Vom Niederlegen und Nachrücken - oder: das bisschen Macht, das von Boetticher bleibt

Von | 17. August 2011

Es reicht. Seit Sonntag haben wir über die poli­ti­schen und pri­va­ten Details von „Lolita-Gate“ mehr erfah­ren, als wir jemals wis­sen woll­ten. Zeit, sich ein­mal in Ruhe mög­li­chen poli­tisch-recht­li­chen Weiterungen der jüngs­ten Geschehnisse zu wid­men.

Christian von Boetticher ist von allen Ämtern zurück­ge­tre­ten, behält aber sein Landtagsmandat –„aus Verantwortung für die bür­ger­li­che Koalition”. Ob das Morgen oder Übermorgen auch noch gilt, wird sich zei­gen. Für den Fall der Fälle wol­len wir im Landesblog einem Thema nach­ge­hen, das in der Skandalberichterstattung der letz­ten Tage nur am Rande vor­kommt: Was wird aus der Einstimmenmehrheit von CDU und FDP im Landtag, soll­te von Boetticher (oder ein ande­res CDU-Fraktionsmitglied) sein Landtagsmandat nie­der­le­gen?

Es geht dar­um, ob dann von der CDU-Landesliste jemand (kon­kret wäre das Frank Sauter aus Lübeck) in das nie­der­ge­leg­te Mandat nach­rü­cken könn­te oder ob das Mandat ersatz­los weg­fie­le — im letz­ten Fall mit der Folge einer 47 zu 47-Pattsituation zwi­schen Regierungs- und Oppositionsabgeordneten.

Die Frage des „Nachrückens in Überhangmandate“ ist in Schleswig-Holstein umstrit­ten; sie kam erst­mals kurz nach der Landtagswahl 2009 auf, wor­auf­hin die Landeswahlleiterin Stellung bezog für die Zulässigkeit eines Nachrückens. Die Regierungsfraktionen haben sich sei­ner­zeit dar­auf nicht ver­las­sen wol­len und z.B. kei­nen CDU-MdL zum Staatssekretär gemacht, weil damit zwin­gend der Verzicht auf das Landtagsmandat ver­bun­den gewe­sen wäre. Legte von Boetticher sein Landtagsmandat doch noch nie­der (z.B. falls doch noch der „Affären-Flüsterer“ bekannt wür­de), bekä­me das Problem neue Brisanz.

Der ver­fas­sungs­recht­li­che Hintergrund ist schnell skiz­ziert:

In § 50 Abs. 1 Landeswahlgesetz heißt es:

Wenn eine gewähl­te Bewerberin oder ein gewähl­ter Bewerber stirbt oder die Annahme der Wahl ablehnt oder wenn eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter stirbt oder sonst nach­träg­lich aus dem Landtag aus­schei­det, so wird der Sitz aus der Landesliste der­je­ni­gen Partei besetzt, für die die aus­ge­schie­de­ne Person bei der Wahl auf­ge­tre­ten ist.

Dieser Wortlaut spricht zunächst ein­mal für die Auslegung der Landeswahlleiterin, denn § 50 unter­schei­det nicht nach der Art eines Mandats, z.B., ob es sich um ein Direkt-, Überhang-, Listen- oder Ausgleichsmandat han­delt. Aber die­se schein­ba­re Gleichbehandlung ist pro­ble­ma­tisch: Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Grundsatzentscheidung im Jahr 1998 ent­ge­gen der bis dahin im Bund prak­ti­zier­ten Übung ent­schie­den, dass ein Nachrücken von Listenkandidaten in Überhangmandate ver­fas­sungs­wid­rig ist. Eine Nachbesetzung schei­de solan­ge aus, wie in der frag­li­chen Fraktion noch Überhangmandate vor­han­den sind. Wolle der Gesetzgeber etwas ande­res, müs­se er dies aus­drück­lich regeln.

Der Streit geht nun dar­um, ob die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts auf die schles­wig-hol­stei­ni­schen Verhältnisse über­trag­bar ist und § 50 Abs. 1 LWahlG ver­fas­sungs­kon­form ein­schrän­kend aus­zu­le­gen ist. Richtig ist, dass das (mitt­ler­wei­le geän­der­te) Landeswahlgesetz, auf dem die Zusammensetzung des gegen­wär­ti­gen Landtags beruht, anders als im Bund einen Teilausgleich für Überhangmandate vor­sieht. Die Landeswahlleiterin will unter ande­rem des­halb die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht auf das Landtagswahlrecht anwen­den.

Aber das dürf­te falsch sein, soweit es um die unge­deck­ten Überhangmandate geht, also jene drei Direktmandate der CDU, die nicht durch Ausgleichsmandate kom­pen­siert wor­den sind. Denn dem Nachrücker fehlt in die­ser Konstellation das wich­tigs­te, was ein Abgeordneter benö­tigt: demo­kra­ti­sche Legitimation.

Konkret betrach­tet: Christian von Boetticher wur­de im Wahlkreis Pinneberg direkt gewählt, sein Mandat bezieht die Legitimation aus dem Grundsatz der Persönlichkeitswahl. Der poten­zi­el­le Nachrücker Frank Sauter ist im Wahlkreis Lübeck-Ost als Direktkandidat ange­tre­ten und beim Wahlvolk durch­ge­fal­len; die Pinneberger Wähler haben die Person von Boetticher gewählt, nie­man­den anders, auch nicht die CDU-Landesliste, denn Erst- und Zweitstimme sind im Bundes- und um Landeswahlrecht strikt getrennt; die unmit­tel­ba­re demo­kra­ti­sche Legitimation von Christian von Boetticher kann sich weder Frank Sauter noch sonst jemand „bor­gen“.

Bleibt also nur eine mög­li­che Legitimation des Nachrückers auf­grund des Verhältniswahlrechts; das klappt aber eben­falls nicht, denn die unge­deck­ten Überhangmandate sind ja gera­de jene Mandate, die die CDU über das Verhältniswahlrecht bzw. ihren Zweitstimmenanteil hin­aus erhal­ten hat. In der Diktion des Bundesverfassungsgerichts: Die unge­deck­ten Überhangmandate „wer­den nur von der Mehrheit der Erststimmen und nicht auch von dem Erfolg der Zweitstimmen getra­gen“ (BVerfGE 97, 317, 325). Und dies gilt frag­los glei­cher­ma­ßen für Überhangmandate im Bund wie für unge­deck­te Überhangmandate in Schleswig-Holstein.

Diese feh­len­de demo­kra­ti­sche Legitimation des Listennachfolgers in ein Überhangmandat wiegt ver­fas­sungs­recht­lich sehr, sehr schwer und kann nicht durch ande­re prak­tisch-poli­ti­sche oder ver­fas­sungs­recht­li­che Argumente, wie sie die Landeswahlleiterin ins Feld führt, auf­ge­wo­gen wer­den. Dies ist auch das ein­deu­ti­ge Ergebnis eines unver­öf­fent­lich­ten, 12-sei­ti­gen Gutachtens des Wissenschaftlichen Dienstes des Landtages aus dem Oktober 2009 (dort wer­den auch, wofür hier der Platz fehlt, sämt­li­che wei­te­ren Argumente der Landeswahlleiterin fein säu­ber­lich seziert, bis nichts mehr von ihnen übrig ist). Im Gutachten heißt es am Ende unmiss­ver­ständ­lich:

Der Anwendungsbereich des § 50 Abs. 1 LWahlG ist ver­fas­sungs­kon­form dahin­ge­hend ein­zu­schrän­ken, dass eine Nachbesetzung solan­ge aus­schei­det, wie in der jewei­li­gen Fraktion noch nicht vom Verhältnisausgleich gedeck­te Sitze vor­han­den sind.

Deshalb sei­en die drei unge­deck­ten Überhangmandate der CDU-Fraktion nicht nach­be­set­zungs­fä­hig.

Neben den Stellungnahmen der Landeswahlleiterin und des Wissenschaftlichen Dienstes gibt es kaum dezi­dier­te Äußerungen zur Anwendbarkeit von § 50 Abs. 1 LWahlG auf unge­deck­te Überhangmandate. Im Aufsatz „Offene Fragen im schles­wig-hol­stei­ni­schen Wahlrecht“ (NordÖR 2010, 131 ff.) dis­ku­tie­ren die Autoren Prof. Florian Becker und Frederik Heinz die Thematik aus­führ­lich, beto­nen, dass es „kei­ner­lei demo­kra­ti­sche Legitimation für einen Nachrücker“ gibt, kön­nen sich letzt­lich aber zu einem ein­deu­ti­gen ver­fas­sungs­recht­li­chen Urteil nicht durch­rin­gen und sehen den Gesetzgeber gefor­dert.

Wie wür­de ange­sichts die­ser Diskussionslage das Landesverfassungsgericht ent­schei­den? Auch wenn das Gericht in sei­nen Entscheidungen zum Landeswahlgesetz im August 2010 dazu nicht Stellung bezo­gen hat, ent­sprä­che es doch dem Geist die­ser Entscheidungen, das Nachrücken in unge­deck­te Überhangmandate nicht zu dul­den. Es könn­te sich dabei auf eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts in Schleswig aus dem Jahr 2000 (NordÖR 2001, 69 ff) stüt­zen, nach des­sen Leitsatz „anders als im Bundes- und Landeswahlrecht im Kommunalwahlrecht Schleswig-Holstein das Nachrücken eines Listenbewerbers in ein sog Überhangmandat zuläs­sig“ ist. Und es könn­te das Urteil des Landesverfassungsgerichts in Brandenburg zu Rate zie­hen, dem­zu­fol­ge der Ansatz des Bundesverfassungsgerichts auf das (mit unse­rem Landeswahlgesetz nicht iden­ti­sche, aber ver­gleich­ba­re) bran­den­bur­gi­sche  Landeswahlrecht über­trag­bar und ein Nachrücken von der Landesliste in nicht aus­ge­gli­che­ne Überhangmandate des­halb unzu­läs­sig ist (Urteil v. 12.10.2000, Az. 19/​00).

Sollte die Landeswahlleiterin bei ihrer Auffassung blei­ben und das Nachrücken erlau­ben, wür­de die­se Entscheidung zwei­fel­los vor dem Landesverfassungsgericht ange­foch­ten wer­den. Das Risiko einer neu­er­li­chen ver­fas­sungs­recht­li­chen Klatsche ist so groß, dass man auf Regierungsseite die­se Situation offen­bar unbe­dingt ver­mei­den möch­te. Ganz darf die CDU es sich mit Christian von Boetticher also nicht ver­der­ben, will man nicht die nächs­te Verfassungs- und Regierungskrise pro­vo­zie­ren.

 

Ulf Kämpfer
Von:

Dr. Ulf Kämpfer, 39, ist Jurist, arbeitet und lebt in Kiel

4 Gedanken zu “Vom Niederlegen und Nachrücken - oder: das bisschen Macht, das von Boetticher bleibt”:

  1. Anonymous

    Ich fin­de es uner­träg­lich, dass die Landespolitik schein­bar nicht in der Lage ist, ein Wahlrecht zu schaf­fen, das in sei­ner Auslegung ein­deu­tig ist. Schwer ver­ständ­lich ist auch das Konstrukt der „unge­deck­ten Überhangmandate”, die ja den Wählerwillen ver­fäl­schen.

    Denn mit der Erststimme bestimmt der ein­zel­ne Wähler den Direktkandidaten. Alle Erststimmen für ande­re Kandidaten als den Wahlkreissieger ver­fal­len ersatz­los. Um den­noch eine reprä­sen­ta­ti­ve Zusammensetzung des Landtags gemäß Wählerwillen der Bevölkerung zu errei­chen, exis­tiert die Zweitstimme. Werden nun – aus Erststimmen resul­tie­ren­de – Überhangmandate nicht aus­ge­gli­chen, wird die Zweitstimme gegen­über der Erststimme ein­deu­tig ent­wer­tet: Alle Direktkandidaten wer­den gewählt, aber die Stimmen zur Bestimmung der pro­zen­tua­len Zusammensetzung des Landtages gelan­gen nicht voll­stän­dig zur Anwendung.
    Ebenfalls unglück­lich ist es in mei­nen Augen aller­dings auch, dass durch aus­schei­den­de Direktkandidaten die Mehrheitsverhältnisse im Landtag geän­dert wer­den. Knappe Mehrheiten wer­den wir immer wie­der erle­ben und es wäre schön, wenn die­se sich nicht mehr­fach im Laufe einer Parlamentsperiode ver­än­dern oder wenn die Besetzung von Ämtern nicht nach Qualifikation erfolgt, son­dern – wie Ulf Kämpfer es rich­tig beschreibt – danach, ob man für ein Amt sein Mandat auf­ge­ben muss. Es wird bei­spiels­wei­se ziem­lich laut gemun­kelt, dass  zu Beginn der aktu­el­len Landtagsperiode der Wirtschaftsminister und neue Spitzenkandidat der CDU eigent­lich für den Posten des Staatssekretärs und nicht für den des Ministers vor­ge­se­hen war.

    Ulf Kämpfer schreibt: „Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Grundsatzentscheidung im Jahr 1998 ent­ge­gen der bis dahin im Bund prak­ti­zier­ten Übung ent­schie­den, dass ein Nachrücken von Listenkandidaten in Überhangmandate ver­fas­sungs­wid­rig ist. Eine Nachbesetzung schei­de solan­ge aus, wie in der frag­li­chen Fraktion noch Überhangmandate vor­han­den sind. Wolle der Gesetzgeber etwas ande­res, müs­se er dies aus­drück­lich regeln.” Das soll­te der Gesetzgeber wol­len und dem­entspre­chend sind alle Parteien im Landtag auf­ge­ru­fen, end­lich für ein kla­res, ver­läss­li­ches und fai­res Wahlrecht zu sor­gen.

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    1. Ulf KämpferUlf Kämpfer Post author

      Die meis­ten Probleme des alten Wahlrechts haben sich durch die Wahlrechtsnovelle die­ses Frühjahrs erle­digt. Da nun­mehr alle Überhangmandate aus­ge­gli­chen wer­den, wird es im neu­en Landtag weder bei der Erfolgswertgleichheit noch beim Nachrücken Probleme geben. Ein Problem bleibt aber: Wegen der mar­gi­na­len Verringerung der Wahlkreise kann (nicht: muss) es auch zukünf­tig immer wie­der ein­mal zu stark auf­ge­bläh­ten Landtagen kom­men.

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    2. Ulf Kaempfer

      Die meis­ten Probleme des alten Wahlrechts haben sich durch die Wahlrechtsnovelle die­ses Frühjahrs erle­digt. Da nun­mehr alle Überhangmandate aus­ge­gli­chen wer­den, wird es im neu­en Landtag weder bei der Erfolgswertgleichheit noch beim Nachrücken Probleme geben. Ein Problem bleibt aber: Wegen der mar­gi­na­len Verringerung der Wahlkreise kann (nicht: muss) es auch zukünf­tig immer wie­der ein­mal zu stark auf­ge­bläh­ten Landtagen kom­men.

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      1. Anonymous

        „Eine Nachbesetzung schei­de solan­ge aus, wie in der frag­li­chen Fraktion noch Überhangmandate vor­han­den sind. Wolle der Gesetzgeber etwas ande­res, müs­se er dies aus­drück­lich regeln.” Zumindest da steht nichts von gedeckt oder unge­deckt. Ist das Deiner Meinung nach jetzt ein­deu­tig gere­gelt?

        Zur Größe des Landtags hat sich Swen Wacker ja bereits aus­führ­lich hier im Landesblog geäu­ßert…

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