Neuwahlen - aus Anstand

Von | 21. August 2011

Ich woll­te, ich wäre wütend. Aber alles was ich spü­re, ist fremd­schä­men.

Wie kei­ne ande­res Land in die­ser Republik haben wir erle­ben müs­sen, wie Verlogenheit, Intrigen und Machtversessenheit Regierungen, Parteien und ab und an auch Menschen in den Abgrund rei­ßen. Schlimmer noch: Es scheint, als ob Verlogenheit, Intrigen – und viel­leicht auch Machtversessenheit – immer noch Werkzeuge des poli­ti­schen Handelns sind.

Wir haben den Untergang eines per­fi­den Machterhaltungsapparates unter Uwe Barschel mit­er­lebt. Wir haben das Ende des so gran­di­os gestar­te­ten Neuanfangs unter Björn Engholm gese­hen. Wir haben die pein­li­che Melange aus Verlogenheit, Intrigen und Machtversessenheit, die Heide Simonis’ poli­ti­schen Abgang besie­gel­te, in leb­haf­ter Erinnerung.

2004, auf einem Parteitag der CDU in Norderstedt, wur­de einer zum Spitzenkandidaten sei­ner Partei gewählt und sag­te unter auf­bran­den­dem Beifall der Delegierten, er wol­le als Ministerpräsident „an die gro­ßen Zeiten von Gerhard Stoltenberg und auch von Uwe Barschel anknüp­fen“. Jetzt, 2011, fährt er die Ernte ein.

Die Pressemeldungen der letz­ten Tagen ver­dich­ten ein Bild von Intrigen und Ränkespielen. Die Süddeutsche Zeitung berich­tet von Intrigen im eige­nen Hause, der Focus will wis­sen, dass die Ränkeschmiede in der Jungen Union sit­zen und viel­leicht sogar in der Kieler Parteizentrale zu suchen sind. Der dort sit­zen­de Landesgeschäftsführer Daniel Günther, zugleich Landtagsabgeordneter, sag­te der FAZ, er habe schon im Frühjahr durch ein JU-Mitglied Kenntnis von den Gerüchten erlangt, will die aber nicht wei­ter ver­folgt haben. Christian von Boetticher sagt dem Focus, sei­ne poli­ti­scher Ziehvater habe „lei­der den Eindruck erweckt, ich sei ein poli­ti­scher Autist“. Die Bild am Sonntag gibt dem ehe­ma­li­gen Landesvorsitzenden, Spitzenkandidaten, Fraktionsvorsitzenden und Hoffnungsträger der Nord-CDU reich­lich Platz, um sei­ne Sicht der Dinge zu schil­dern – was in der Aussage gip­felt, dass er, von Boetticher, mor­gen (Montag) sei­ne Koffer packen und Schleswig-Holstein „für lan­ge Zeit“ ver­las­sen wer­de.

Das sind kein „Aufräumarbeiten bei der CDU Schleswig-Holstein“ von denen Stephan Richter vom Flensburger Tageblatt noch ges­tern im Deutschlandfunk sprach. Keine noch so schwa­che poli­ti­sche Brust des nai­ven Spitzenkandidaten recht­fer­tigt sol­che Intrigen. Im Gegenteil zeugt sie von der wenigs­tens eben­so gro­ßen Naivität der­je­ni­gen, die ihn einst aufs Schild hoben. Das übli­che Verfahren wäre „Augen zu und durch“ gewe­sen. Wusste doch jeder, dass die nächs­te Wahl kaum gewon­nen wer­den kön­ne, der jet­zi­ge Kandidat sich nur ver­schlei­ßen kön­ne und dann Platz für den „rich­ti­gen“ machen wer­de. Das ist nicht sau­ber, aber auch nicht ehr­ver­let­zend son­dern Politik. Mit Moral hat das nichts zu tun. Will man aber an Politiker beson­de­re mora­li­sche Maßstäbe anle­gen, dann müs­sen sich nicht nur der an sich selbst geschei­ter­te von Boetticher son­dern auch die Heckenschützen in sei­ner Partei dar­an mes­sen las­sen. Oder will einer ihr schä­bi­ges Tun „der höhe­ren Dinge wegen” recht­fer­ti­gen? Christen, die die Bergpredigt ken­nen, kom­men jeden­falls nicht auf sol­che Ideen.

Und wäre das nicht schon genug Verlust an Ämtern und Würde, da dräut es auch noch von ande­rer Stelle: Bei Plagipedi fin­det sich ein Eintrag zu sei­ner Doktorarbeit. Dort wer­den – ohne wei­te­ren Anhaltspunkte, Begründung oder Belege – Vermutungen ange­stellt. Seine Arbeit ist näm­lich wäh­rend sei­ner Zeit im Europäischen Parlament ent­stan­den. Und da er dort „inten­si­ven Zugang zum Forschungsdienst und wis­sen­schaft­li­chen Mitarbeitern“ gehabt habe, lie­ge es nahe, „ähn­li­che Vorgänge wie bei Koch Mehrin bzw. zu Guttenberg zu ver­mu­ten“. Update: Dirk Hundertmark, Pressesprecher der CDU-Landtagsfraktion, mach­te mich auf einen Artikel der LN vom 17.07.2011 auf­merk­sam, der Wind aus den Segeln nimmt. Das dor­ti­ge Zitat von Herrn von Boetticher „Vor die­sem Hintergrund ist klar, dass ich auch den Wissenschaftlichen Dienst des Europäischen Parlaments nicht mit Recherchen beauf­tragt haben kann“ bezieht sich offen­sicht­lich auf den bei Plagipedi erho­be­nen Vorwurf.

Soviel ehe­ma­lig der ehe­ma­li­ge Shootingstar der CDU auch ist, eines ist (neben sei­ner Mitgliedschaft in der CDU – aber wer weiß das schon so genau in die­ser schnell­le­bi­gen Zeit) er noch: Landtagsabgeordneter.

Und als sol­cher muss er in der nächs­ten Woche im Landtag im Plenum Platz neh­men. Macht er das nicht, dann ist die Ein-Stimmen-Mehrheit der Regierungsfraktionen futsch. Und mit dem Rücktritt vom Landtagsmandat ist das so eine Sache. Ulf Kämpfer hat das im Landesblog jüngst aus­führ­lich dar­ge­stellt. Dann ist die Ein-Stimmen-Mehrheit eben­falls futsch.

Nun gibt es zwi­schen CDU und Grünen ein Pairing-Abkommen. Solche Abkommen sind Gebote par­la­men­ta­ri­scher Fairness: Für jeden kran­ken oder aus ande­ren zwin­gen­den Gründen ver­hin­der­ten Abgeordneten der Regierungsseite bleibt ein Politiker der Opposition einer Abstimmung fern. Praktisches Beispiel ist die Abwesenheit von Mark-Oliver Potzahr, der seit einen Schlaganfall im August schwer erkrankt ist. Das führt zu kei­ner­lei Veränderungen der Mehrheitsverhältnisse. Im Normalfall ist das auch gut so.

Aber hat die­ses Pairingabkommen noch Bestand, wenn „CvB“ am Mittwoch nicht erscheint? Wohl kaum, fin­de ich. Denn die Gründe für sei­ne Abwesenheit sind haus­ge­macht, nicht aber unab­wend­ba­res Schicksal jen­seits der Politik. Es ist nicht die Aufgabe der Opposition, die Regierungsmehrheit künst­lich am Leben zu erhal­ten.

Die Mehrheit scheint also dahin. Im Landtag der nächs­ten Woche ste­hen sich, wenn von Boetticher nicht in sich kehrt, CDU und FDP sowie die Opposition aus SPD, Grünen, Linke und SSW mit glei­cher Stimmenzahl gegen­über. Und wer wür­de es Christian von Boetticher ver­übeln wol­len, wenn er nicht käme?

Und wei­ter: Werden die Grünen über­haupt noch zu dem Pairingabkommen ste­hen kön­nen, wenn sich her­aus­stellt, was in den Presseberichten des Wochenendes steht? Kann sich das Land Schleswig-Holstein eine Regierung leis­ten, deren größ­te Fraktion ihre Energie nicht in der Gestaltung der Zukunftsfähigkeit unse­res Landes steckt son­dern in die akri­bi­sche Demontage eines Parteimitgliedes? Oder ist es nicht anstän­di­ger, dem Treiben ein schnel­les Ende zu berei­ten, die Notbremse zu zie­hen?

Und die FDP? Kann sie es sich leis­ten, in Treue fest zu einem Koalitionspartner zu ste­hen, von dem kei­ne Handlungsfähigkeit mehr zu erwar­ten ist. An des­sen Seite man kei­ne Profil gewinnt, son­dern für ein „Weiter so“ steht? Ein Festhalten an der Regierung ohne Chance zur eigen­stän­di­gen Profilierung jen­seits der BundesparteiMutterpartei und des schwan­ken­den Koalitionspartners erscheint wie einen Einladung zur eige­nen Beerdigung. Mitgefangen, mit­ge­han­gen?

Was wol­len wir mit einer Regierung, von der land­auf land­ab immer mehr fra­gen, was die eigent­lich noch machen? Die kei­ne Mehrheit mehr im Parlament hat? Um mal ein paar Beispiele zu nen­nen, die mich bewe­gen: Ein Parlament, das

  • kei­nen GEZ-Staatsvertrag mehr beschlie­ßen kann,
  • das kein Landesdatenschutzgesetz novel­lie­ren kann,
  • das kein Glücksspielstaatsvertragsgesetz mehr beschlie­ßen oder ein schles­wig-hol­stei­ni­schen Sonderweg beschrei­ten kann?

Der ein­zig hand­lungs­fä­hi­ge und -wil­li­ge poli­ti­sche Akteur im Lande ist augen­blick­lich der (unab­hän­gi­ge) Landesdatenschutzbeauftragte, der mit den Bürgern und Unternehmen in Schleswig-Holstein als Faustpfand gegen Facebook wind­müh­len­kämpft?

Wenn es nur ein wenig Anstand und Vernunft in die­sem Lande und in dem hohen Hause an der Kieler Förde gibt, dann wird es nächs­te Woche einen Rücktritt des Ministerpräsidenten geben und sieb­zig Tage spä­ter, im November, Neuwahlen.

Und wenn das nichts hilft dann, soll­ten die Grünen das Pairingabkommen kün­di­gen und der Landtag durch ein kon­struk­ti­ves Mißtrauenvotum eine SSW-Abgeordnete zum Ministerpräsidentin wäh­len, deren ein­zi­ge Aufgabe es sein wird, den Landtag auf­zu­lö­sen. Dann haben wir sieb­zig Tage spä­ter, im November, Neuwahlen. Aus Anstand.

Von:

Swen Wacker, 49, im Herzen Kieler, wohnt in Lüneburg, arbeitet in Hamburg.

5 Gedanken zu “Neuwahlen - aus Anstand”:

  1. Axel

    Nein, Swen, es geht eben nicht um Anstand. Es geht um Macht.
    Und die ist poli­tisch eben auch nicht sta­bil (für weni­ge Tage) mit einer SSW Ministerpräsidentin.

    Von Nichtsnutz Verantwortung zu erwar­ten, hie­ße sei­ne Regierungszeit zu negie­ren. Das Schlachten von Christian aus den eig­nen Reihen ist zudem ein Musterstück des Wertes der CDU. Über die  Rolle der FDP brau­chen wir uns nicht strei­ten.

    Nur wer soll die Macht über­neh­men?
    Und damit sind wir beim Problem mit Umwälzungen (- oder um es vor­sich­ti­ger zu for­mu­lie­ren: Von Richtungswechseln). Es ist nicht klar in wel­che Richtung es gehen wird. Und das gilt hier gera­de für Grüne und SPD. Die sind noch nicht so weit — das Bild ver­mit­teln sie jeden­falls in der Öffentlichkeit… Es geht aber nur mit ihnen — bei­den.

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    1. Kai Dolgner

      Och da fin­det sich schon jemand, da gibt es doch die bei­den Labormäuse mit dem schö­nen Ohrwurm und mit Intrigen ken­nen sie sich sys­tem­über­grei­fend aus ;-):

      Pinky: Russia! I’ve heard of that place! Isn’t it full of chea­ting, lying and back­stab­bing intrigue?Brain: The Cold War is over Pinky. Now Russia is a place of free-mar­ket capitalism.Pinky: What’s free-mar­ket capitalism?Brain: Erm… chea­ting, lying and back­stab­bing intri­gue

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  2. Oliver Fink

    Ich muss geste­hen, dass ich den Punkt des Pairings ein wenig anders sehe, Swen. Ich fin­de die Haltung der Grünen (http://www.ltsh.de/presseticker/2011 – 08/​22/​14 – 29-22 – 5fab/​ ) in die­sem Punkt sehr rich­tig: Für die kom­men­de Landtagssitzung eine gesund­heit­lich begrün­de­te Abwesenheit zu akzep­tie­ren. Auch die Begründung fin­de ich nach­voll­zieh­bar: „[…] wir akzep­tie­ren auch, dass die Situation ­- wie immer sie zustan­de gekom­men ist ­- psy­chisch sicher eine Ausnahmesituation ist.” Bisher ist eben nicht end­gül­tig bewie­sen, dass die CDU die­se Situation selbst her­bei­ge­führt hat, auch wenn ich das für sehr wahr­schein­lich hal­te.

    Richtig ist eben­so die Ansicht der Grünen, dass sich das nicht zum Dauerzustand ent­wi­ckeln kann und vor allem nicht für eine neue, mit dem Landtagsmandat nicht ver­ein­ba­re neue Lebensplanung von Boettichers gel­ten kann. Dann darf und – so sieht es nach der Ankündigung der Grünen auch aus – wird das Pairing für die­sen Fall nicht mehr grei­fen. In mei­nen Augen ein unauf­ge­reg­tes und dabei doch kon­se­quen­tes Vorgehen.

    Der Artikel beklagt doch ande­rer­seits gera­de „Verlogenheit, Intrigen und Machtversessenheit” der poli­ti­schen Akteure. Ich fin­de, dass die Grünen sich mit ihrer Entscheidung hier wohl­tu­end anders ver­hal­ten – ins­be­son­de­re hin­sicht­lich des letz­ten Aspekts.

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  3. Hans-Dirk Kämpfer

    Ich den­ke, für vor­ge­zo­ge­ne Neuwahlen kann es nur einen Grund geben:
    Die Regierung hat das Vertrauen der Mehrheit der Abgeordneten aus poli­ti­schen Gründen ver­lo­ren.
    Und nicht: Weil ein Abgeordneter gestor­ben ist, krank oder aus ande­ren ein­schnei­den­den Ereignissen per­sön­li­cher Art nicht an Landtagssitzungen teil­neh­men kann oder mag.
    Das Wahlgesetz soll­te dies bei Nachrückregeln berück­sich­ti­gen.
    Die Fraktionen soll­ten dies dort, wo das Wahlgesetz nicht greift, durch Pairing-Regeln berück­sich­ti­gen.
    Wenn die Regierung etwa durch Abspaltung der WASG von der SPD ihre Mehrheit ver­liert, sind dies poli­ti­sche Gründe. Die Abgeordneten han­deln als Vertreter des gesam­ten Volkes nur ihrem Gewissen ver­pflich­tet und ver­mu­ten viel­leicht sogar, dass grö­ße­re Teile der Wählerschaft ähn­li­che Meinungsumschwünge voll­zie­hen.
    Wenn hin­ge­gen der Abgeordnete Potzahr krank oder der Abgeordnete von Boetticher viel­leicht per­sön­lich tief ver­letzt nicht im Landtag erscheint, hat das kei­ne hin­rei­chen­den poli­ti­schen Gründe. Dann ist Pairing anstän­dig. Nicht Neuwahlen.

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