckungsgleiche Regelung im Grundgesetz ersetzt.
Weitgehend. Denn die Schleswig-Holsteinische Variante der Schuldenbremse ist in zwei Bereichen stringenter als die Bundesregelung: konjunkturell bedingt aufgenommene Kredite müssen in einem festen Zeitraum wieder zurückgezahlt werden. Und die Feststellung einer „Naturkatastrophe oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen“, die eine außerordentliche Kreditaufnahme erlaubt, bedarf einer 2/3-Mehrheit im Parlament. Das soll nicht heißen, dass die Regelung lückenlos wäre. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich Umgehungen auszumalen: Verlagerung der öffentlichen Kreditaufnahmen auf Sondervermögen oder landeseigene Gesellschaften; unwirtschaftliche Verkäufe von Vermögen; Leasing oder ÖPP-Maßnahmen — um nur einige Ideen zu nennen.
Wer sich auf den Weg macht, Politik in Schleswig-Holstein zu gestalten, der muss neben diesen Rahmenbedingungen auch noch diverse weitere finanzielle Untiefen kennen: Steigende Zinsen, eine etwaige Ausweitung oder Fortsetzung der Euro-Krise, die Folgen des demographischen Wandels, der Anstieg der Pensionszahlungen für die Beamten, finanzwirksame Beschlüsse des Bundes bedrohen die freie Fahrt auf den Gewässern in und um Schleswig-Holstein.
Damit ist noch nicht Schluss: Die Einnahmen des Landes lassen sich nur in geringem Umfang selbst gestalten. Der Schuldenberg wird bis 2020 weiter ansteigen und den Anteil der Kosten der „Vergangenheitsbewältigung“ anwachsen lassen — zu Lasten der Zukunftsinvestitionen. Die überfällige Strukturreform der Kommunen wird kein Selbstgänger werden und muss zudem keine hohe Einsparpotentiale nach sich ziehen. Das oben erwähnte Gutachten von Seitz hat keine „lohnenden“ verdeckten Einsparpotentiale benannt, ein widerspruchsfreies Kürzungspotential ist also nicht erkennbar.
Und immer noch kein Ende: Die Ausgaben im Landeshaushalt sind weitgehend durch Bundesgesetze, rechtliche Verpflichtungen oder vertragliche Bindungen gebunden. Der Gestaltungsspielraum wäre also auch ohne die rund 130 Millionen Euro, die jeder zukünftige Haushalt bis 2020 abspecken muss, klein.
Um neben dem Verzicht auf Neuverschuldung wieder Handlungsspielraum für einen zukunftsorientierte Politik zu eröffnen, müssen, wie das Gutachten von Seitz eindrucksvoll belegt, die Ausgaben über Jahre deutlich weniger steigen als die Einnahmen.
Die 80 Millionen Euro, die der Bund dem Land jährlich als Konsolidierungshilfe gewähren wird, versprechen nur eine kaum spürbare Entlastung und sind zudem endlich, müssen also ab 2020 durch Landeseinnahmen ersetzt werden.
Es ist also wahrlich kein Zuckerschlecken, Politik in Schleswig-Holstein gestalten zu wollen. Aber Politik ist kein Ponyhof und bringt nur noch mehr Spaß, wenn Gestaltungswillen und nicht Spendierhose nachgefragt wird.
Das Ziel, aus dem Blickwinkel der Geldströme betrachtet, ist klar: Schleswig-Holstein muss wieder ein handlungsfähiger Staat werden, der seine Altlasten im Griff hat, der auch aufgrund seiner Einnahmen hinreichend freie Ausgaben zur Verfügung hat, um die politisch notwendigen, zukunftsprägenden Maßnahmen, Förderungen und Investitionen nachhaltig zu leisten – ohne im Portemonnaie rumkratzen zu müssen und ohne den Staat (noch weiter) finanziell an die Wand zu fahren.
Was sich ändern muss
Was nicht hilft, ist ein rein fiskalisches Betrachten der Dinge. Auch wenn das nach all der Vorrede überraschen mag: Politik ist in meinen Augen nicht: Landeshaushalt. Politik gestalten ist nicht: Geld ausgeben. Politik darf sich nicht auf Haushaltsansätze, Einsparkorridore oder Streichlisten reduzieren. Und umgekehrt ist es ein Trugschluss, den Erfolg der Politik an dem Umfang der Spendierhose zu messen. Politik muss sich mit der Realität auseinander setzen, sie analysieren und auf dieser Basis Konzepte und Visionen entwickeln. Sonst wird sie zur sozialromantischen Märchenstunde.
Wer arm ist, muss klug sein. Da kommt es drauf an.
Dafür braucht es einen ausgeprägten Willen zur Transparenz und eine Beteiligungsmentalität bei den politischen Akteuren. Der erkennbare Wunsch vieler Bürger nach Beteiligung und Einfluss, häufig als „Wutbürger“ diskreditiert, kann und muss genutzt werden, um die notwendigen Diskussionen offen zu führen und die – sicher nicht bequemen – Entscheidungen nachvollziehbar zu treffen.
Betrachten wir zurückschauend die Subventionen für die Werften, in der Landwirtschaft oder im Bergbau, dann erkennen wir, dass all das Geld den Wandel in diesen Bereichen nicht verhinderte. Die Menschen mit ihren Problemen allein zu lassen und die Verluste der Unternehmer zu sozialisieren, ist keine zukunftsgerichtete (Wirtschafts)Politik. (Übrigens: das ist kein neoliberaler Schnack, sondern ein fast wörtliche Zitat von Jochen Steffen). Heute ist das Zauberwort „systemimmanent.” Banken schmücken sich mit diesem Zusatz, um Staatsknete zu fordern. Weitere Branchen werden folgen. Und sicher sind auch die Grenzen mancher Kreise oder Städte systemimmanent.
Die auf uns zukommenden Verhandlungen im Länderfinanzausgleich eröffnen die Chance, die finanziellen Dinge von Grund auf neu zu regeln. Von der neuen Landesregierung, von den Parteien, die um meine Stimme werben, erwarte ich, als Ergänzung zu den hier schon mal vor ein paar Wochen in die Runde geworfenen Ideen und Gedanken:
- Wie soll die Steuergesetzgebung und Verteilung der Steuererträge neu geordnet werden?
- Wie werden die Länder in die Lage versetzt, eigene, gestaltbare Einnahmequellen zu erhalten?
- Wie erreichen wir Konnexität (Der Bundesgesetzgeber hat für einen finanziellen Ausgleich der von ihm definierten Aufgaben zu sorgen)?
- Wie definieren wir Investitionen neu?
- Wie kriegen wir alle Länder (und dem Bund) dazu, einem Altschuldenfonds beizutreten?
Was ich nicht brauche, sind Kirchturmprediger und Gefälligkeitsredner, die einfach alles, vor allem aber ihr Spezialgebiet, als systemimmanent, unverzichtbar oder Tabubereich bezeichnen und sich zugleich zur Nachhaltigkeit ihrer Politik bekennen — und die unbequemen Seite der Medaille nicht benennen oder irgendwelchen himmlischen Mächten überlassen wollen. Was ich hören will an guten Taten soll nur das sein, was auch eingehalten werden kann. Was ich auch hören will ist das, was auf den Prüfstand kommt, was wegfallen soll. Butter bei die Fische.
Das muss nicht heißen, dass es ab sofort keine neuen politischen Initiativen mehr geben darf. Eine Schuldenbremse schafft weder Erbhöfe noch Denkverbote und überlegt das Land auch nicht mit einer Veränderungssperre. Nicht jede Initiative muss mit einem Kostendeckungsvorschlag einhergehen. Keine Initiative des politischen Mitbewerbers mit dem Hinweis auf die Schuldenbremse abgelehnt werden. Das wäre unpolitische Kleinkrämerei. Das politische Koordinatensystem ist unstimmig, wenn es einem das Gefühl vermittelt, eine als notwendig erkannte Ausgabe sei allein wegen der Schuldenbremse nicht möglich. Die Schuldenbremse ist nämlich kein politisches Ziel sondern ein Handwerkszeug, damit gestaltende Politik möglich bleibt. Es wäre sinnlos, sie in Frage zu stellen (Sinnvoll wäre vielleicht eine Umbenennung. Sie ist nämlich ihrem Wesen nach weder Bremse noch Schranke sondern eine Leitplanke). In der Gesamtsicht der Vorschläge einer Partei oder Gruppierung muss aber erkennbar werden, dass das Prinzip der kommunizierenden Röhren gelebt wird. Meinethalben auch: Yin und Yang. Sonst ist das politische Konzept unfertig, die Vision unglaubwürdig. Der Lackmustest lautete also: Ein Programm ist gut, wenn es die Schuldenbremse nicht mehr erwähnt, sondern verinnerlicht hat.
Weil die Schuldenbremse kein Ziel, sondern ein Werkzeug ist, verbietet es sich auch, zukünftig die Gestaltung der Politik allein nach der Höhe der Ausgaben zu diskutieren. Staatliche Einnahmen oder der Verzicht auf diese durch Befreiungen sind keine sakrosanten Beträge. Manchmal muss man sie auch erhöhen.
Zurück auf Start
Was ich auch nicht brauche, sind Interviews wie das, das Torsten Albig der Rheinischen Post gewährt hat und in dem er die Schuldenbremse in Frage stellt: „Schleswig-Holstein muss wieder erfolgreich werden. Ich habe meine Zweifel, ob die Schuldenbremse mit ihren derzeitigen Vorgaben dafür die einzige Wegweisung sein kann. Meine Sorge ist, dass sie an Akzeptanz verliert, wenn wir kurzatmig und willkürlich Ausgaben senken und dann die nachhaltige Lösung unserer wirklichen Probleme aus dem Blick verlieren.”
Menno, es sagt doch keiner, dass die Schuldenbremse die einzige Wegweisung ist. Der Landtag zum Beispiel hat doch auf Initiative der Sozialdemokratie zusammen mit der Schuldenbremse eine Resolution beschlossen, die genau das ausdrückt. Und wer, wenn nicht Torsten Albig, soll denn eigentlich der Ministerpräsident des Jahres 2012 sein, der da „kurzatmig und willkürlich“ Ausgaben senken wird? Nein, da war die SPD schon weiter: „Eine Schuldenbremse allein macht keine Politik. Politisch wird es bei ihrer Ausgestaltung“ sagte die SPD-Landtagsabgeordnete Birgit Herdejürgen bei der Verabschiedung der Schuldenbremse. Und: Was sind denn die „wirklichen Probleme“, die ein an die Wand gefahrener Landeshaushalt nachhaltig lösen soll?
Auf die Nachfrage, ob er also die Schuldenbremse in Frage stelle, wird es etwas unübersichtlich. Wenn ich die Antwort richtig deute, dann schwebt ihm so etwas wie eine Verschiebung des Zeitpunkts des Neuverschuldungsverbotes (2020) nach hinten (2030?) vor.
Ich bin mir sicher, dass die dafür nötige verfassungsändernde Mehrheit in Bund und(!) Land nicht wahrscheinlich oder erkennbar ist. Ich glaube auch nicht, dass zehn weitere Jahre fortgesetzter Verschuldung die notwendigen Einschnitte in der Ausgabenstruktur vermeiden helfen werden. Im Gegenteil: Es erhöht nur die Chance, dass unser Land bis dahin komplett handlungsunfähig ist und das Parlament zu einer Quasselbude ohne Gestaltungsmöglichkeiten degradiert wird.
Ich bin mir andererseits sicher, dass dieses aus der Hüfte geschossene Hin und Her einer Partei keine Stimmen und erste Recht keine Mehrheiten bringt — sondern nur den Verdruss über „die Politiker“ fördert. Es ist und bleibt nämlich nichts anderes als ein nicht haltbares Versprechen. Ich kenne zwar keine aktuellen Umfragen, bin mir aber gefühlt recht sicher, dass die Menschen in unserem Land verstanden haben, dass die nächsten zehn Jahre schwer sein werden. Und ich bin mir sicher, dass sie einen guten Blick dafür haben, ehrliche Wahrheiten und haltlose Versprechen zu unterscheiden. Die zwei Prozent für die Linken kommen nicht von irgendwo her.
Was bleibt, ist der Eindruck, dass der im Triumpfzug gewählte Spitzenkandidat der SPD nach nur wenigen Wochen viel Wert darauf legt, nicht überschätzt zu werden. Nach der Ankündigung, die Kürzungen im kommunalen Finanzausgleich zurückzunehmen und der Bestandgarantie für die Lehrerstellen kommt nun mit der ebenso fruchtlosen wie inhaltlich falschen und ohne Not vom Zaun gebrochene Diskussion um die Schuldenbremse der nächste finanzpolitische Clou. Wen soll das an die Wahlurne locken? Was ist die Taktik hinter all diesen Vorstößen? Was kommt als nächstes? Wann kommen endlich die Ziele und Visionen, weshalb man jemanden zum Ministerpräsidenten wählen möchte? Es geht doch nicht ums Geld, es geht um die Zukunft des Landes!
Dem ist wenig hinzuzufügen. Außer vielleicht, dass ich mir bei der Betrachtung als Kommunalpolitiker wünschen würde, dass die Landespolitik die Konnexität endlich auch gegenüber den Kreisen und Gemeinden übt. Die Beispiele dafür, dass Landesentscheidungen (und auch solche des Bundes!) kostenmäßig der kommunalen Familie aufgebürdet werden, sind Legion.
Die Konnexität ist doch in der Landesverfassung verankert: Artikel 49 Absatz 2? Gibt es denn Lücken in dieser Regelung?
Wie würdest Du denn den Rollgriff in den kommunalen Finanzausgleich zur Sanierung der Landesfinanzen bezeichnen wollen?
Und wie die Entscheidung der vorherigen Landesregierung zur Einführung von Regional- und Gemeinschaftsschulen beim gleichzeitigen Ausstieg aus der Schulbauförderung? Mit welchen Landesmitteln sollen die Kommunen denn jetzt die landespolitisch induzierten Kosten aus offenen Ganztagsschulen sowie geänderten Raumkonzepten auf Grundlage geänderter pädagogischer Konzepte finanzieren?
Sind wohl die Mittel für das kostenlose dritte Kindergartenjahr für die Kommunen auskömmlich gewesen?
Und… – ach, was reg’ ich mich auf…
Schleswig-Holsteins Schuldenberg ist also der Calvarienhügel, auf dem Thorsten Albig unbedingt enden will. In einem aber hat er Recht: „Einsparungen”, die in der Zukunft zu Kosten führen — und zwar womöglich zu Kosten, die noch über den ursprünglichen „Einsparungen” liegen — wären genau das Gegenteil einer „Schuldenbremse”. Das könnte zum Beispiel der Fall sein, wenn notwendige Sanierungs- und Unterhaltungsmaßnahmen „eingespart” werden und anschließend Ruinen abgewickelt werden müssen. Ähnlich Desaströses ist in der Bildungspolitik denkbar, wo „Einsparungen” jetzt zu hohen sozialen Folgekosten später führen können. Den haushaltspolitischen Schachzug „Dafür müssten dann aber Bund oder Kommunen aufkommen *grins*” darf man nicht gelten lassen. Ansonsten: Ein toller und vor allem wichtiger Artikel. Klasse!
Kontraproduktive „Einsparungen” haben wir in Mengen und seit Jahren. Der Sanierungsstau an vielen öffentlichen Gebäuden und Bauwerken, an und in Hochschulen und Uni-Kliniken ist für jedermann sichtbar. Der Bau von Straßen erfolgt anscheinend zunehmend mit heißer Nadel …
Bei diesen Dingen zeigt sich die Grenze eines wirtschaftenden Systems, das in einzelnen Jahren denkt. Der Haushalt einer Kommune, des Landes, des Bundes muss in einem Haushaltsjahr ausgeglichen sein, nicht „auf lange Sicht”. Die Mittelfristigen Finanzplanungen, die vorgelegt werden, sind relativ unverbindlich. Ich bin mir nicht sicher, ob eine doppische Buchhaltung das Problem löst. Buchführung ist reaktiv, sie zeichnet auf. Eine Kosten- und Leistungsrechnung hilft auch wenig, da sie eher auf die kurzfristigen operativen Dinge schaut. Eine langfristige, strategische Planung, also so etwas wie eine Investitionsrechnung, muss neben den betriebswirtschaftlichen Komponenten auf die politischen Erwartungen berücksichtigen. Das verlangt aber auch ein anderes Denken in den Parlamenten und eine andere Art der Entscheidungsfindung bei den Abgeordneten. Solche Systeme kenne ich nicht, das wäre ein Riesenprojekt, sicher lohnenswert, täte aber weniger der Verwaltung als den politischen Gremien sehr viel neues Denken abverlangen.
In einem solchen System kann man genau diese Fragen einfließen lassen.
Albigs Kritik an einer (von sehr vielen) Entscheidungen, die auch negative Folgen haben können, ist aber nicht der Schuldenbremse zuzuschreiben (hier irrt er in der Argumentationskette sträflich), sondern ein Argument, das bei der Umsetzung der (im jetzigen Denksystem nicht anzuzweifelnden) Schuldenbremse zu berücksichtigen ist.
Dabei sollte man allerdings auch aufpassen, nicht zu Leuchtturmhaft auf eine von vielen Stellschrauben zu schauen: Bildungspolitik besteht nicht allein aus einer möglichst hohen Anzahl von Lehrern. Es geht, wenn wir den Erfolg von Bildungspolitik messen wollen, auch um deren Ausbildung, das System unserer Schulen, die Art des Unterrichts, den gesellschaftlichen Stellenwert und dutzende andere Komponenten. Und selbst die Anzahl der Stellen sagt nichts über die Kosten aus, weil ich damit ja noch keine Aussage über das zu gebende Stundensoll, das Gehalt der Lehrkräfte respektive ihre Ausbildung/Studium sage — es könnten ja auch mehr SozialarbeiterInnen an Schulen hilfreich sein.
Der Schachzug „dann müssen andere halt zahlen” ist in der Tat zweischneidig. Ausgaben auf die Kommunen zu verlagern ist, außer wenn sie es erkennbar effizienter machen können, nicht hilfreich: die kommunalen Haushalte hängen weitestgehend an Tropf der Länderhaushalte; das wäre ein Nullsummenspiel.
Anders beim Bund: Das habe ich in meinem Artikel hier schon mal am Beispiel Steuerverwaltung angedeutet. Zudem hat der Bund immerhin die Möglichkeit, seine (Steuer)Einnahmen zu verändern. Wobei ich mir erhoffe, dass im Rahmen der anstehenden Diskussionen über die Bund-Länder-Finanzbeziehungen die Gestaltungsmöglichkeiten der Länder hinsichtlich ihrer Einnahmen verbessert werden.
In der Tat: Die Konzentration auf einen „ausgeglichenen Haushalt“, der dann doch nur ein Jahr umfasst, ist – man ringt mit Worten, um nicht unhöflich zu werden – wenigstens naiv. Die Bildungspolitik, der Straßenbau und der Unterhalt öffentlicher Gebäude sind Beispielfelder, auf denen sich beobachten lässt, welchen Schaden dieser Verdrängungsmechanismus anrichtet.
Auch die Doppelte Buchführung ist natürlich kein Allheilmittel, auch nicht in Verbindung mit einer Kosten- und Leistungsrechnung. Doch ist sie eine gute Basis für ein Rechnungslegungssystem, das in der Lage sein muss, verschiedenen politischen Strömungen verlässliche Daten zur Beurteilung ihrer Spielräume und der Auswirkungen ihrer Entscheidungen an die Hand zu geben.
Warum „nur ein Jahr umfasst”? Die Schuldenbremse (sofern in der Verhandlungen zum LFA nichts anderes vereinbart wird) greift auch 2021 weiter. Dann liegt noch die Rückzahlung des Schuldenberges vor uns.
Hier mal eine grobe Schätzung: Das Land wird 2020 etwa 36 Mrd € Schulden haben, zahlt augenblicklich 1 Mrd an Zinsen. Das werden 2020 mehr sein, die Schulden steigen ja bis dahin und außerdem kennen wir die Zinsentwicklung nicht. Unterstellen wir mal was total günstiges und 1.2 Mrd zu zahlende jährliche Zinsen. Dann bräuchten wir schlappe 46,3 Jahre, um den Kredit bei 3 Prozent Zinsen und 1 Prozent Tilgung abzubezahlen, 100 Mio monatliche Rate unterstellt. Eine Altschuldenfonds, finanziert zu 50 Prozent aus einer Steuererhöhung / Streichung von Steuervergünstigungen und zu 50 Prozent aus einem Beitrag des Landes könnte dem Land einem massiven Zuwachs an Investitionsmöglichkeiten geben.
Der Verdrängungsmechanismus hat schon stattgefunden, hat uns in die jetzige Situation gebracht. Wer jetzt „weiter so” sagt, setzt den alten Verdrängungsmechanismus fort.
Swen, das „Haushaltsjahr“ hast du völlig richtigerweise in deinem letzten Kommentar selbst ins Spiel gebracht. Erst durch die Konzentration auf das Haushaltsjahr wird es doch möglich, Folgen auszublenden. Auf Seite 3 der Kieler Nachrichten von heute, 17. Juni 2011, war das in den Interviews mit Torsten Albig und Christian von Boetticher noch einmal in aller Klarheit nachzulesen. Dort lernt man auch, dass die Nebelkerzen, mit denen die Untauglichkeit einer solchen Rechnungslegung mit Begriffen wie „strukturelle Verschuldung“, „nachhaltig“ und „aufwachsende Personalkosten“ verschleiert werden soll.
Wer glaubt, es reiche, Einnahmen und Ausgaben in Einklang zu bringen, der fällt auch auf ein „Kaufe heute, zahlen in zwei Jahren“-Angebot herein. Dummerweise hat er dabei immer noch einen ausgeglichenen Haushalt. Wenn Albig – durchaus mit guten Argumenten – die politische Elastizität der „Schuldenbremse“ auszutesten scheint: Was die Rechnungslegung, die Kontrolle der Auswirkungen eigener Entscheidungen also, angeht, steht ihm sein Konkurrent von der CDU in nichts nach. Dies ist in fast schon Freud’schen Sinne das Defizit, das den Verdrängungsmechanismus in Gang setzt
„Die Ursache für das Sinken des Zinsfußes wird vorzüglich darin gefunden, daß die besonders rentablen Kapitalanlagen großen Maßstabes heute erschöpft sind und nur Unternehmungen von geringer Ergiebigkeit übrig bleiben. …Nur ein allgemeiner europäischer Krieg könnte dieser Entwicklung Halt gebieten durch die ungeheure Kapitalzerstörung, welche er bedeutet.”
(Aus der Zeitschrift des Sparkassenverbandes, 1891)
„Trotz der heiligen Versprechen der Völker, den Krieg für alle Zeiten zu ächten, trotz der Rufe der Millionen: ‚Nie wieder Krieg’, entgegen all den Hoffnungen auf eine schönere Zukunft muß ich sagen: Wenn das heutige Geldsystem, die Zinswirtschaft, beibehalten wird, so wage ich es, heute schon zu behaupten, daß es keine 25 Jahre dauern wird, bis wir vor einem neuen, noch furchtbareren Krieg stehen.
Ich sehe die kommende Entwicklung klar vor mir. Der heutige Stand der Technik läßt die Wirtschaft rasch zu einer Höchstleistung steigern. Die Kapitalbildung wird trotz der großen Kriegsverluste rasch erfolgen und durch Überangebot den Zins drücken. Das Geld wird dann gehamstert werden. Der Wirtschaftsraum wird einschrumpfen, und große Heere von Arbeitslosen werden auf der Straße stehen. An vielen Grenzpfählen wird man dann eine Tafel mit der Aufschrift finden können: ‚Arbeitssuchende haben keinen Zutritt ins Land, nur die Faulenzer mit vollgestopftem Geldbeutel sind willkommen.’
Wie zu alten Zeiten wird man dann nach dem Länderraub trachten und wird dazu wieder Kanonen fabrizieren müssen, man hat dann wenigstens für die Arbeitslosen wieder Arbeit. In den unzufriedenen Massen werden wilde, revolutionäre Strömungen wach werden, und auch die Giftpflanze Übernationalismus wird wieder wuchern. Kein Land wird das andere mehr verstehen, und das Ende kann nur wieder Krieg sein.”
Silvio Gesell, 1918
Es dauerte tatsächlich „keine 25 Jahre” vom Ende des ersten bis zum Beginn des zweiten Weltkrieges. Der dritte Weltkrieg wäre in den 1980er Jahren fällig gewesen und wurde nur durch die atomare Abschreckung bis in die Gegenwart verhindert. Durch das Ausbleiben dieser „überfälligen Sachkapitalzerstörung” hat die Zinsumverteilung — sowohl innerhalb der Nationalstaaten als auch zwischen den Staaten — heute ein nie dagewesenes Ausmaß erreicht, sodass die Weltwirtschaft auf ein Phänomen zusteuert, das der „Jahrhundertökonom” John Maynard Keynes als „Liquiditätsfalle” bezeichnete: der mitgekoppelte — also sich selbst beschleunigende — Zusammenbruch des Geldkreislaufs und damit der — irreversible — Zusammenbruch der gesamten Arbeitsteilung – das Ende jeglicher Kultur.
Liquiditätsfallen hat es in der Geschichte der halbwegs zivilisierten Menschheit viele gegeben (schon solange der Mensch Zinsgeld, anfangs Edelmetallgeld, benutzt) und alle Kulturen und Weltreiche sind an der Zinsumverteilung von der Arbeit zum Besitz zugrunde gegangen. Heute stehen wir vor der absoluten Steigerung dieses Phänomens: die globale Liquiditätsfalle! Die Heilige Schrift bezeichnet dieses Ereignis als „Armageddon”.
Um die größte anzunehmende Katastrophe der Kulturgeschichte rechtzeitig abzuwenden, bedarf es der „Auferstehung der Toten”. Als geistig Tote sind alle Existenzen zu bezeichnen, die vor lauter Vorurteilen nicht mehr denken können. Es folgt der eigentliche Beginn der menschlichen Zivilisation. Herzlich Willkommen im 21. Jahrhundert: http://www.deweles.de
Was dem Land / der Landespolitik vor allem fehlt, ist eine Art Bewußtsein dafür, wo man eigentlich steht und wo man hin will, im kaufmännischen Bereich auch Strategie genannt. Die Frage, wie das Ganze jeweils zu finanzieren ist, beantwortet sich damit im Allgemeinen teilweise schon selbst.
Dies würde allerdings zunächst eine relativ offene und schonungslose Aufnahme des Status Quo verlangen, und angesichts meines Eindrucks, daß man sich schon diesbezüglich gern in die Tasche lügt (von der sich anschließenden Frage des Ziels mal ganz abgesehen), bin ich eher wenig optimistisch, sondern nehme an, daß es beim Durchwurschteln bleibt, so weh mir der Gedanke auch tut.