Es scheint, dass den konservativen Parteien, je nach Lesart, die Werte oder die Inhalte abhanden kommen.
In Deutschland kappt die Regierung Merkel mit schnellen Hieben die Seile, mit denen noch vor Monaten ihr Wertegerüst gezurrt wurde: Abschaffung der Wehrpflicht, Atomausstieg, Eurostabilität, Verstaatlichung von Banken.
Charles Moore, konservativer britischer Publizist, beginnt zu glauben, „dass die Linke recht hat“, Frank Schirrmacher sekundiert in der FAZ, zu Recht darauf hinweisend, dass Moore mitnichten meine, dass „Labour“ etwa Recht habe: er rede vielmehr von rechten und linken Ideen — und dass die Politik die für diese Ideen stehenden Worte zwar gekapert habe, sie (jetzt) aber nicht mehr mit Inhalten fülle – Ziele und Handeln stimmen nicht mehr überein.
Wie im Großen, so geht auch im Kleinen Orientierung verloren. Da werden dann schnell die Werte umklammert, die noch da sind. Ganz fest. Man will es doch richtig machen.
Christian von Boetticher hat alles richtig gemacht — und scheiterte vielleicht deshalb. Junge Union, CDU, Abitur, Reserveoffizier, Jura-Studium, Studentische Verbindung, Europa-Abgeordneter, Umweltminister, Fraktionschef, 40ster Geburtstag. Als er sich, zwischen den Stationen Fraktionsvorsitz und 40, in eine 16-Jährige verliebt, beendet er diese Beziehung nach wenigen Monaten, wohl auch mit Blick auf das angestrebte Spitzenamt.
Kann daraus, darf daraus ein „Bedrohungs- und Erpressungspotential“ entstehen? Wohlgemerkt: Es geht bei „daraus“ nicht um den Umstand, dass er seine Liebe verleugnete, sondern dass er sie überhaupt zugelassen hatte.
Und wenn ja: wollen wir das? Wollen wir wirklich noch stromlinienförmigere Kandidaten ohne kleinsten menschlichen Fehl? Wollen wir also parteiinterne Kommissionen, die potentielle Kandidaten zunächst auf Seitensprünge, öffentliches Popeln, nicht gemachte Führerscheine oder bevorzugte Stellungen im Geschlechtsverkehr untersuchen? Wollen wir also Dinge durchleuchten, die bei manchen vielleicht moralische Bedenken auslösen, aus guten Gründen aber eben nicht verboten sind?
Ich freue mich ja schon auf Wahlplakate, wo im Kleingedruckten hingewiesen wird, wann der Kandidat das letzte Mal den Kirchgang schwänzte, seine Frau belog und im Bus sitzen blieb, als ein älterer Mann einstieg.
Ich kann den Menschen Christian von Boetticher verstehen. In dieser Schlangengrube wäre er vielleicht erfolgreich, nie aber glücklich geworden. Dass er das getan hat, spricht für ihn. Die Naivität zu glauben, dass ihm niemand daraus einen Strick ziehen will, kann ich ihm nicht vorwerfen. Die Glaubwürdigkeitskrise hat jetzt die CDU. Sie wird nun zeigen müssen, ob sie den Unterschied zwischen Moral und Bigotterie kennt.
„Es geht bei „daraus“ nicht um den Umstand, dass er seine Liebe verleugnete, sondern dass er sie überhaupt zugelassen hatte.” Vielleicht etwa philosophisch, aber kann man Liebe zulassen oder nicht? Passiert Liebe nicht einfach manchmal? Eben auch fernab jeder Norm…
Ich möchte nicht über von Boetticher und sein Privatleben urteilen. Das steht im Grunde niemandem zu, außer ihm, dem Mädchen und vielleicht auch noch deren Eltern. Aber die Frage, ob man in Zukunft nur noch stromlinienförmige, geleckte Kandidaten möchte ist interessant. Es sind doch grade die Ecken und Kanten, die Narben, die einen Menschen interessant machen. Helmut Kohl, Konrad Adenauer, Helmut Schmidt — das waren Menschen mit Profil, grade weil sie Ecken und Kanten hatten.
Und eine Frage die mich umtreibt: Muss man damit leben, dass das Privatleben — ja auch Politiker haben das — derart in den Fokus der (Medien-)Öffentichkeit gerät? Oder sind hier die Maßstäbe ein Stück weit verrückt…
Bei aller Irrationalität, die glückerlicherweise die Liebe begleitet, gibt es wohl immer ganz am Anfang den Moment, wo die Ratio noch wach ist und sagen kann: „Swen, überleg Dir das noch mal mit dem Liebe”.
Natürlich muss man damit leben, dass das Privatleben im Fokus der Öffentlichkeit ist. Man kann es nicht verhindern, nicht jedes Medium hält sich an einen vereinbarten Kodex. Womit wir aber nicht leben müssen: Dass uns das beeindruckt. Als Leser: Das wir gierig lesen. Als Medien: Das wir die Nachricht gierig weiterverteilen. Als Gremium: Das wir das Ereignis nutzen, um anderes zu erreichen.
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@ Swen
Das Problem scheinen weniger die Medien sondern seinen „Parteifreunde” zu sein. Laut Presseberichten hat sein Umfeld diese Liaison akzeptiert, das bedeutet, dass diese Beziehung nicht das große Geheimnis sondern vielen bekannt war.
Auffälliger finde ich den Zeitpunkt: 9 Monate vor der Wahl, 3 Monate vor dem Landesparteitag. Bis zum nächsten Frühjahr werden die Wähler diese Affäre, Dank des beherzten Durchgreifen der Sitte-und-Moral-Fraktion, vergessen haben und zum kommenden Landesparteitag wird das Fell des erlegten Bären verteilt sein. Es gibt ja genügend Filetstücke auf die sich seine innerparteilichen Gegner, wie die Aasgeier, stürzen werden.
Dass der Mensch Christian von Boetticher dabei auf der Strecke bleibt, das stört in dieser christlichen Partei niemanden. Soviel zu Moral, Anstand und Nächstenliebe.
Neben der Herr von Boetticher wird eine junge Frau in cdie Öffentlichkeit gezerrt werden. Die ersten Bilder, noch verpixelt, gibt es schon in der lokalen Presse.
„Die Naivität zu glauben, dass ihm niemand daraus einen Strick ziehen will, kann ich ihm nicht vorwerfen.” Genau über diese Naivität ist er doch jetzt aber gestolpert und zu Fall gebracht worden. Und offensichtlich war ihm der Umstand der Gefahr zum Zeitpunkt der Übernahme des Landesvorsitz und der Nominierung zum Spitzenkandidaten auch bewusst. Denn wenn man der offiziellen Chronologie der Ereignisse Glauben schenken darf, beendeten die beiden die Liaison etwa zu diesem Zeitpunkt.
Die Naivität ist ihm also nicht vorzuwerfen, sie ist ihm zu attestieren. Wenngleich etwas weiter gefasst: Als aussichtsreicher Nachfolger von Ministerpräsident Carstensen war Christian von Bötticher m.E. zunächst zu naiv, zu meinen, er werde sich in absehbarer Zeit nicht in derart exponierter Stellung befinden, in der aus einer solchen amorösen Verstrickung ein politischer Strick gedreht werden könnte.
Über die Beziehung selbst kann sich allenfalls das direkte persönliche Umfeld ein Urteil anmaßen. Mein Interesse als Bürger zielt in erster Linie darauf, welchen Eindruck er davor und danach vermittelt (hat) und inwieweit diese Eindrücke in Einklang gebracht werden können. Während mein Interesse als Wähler sich darauf richtet, wie die Partei damit umgeht. Hierin liegt offensichtlich die eigentliche Affäre.
Irrelevant für mich als Wähler, gleichwohl von Interesse für mich als aufmerksamen Beobachter politischer Akteure ist die Kurzsichtigkeit, mit der Menschen in exponierter Stellung bisweilen agieren. Sicherlich möchten wir keine uniformen und glatt geschliffenen Politiker und Wirtschaftsführer. Aber dürfen wir nicht andererseits wenigstens erwarten, dass die Handelnden mit einer gewissen Verantwortung für ihr Amt und die in sie gesetzten Hoffnungen durchs Leben gehen? Woraus begründet sich denn die in solchen Fällen stets zitierte Vorbildfunktion? Sie ist nämlich nicht an die Person gebunden, sondern an das (sei es designierte) Amt.
Selbstverständlich haben all jene Recht, die wie Herr Stegner das „Privatleben als Privatleben” bezeichnen. Allein, es liegt im Wesen von Tautologien und ignoriert das Wesen der Vorbildfunktion.
Tatsache ist, solange wir in exponierten gesellschaftlichen Positionen einen Vorbildcharakter erkennen oder ihn uns herbeisehnen (es gibt Zeitungen, die 80% ihrer Auflage aus diesem Phänomen generieren), solange ist allen Anwärtern und Inhabern dieser Positionen nicht nur zuzumuten, sich dieser an sie — wenngleich nicht persönlich! — gerichteten Erwartung bewusst zu sein. Nein, darüber hinaus ist auch zu erwarten, dass sie sich ihr stellen. Was im übrigen — das mag auf den ersten Blick vielleicht überraschend klingen — auch die Möglichkeit des Scheiterns offen lässt. Dann zeigt sich im Umgang mit der enttäuschten Erwartung die moralische Verfasstheit des jeweiligen und seines Umfeldes.
Ob Herr von Bötticher nun noch eine Chance hat, liegt leider nicht mehr nur bei ihm. Das haben jetzt die Mitgliederinnen und Mitglieder einer Partei zu verantworten (!), aus deren Reihen anscheinend auch der Tipp an die BamS ging. Sie sind es, die sich fragen müssen, ob eine Vorbildfunktion nicht auch einen respektvollen, redlichen Umgang miteinander einschließt — unabhängig von der moralischen Bewertung einzelner Ereignisse.
Der „Tipp” kam wohl eher von einem seiner „Parteifreunde”, der sich Chancen auf einen der Posten ausrechnet. Es ist ja nicht das erste Mal, dass in einer christdemokratischen Partei mit Hilfe der Boulevardpresse die eigenen Spitzenpolitiker angegriffen werden…
Dass sich unsere Boulevardmedien für dieses amoralische Spiel instrumentalisieren lassen finde ich viel kritikwürdiger. Aber auch die Doppelmoral der Partei sollte den Wählern zu denken geben.
Seitdem ich einmal ein Rundschreiben an die Mitglieder des Ortsverbandes mit „Liebe Mitgliederinnen und Mitglieder” begonnen habe, bin ich bezüglich des Wortes DAS Mitglied etwas empfindlich geworden. Es gibt also weder „den Mitglied” noch „die Mitgliederin”, sondern lediglich „das Mitglied”. Hat aber mit der Debatte ansonsten nix zu tun. :-)
jepp, seh ich ein. Fixed.
Mit der Argumentation könnte man jedes „Fehlverhalten” gutheißen.
Dass sich CvB in das Leben einer Sechzehnjährigen eingreift, ist Ausdruck von Verantwortungslosigkeit; dass er die „Liebesbeziehung” beendet, weil sie seiner politischen Karriere im Wege steht, ist Ausdruck von Rücksichtslosigkeit. Aber Mitleid ist doch nun völlig fehl am Platze, gerade bei einem der mit Protzmeldungen auf Facebook und Twitter auffiel und weniger durch seine Arbeit.
Als Fan des kategorischen Imperativs sehe ich Grenzen, nicht jedes „Fehlverhalten” kann gut geheißen werden.
Ich wünsche mir Offenheit in der Argumentation, nicht aber vorgeschobene moralische Empörung als Vehikel, um jemanden los zu werden, den man aus anderen Gründen nicht will.
Ich finde das eine große Verharmlosung, wenn Du schreibst „Wollen wir wirklich noch stromlinienförmigere Kandidaten ohne kleinsten menschlichen Fehl?”:
Ich sehe das simpel so: Herr Boetticher hat eine Midnerjähruge gevögelt und diese Liebe dann aufgrund der Tatsache fallen gelassen, dass er zum Spitzenkandidaten wurde.
Aus meiner Sicht ein Doppel-Fail: Erstens die Frage, ob man als 40jähriger in Facebook auf Kontaktsuche mit 16jährigen Jugendlichen gehen muss? Und dann die Frage, wieviel Liebe im Spiel war, wenn er dann bei erstbester Gelegenheit ihr einen Tritt verpasst.
Dazu kommt die fragliche Rolle der CDU, die offenbar seit 2010 von der Affäre wusste, aber sie erst jetzt öffentlich kritisierte, als man Boetticher politische kalt stellen wollte. Also auch hier eine moralische Verlogenheit.
Für mich sind das alles in Summe nicht „kleinste menschliche Fehler”, sondern große menschliche und politische Fehler.
Wohlgemerkt: Es geht nicht um eine moralische Bewertung, sondern um eine Bewertung des gesamten Ablaufs aller Beteiligten.
Sicher steht die Presse auf Skandale wie diesen. Aber das beweist nicht, dass Boetticher nicht gefehlt hat.
Dein „Doppelfail” besteht aus zwei Fragen, die Du nicht explizit, wohl aber implizit mit dem Fail beantwortest. Daraus folgt, dass Du eine Norm im Kopf hast, nach der Du bewertest, beurteilst.
Lackmustest: ersetze „16-Jährige Jugendliche” durch „Mann”. Oder: Ersetze „bei erstbester Gelegenheit einen Tritt verpassen” durch „hat schon dreimal eine Ehe auf Lebenszeit geschlossen”. Warum zählt das eine, nicht aber das andere?
Wer diese oder ähnliche Konventionen oder Handlungsempfehlungen jenseits von Gesetzen in die Betrachtung einfließen lässt, der bewertet auf moralischer Grundlage. Also sage bitte nicht, es gehe (Dir) nicht um moralische Bewertung.
Im Verwaltungsrecht kennen wir den (unbestimmten) Begriff des „Charakterlichen Eignung”. den Begriff finde ich zwar blöd, die Auslegungsregeln zeigen aber auf das, was die Bigotterie anders macht. Theorie: Wir sollen möglichst nicht durch Werturteile, sondern durch Tatsachen zu einer Begründung kommen. Das ist natürlich in gewisser Hinsicht fadenscheinig, letzlich bewerten wir doch. Aber dann bitte nachvollziehbar und offen, abwägend.
Die Bigotterie hingegen urteilt geheim, hinterrücks, doppelbödig. Sie wägt nicht ab, sondern pickt sich allein das heraus, was ihr (zur geheimen Botschaft) passt. So kann das Verhalten des Parteifreundes entschuldbar werden, das des (Partei)Feindes aber ein absolutes NoGo sein.
Herr von Boetticher hat gefehlt. Und er hatte in der CDU offensichtlich keine Freude. Niemand wog seine Leistungen mit seinem Fehler ab. Im besten Fall stellte vielleicht einer fest, dass da nichts positives auf der Waagschale lag. Aber selbst dann stellt sich die Frage: War das (also das Fehlen von positiven Leistungen) nicht schon länger bekannt? Suchte man also nur die Gelegenheit, weil man das Offensichtliche nicht sagte? Das ist das zu beklagende Versagen. Dass Herr von Boetticher naiv war (wie ich ja schon schrieb) ist in der Gesamtbetrachtung egal. Sein Scheitern ist tragisch aber symptomatisch für eine Fehlentwicklung.