Es reicht. Seit Sonntag haben wir über die politischen und privaten Details von „Lolita-Gate“ mehr erfahren, als wir jemals wissen wollten. Zeit, sich einmal in Ruhe möglichen politisch-rechtlichen Weiterungen der jüngsten Geschehnisse zu widmen.
Christian von Boetticher ist von allen Ämtern zurückgetreten, behält aber sein Landtagsmandat –„aus Verantwortung für die bürgerliche Koalition”. Ob das Morgen oder Übermorgen auch noch gilt, wird sich zeigen. Für den Fall der Fälle wollen wir im Landesblog einem Thema nachgehen, das in der Skandalberichterstattung der letzten Tage nur am Rande vorkommt: Was wird aus der Einstimmenmehrheit von CDU und FDP im Landtag, sollte von Boetticher (oder ein anderes CDU-Fraktionsmitglied) sein Landtagsmandat niederlegen?
Es geht darum, ob dann von der CDU-Landesliste jemand (konkret wäre das Frank Sauter aus Lübeck) in das niedergelegte Mandat nachrücken könnte oder ob das Mandat ersatzlos wegfiele — im letzten Fall mit der Folge einer 47 zu 47-Pattsituation zwischen Regierungs- und Oppositionsabgeordneten.
Die Frage des „Nachrückens in Überhangmandate“ ist in Schleswig-Holstein umstritten; sie kam erstmals kurz nach der Landtagswahl 2009 auf, woraufhin die Landeswahlleiterin Stellung bezog für die Zulässigkeit eines Nachrückens. Die Regierungsfraktionen haben sich seinerzeit darauf nicht verlassen wollen und z.B. keinen CDU-MdL zum Staatssekretär gemacht, weil damit zwingend der Verzicht auf das Landtagsmandat verbunden gewesen wäre. Legte von Boetticher sein Landtagsmandat doch noch nieder (z.B. falls doch noch der „Affären-Flüsterer“ bekannt würde), bekäme das Problem neue Brisanz.
Der verfassungsrechtliche Hintergrund ist schnell skizziert:
In § 50 Abs. 1 Landeswahlgesetz heißt es:
Wenn eine gewählte Bewerberin oder ein gewählter Bewerber stirbt oder die Annahme der Wahl ablehnt oder wenn eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter stirbt oder sonst nachträglich aus dem Landtag ausscheidet, so wird der Sitz aus der Landesliste derjenigen Partei besetzt, für die die ausgeschiedene Person bei der Wahl aufgetreten ist.
Dieser Wortlaut spricht zunächst einmal für die Auslegung der Landeswahlleiterin, denn § 50 unterscheidet nicht nach der Art eines Mandats, z.B., ob es sich um ein Direkt-, Überhang-, Listen- oder Ausgleichsmandat handelt. Aber diese scheinbare Gleichbehandlung ist problematisch: Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Grundsatzentscheidung im Jahr 1998 entgegen der bis dahin im Bund praktizierten Übung entschieden, dass ein Nachrücken von Listenkandidaten in Überhangmandate verfassungswidrig ist. Eine Nachbesetzung scheide solange aus, wie in der fraglichen Fraktion noch Überhangmandate vorhanden sind. Wolle der Gesetzgeber etwas anderes, müsse er dies ausdrücklich regeln.
Der Streit geht nun darum, ob die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts auf die schleswig-holsteinischen Verhältnisse übertragbar ist und § 50 Abs. 1 LWahlG verfassungskonform einschränkend auszulegen ist. Richtig ist, dass das (mittlerweile geänderte) Landeswahlgesetz, auf dem die Zusammensetzung des gegenwärtigen Landtags beruht, anders als im Bund einen Teilausgleich für Überhangmandate vorsieht. Die Landeswahlleiterin will unter anderem deshalb die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht auf das Landtagswahlrecht anwenden.
Aber das dürfte falsch sein, soweit es um die ungedeckten Überhangmandate geht, also jene drei Direktmandate der CDU, die nicht durch Ausgleichsmandate kompensiert worden sind. Denn dem Nachrücker fehlt in dieser Konstellation das wichtigste, was ein Abgeordneter benötigt: demokratische Legitimation.
Konkret betrachtet: Christian von Boetticher wurde im Wahlkreis Pinneberg direkt gewählt, sein Mandat bezieht die Legitimation aus dem Grundsatz der Persönlichkeitswahl. Der potenzielle Nachrücker Frank Sauter ist im Wahlkreis Lübeck-Ost als Direktkandidat angetreten und beim Wahlvolk durchgefallen; die Pinneberger Wähler haben die Person von Boetticher gewählt, niemanden anders, auch nicht die CDU-Landesliste, denn Erst- und Zweitstimme sind im Bundes- und um Landeswahlrecht strikt getrennt; die unmittelbare demokratische Legitimation von Christian von Boetticher kann sich weder Frank Sauter noch sonst jemand „borgen“.
Bleibt also nur eine mögliche Legitimation des Nachrückers aufgrund des Verhältniswahlrechts; das klappt aber ebenfalls nicht, denn die ungedeckten Überhangmandate sind ja gerade jene Mandate, die die CDU über das Verhältniswahlrecht bzw. ihren Zweitstimmenanteil hinaus erhalten hat. In der Diktion des Bundesverfassungsgerichts: Die ungedeckten Überhangmandate „werden nur von der Mehrheit der Erststimmen und nicht auch von dem Erfolg der Zweitstimmen getragen“ (BVerfGE 97, 317, 325). Und dies gilt fraglos gleichermaßen für Überhangmandate im Bund wie für ungedeckte Überhangmandate in Schleswig-Holstein.
Diese fehlende demokratische Legitimation des Listennachfolgers in ein Überhangmandat wiegt verfassungsrechtlich sehr, sehr schwer und kann nicht durch andere praktisch-politische oder verfassungsrechtliche Argumente, wie sie die Landeswahlleiterin ins Feld führt, aufgewogen werden. Dies ist auch das eindeutige Ergebnis eines unveröffentlichten, 12-seitigen Gutachtens des Wissenschaftlichen Dienstes des Landtages aus dem Oktober 2009 (dort werden auch, wofür hier der Platz fehlt, sämtliche weiteren Argumente der Landeswahlleiterin fein säuberlich seziert, bis nichts mehr von ihnen übrig ist). Im Gutachten heißt es am Ende unmissverständlich:
Der Anwendungsbereich des § 50 Abs. 1 LWahlG ist verfassungskonform dahingehend einzuschränken, dass eine Nachbesetzung solange ausscheidet, wie in der jeweiligen Fraktion noch nicht vom Verhältnisausgleich gedeckte Sitze vorhanden sind.
Deshalb seien die drei ungedeckten Überhangmandate der CDU-Fraktion nicht nachbesetzungsfähig.
Neben den Stellungnahmen der Landeswahlleiterin und des Wissenschaftlichen Dienstes gibt es kaum dezidierte Äußerungen zur Anwendbarkeit von § 50 Abs. 1 LWahlG auf ungedeckte Überhangmandate. Im Aufsatz „Offene Fragen im schleswig-holsteinischen Wahlrecht“ (NordÖR 2010, 131 ff.) diskutieren die Autoren Prof. Florian Becker und Frederik Heinz die Thematik ausführlich, betonen, dass es „keinerlei demokratische Legitimation für einen Nachrücker“ gibt, können sich letztlich aber zu einem eindeutigen verfassungsrechtlichen Urteil nicht durchringen und sehen den Gesetzgeber gefordert.
Wie würde angesichts dieser Diskussionslage das Landesverfassungsgericht entscheiden? Auch wenn das Gericht in seinen Entscheidungen zum Landeswahlgesetz im August 2010 dazu nicht Stellung bezogen hat, entspräche es doch dem Geist dieser Entscheidungen, das Nachrücken in ungedeckte Überhangmandate nicht zu dulden. Es könnte sich dabei auf eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts in Schleswig aus dem Jahr 2000 (NordÖR 2001, 69 ff) stützen, nach dessen Leitsatz „anders als im Bundes- und Landeswahlrecht im Kommunalwahlrecht Schleswig-Holstein das Nachrücken eines Listenbewerbers in ein sog Überhangmandat zulässig“ ist. Und es könnte das Urteil des Landesverfassungsgerichts in Brandenburg zu Rate ziehen, demzufolge der Ansatz des Bundesverfassungsgerichts auf das (mit unserem Landeswahlgesetz nicht identische, aber vergleichbare) brandenburgische Landeswahlrecht übertragbar und ein Nachrücken von der Landesliste in nicht ausgeglichene Überhangmandate deshalb unzulässig ist (Urteil v. 12.10.2000, Az. 19/00).
Sollte die Landeswahlleiterin bei ihrer Auffassung bleiben und das Nachrücken erlauben, würde diese Entscheidung zweifellos vor dem Landesverfassungsgericht angefochten werden. Das Risiko einer neuerlichen verfassungsrechtlichen Klatsche ist so groß, dass man auf Regierungsseite diese Situation offenbar unbedingt vermeiden möchte. Ganz darf die CDU es sich mit Christian von Boetticher also nicht verderben, will man nicht die nächste Verfassungs- und Regierungskrise provozieren.
Ich finde es unerträglich, dass die Landespolitik scheinbar nicht in der Lage ist, ein Wahlrecht zu schaffen, das in seiner Auslegung eindeutig ist. Schwer verständlich ist auch das Konstrukt der „ungedeckten Überhangmandate”, die ja den Wählerwillen verfälschen.
Denn mit der Erststimme bestimmt der einzelne Wähler den Direktkandidaten. Alle Erststimmen für andere Kandidaten als den Wahlkreissieger verfallen ersatzlos. Um dennoch eine repräsentative Zusammensetzung des Landtags gemäß Wählerwillen der Bevölkerung zu erreichen, existiert die Zweitstimme. Werden nun – aus Erststimmen resultierende – Überhangmandate nicht ausgeglichen, wird die Zweitstimme gegenüber der Erststimme eindeutig entwertet: Alle Direktkandidaten werden gewählt, aber die Stimmen zur Bestimmung der prozentualen Zusammensetzung des Landtages gelangen nicht vollständig zur Anwendung.
Ebenfalls unglücklich ist es in meinen Augen allerdings auch, dass durch ausscheidende Direktkandidaten die Mehrheitsverhältnisse im Landtag geändert werden. Knappe Mehrheiten werden wir immer wieder erleben und es wäre schön, wenn diese sich nicht mehrfach im Laufe einer Parlamentsperiode verändern oder wenn die Besetzung von Ämtern nicht nach Qualifikation erfolgt, sondern – wie Ulf Kämpfer es richtig beschreibt – danach, ob man für ein Amt sein Mandat aufgeben muss. Es wird beispielsweise ziemlich laut gemunkelt, dass zu Beginn der aktuellen Landtagsperiode der Wirtschaftsminister und neue Spitzenkandidat der CDU eigentlich für den Posten des Staatssekretärs und nicht für den des Ministers vorgesehen war.
Ulf Kämpfer schreibt: „Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Grundsatzentscheidung im Jahr 1998 entgegen der bis dahin im Bund praktizierten Übung entschieden, dass ein Nachrücken von Listenkandidaten in Überhangmandate verfassungswidrig ist. Eine Nachbesetzung scheide solange aus, wie in der fraglichen Fraktion noch Überhangmandate vorhanden sind. Wolle der Gesetzgeber etwas anderes, müsse er dies ausdrücklich regeln.” Das sollte der Gesetzgeber wollen und dementsprechend sind alle Parteien im Landtag aufgerufen, endlich für ein klares, verlässliches und faires Wahlrecht zu sorgen.
Die meisten Probleme des alten Wahlrechts haben sich durch die Wahlrechtsnovelle dieses Frühjahrs erledigt. Da nunmehr alle Überhangmandate ausgeglichen werden, wird es im neuen Landtag weder bei der Erfolgswertgleichheit noch beim Nachrücken Probleme geben. Ein Problem bleibt aber: Wegen der marginalen Verringerung der Wahlkreise kann (nicht: muss) es auch zukünftig immer wieder einmal zu stark aufgeblähten Landtagen kommen.
Die meisten Probleme des alten Wahlrechts haben sich durch die Wahlrechtsnovelle dieses Frühjahrs erledigt. Da nunmehr alle Überhangmandate ausgeglichen werden, wird es im neuen Landtag weder bei der Erfolgswertgleichheit noch beim Nachrücken Probleme geben. Ein Problem bleibt aber: Wegen der marginalen Verringerung der Wahlkreise kann (nicht: muss) es auch zukünftig immer wieder einmal zu stark aufgeblähten Landtagen kommen.
„Eine Nachbesetzung scheide solange aus, wie in der fraglichen Fraktion noch Überhangmandate vorhanden sind. Wolle der Gesetzgeber etwas anderes, müsse er dies ausdrücklich regeln.” Zumindest da steht nichts von gedeckt oder ungedeckt. Ist das Deiner Meinung nach jetzt eindeutig geregelt?
Zur Größe des Landtags hat sich Swen Wacker ja bereits ausführlich hier im Landesblog geäußert…