Die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), das sind 34 Länder auf der ganzen Welt, die eint, dass sie sich zu Demokratie und Marktwirtschaft bekennen. Sie ist kein Teil der UNO, finanziert sich aus Beiträgen ihrer Mitglieder, sitzt in Paris, veröffentlicht reichlich Statistiken und Berichte und ist in Deutschland spätestens seit ihren PISA-Berichten ein Garant für unbequeme Wahrheiten.
Gestern hat die OECD ihren Bericht „Bildung auf einen Blick“, gespickt mit allerlei Daten zu den Bildungssystemen der OECD-Länder (PDF-Datei, ca. 6 MB), vorgelegt. Deutschland kommt nicht gut weg: Der Anteil der Hochqualifizierten ist in Deutschland seit fünf Jahrzehnten kaum gewachsen. In den 50er Jahren erwarb bei uns etwa jeder fünfte junge Erwachsene einen Hoch- oder Fachschulabschluss oder einen Meisterbrief. Heute ist es etwa jeder Vierte. Das war vor einem halben Jahrhundert ein Platz im Mittelfeld, heute sind wir ziemlich weit unten. Fortschritt hat es in Deutschland in diesem Bereich also kaum gegeben. Mit 7 Prozentpunkten haben wir die geringste Zuwachsrate aller OECD-Länder.
Der Bericht stellt fest, dass ein Abschluss in diesem Bereich (tertiärer Bereich genannt, primärer Bereich ist die Grundschule, sekundärer Bereich sind die weiterführenden Schulen) was Tolles ist. Bis auf Glück im Spiel und besseren Sex ist eigentlich alles dabei, was ein Gesellschaft sich wünscht:
- Die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie sonst in keiner Bevölkerungsgruppe.
- Die Verdienstmöglichkeiten sind deutlich mit dieser Ausbildung verknüpft.
- Zufriedenheit und positive Einstellung zur Gesellschaft hängen mit höherwertigen Abschlüssen zusammen.
- Mitglieder dieser Gruppe arbeiten mehr ehrenamtlich.
- Die Wahlbeteiligung steigt mit der Qualität der Abschlüsse.
Bildung rechnet sich auch: Neben den emotionalen und gesellschaftlichen Vorteilen kommt noch noch ein klarer wirtschaftlicher Gewinn für den Staat heraus. Die Pariser Behörde rechnet uns vor: Außer den USA gibt es kein anderes Land, in dem staatliche Investitionen in Universitäts-, Fachschul- oder gleichwertige Bildung einen so großen Kapitalwert abwerfen wie in Deutschland. 169.000 US-Dollar bleiben kaufkraftbereinigt und auf ein Arbeitsleben gerechnet übrig, wenn man die vom Staat erbrachten Kosten für den höheren Abschluss eines Mannes mit dem Nutzen für die öffentliche Kasse verrechnet.
Und die Praxis: Gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) sind die Investitionen in Bildung in den vergangenen Jahren zurückgegangen: 1995 gaben wir noch 5,1 Prozent des BIP für Bildungseinrichtungen aus. 2008 waren es nur noch 4,8 Prozent. Reichten die Ausgaben in der Mitte der 90er Jahre noch für einen Platz im Mittelfeld der OECD-Länder, sind die Investitionen heute fast überall höher als in Deutschland, nur Tschechien und die Slowakei liegen hinter uns. Die Länderanalyse ist beschämend.
Aus den 613 Seiten starken Gesamtbericht fiel mir beim schnellen Blättern eine Statistik besonders in Auge. Ich bin kein Bildungsexperte, halte das aber trotzdem für extrem frustrierend. Die OECD geht auf Seite 35 der Frage nach, über welche Bildungsabschlüsse Erwachsene verfügen. Sie vergleicht dabei den Anteil der 25- bis 34-Jährigen, also den Berufsanfängern, mit dem entsprechende Anteil in der Generation, die den Arbeitsmarkt bald verlassen wird, also den 55- bis 64-Jährigen.
Dieser Vergleich zeigt in meinen Augen, wie sich eine Generation langfristig entwickelt, also überzeugt jenseits der Frage, ob es in dem vergleichsweise kurzen Zeitraum zwischen 1995 und 2008 zu irgendwelchen kurzfristigen Änderungen gekommen ist. Wir sehen, das sich in Deutschland seit 30 Jahren auf niedrigem Niveau nichts bewegt: Ungefähr 25 Prozent haben heute einen Abschluss im tertiären Bereich, unverändert seit dreißig Jahren. In einer Gesellschaft, die in diesem Zeitraum wohlhabender, gesünder und fortschrittlicher geworden ist, ist das mit dem Begriff Armutszeugnis sehr höflich beschrieben. Man schaue sich nur die Entwicklungen fast aller anderen Länder an.
Das kann nicht nur etwas mit dem zu überwindenden „Kooperationsverbot in der Bildungspolitik“, einer nötigen besseren (finanziellen) Förderung von Bund und Länder Hand in Hand oder einem zu fordernden ausfinanzierten Bildungssystem von der Wiege bis zur Bahre, von denen CDU, Grüne und Linke im Lande gestern sprachen, zu tun haben. Die Gründe müssen tiefer liegen.
Geld allein macht nicht schlauer. Uns fehlt es in Deutschland an etwas sehr viel Grundlegenderem: An einem Konzept; oder wenigstens an einer Idee. PISA, IGLU, TIMSS, Bildungsbericht 2011 – wieviel Berichte braucht es noch, damit es auch der letzte merkt: Der Bildungsföderalismus reitet uns seit Jahrzehnten nachhaltig und ungebremst immer tiefer in den Dreck. Der vielbeschworene Effekt eines „Wettbewerbs der Länder“ trat und tritt nie ein. Warum soll sich das Morgen auf einmal ändern? Die Kultusministerkonferenz — übrigens kein gelegentlicher Treff von 16 Kultusministern sondern eine stattliche Behörde mit über 220 Planstellen, die größtenteils noch in der alten Bundeshauptstadt Bonn thront — war schon vor Jahren ein Jahrmarkt der Eitelkeiten. Gelegentliches Abflachen des Sinkflugs, wie nach PISA, war und ist nie ein Grund zum Aufatmen gewesen; zumal es sich nur um Teilaspekte handelte. Eine Trendwende hingegen war und ist nicht in Sicht. Darauf zu warten ist vertane Zeit. Ein für die Bildungspolitik zuständiger Bund kann eigentlich nichts mehr falsch machen, so schlecht steht es um das System; egal, was er macht, es kann eigentlich – und hoffentlich – nur noch besser werden.
Und wo waren jetzt noch einmal die konkreten Vorteile der Bundeszuständigkeit?
Das war nicht Thema des Artikels. Mir persönlich reicht es schon aus, dass die Länder in 50 Jahren nachhaltig dazu beigetragen haben, dass wir in Bildungsfragen zu den weltweiten Schlußlichtern gehören und wir bis heute ein ständischens Schulssystem erhalten haben, dass Bismarcksche Züge trägt. Die Länder machen in meiner Vorstellung eines Förderalismus alles, wenn nicht erkennbar ist, dass die Notwendigkeit zur Einheitlichkeit eine Bundeszuständigkeit als „besser” erkennen lässt. Tatsächlich leben wir in einem kooperativen Föderalismus, in dem, etwas platt formuliert, der Bund bestimmt und die Länder ausführen. Im Bildungsbereich gibt es in diesem System einen Bruch, der nicht inhaltlich hergeleitet, sondern nur politisch erklärt werden kann. Stichworten wie Bildungsstandards, Lehrerstudium oder Mobilität legen nahe (ohne dass ich das jetzt im Detail ausführe), dass eine Zuständigkeit der Länder schon inhaltlich nicht geboten ist. Zu sehr ist zu befürchten, dass der notwendige Zwang zur Kohärenz zu Reibungsverlusten und Stillstand führt. Da sie darüberhinaus, wie eingangs beschrieben, auch in der Sache versagt haben, bleibt der Bund übrig. Dort ist die Regelung sachlich richtig anzusiedeln.
Hmmmm…
Finde ich etwas unglücklich, einmal, weil ich den Istzustand etwas sehr knapp und negativ beschrieben finde, und zum anderen, weil ich keine Begründung erkennen kann, wieso der Bund es besser machen sollte; letztlich hat der Bund auch keine Anreize, zu einem besseren Bildungswesen beizutragen, und insofern würde ich das auch nicht erwarten. Die Möglichkeit, daß er es vielleicht könnte, ist eine notwendige, keine hinreichende Bedingung.
Wenn das Bildungswesen tatsächlich verbessern wollte, würde ich es eher stärker auf die kommunale Ebene herunterbrechen, und über Gutscheinsysteme à la Friedman nachdenken; das ist ziemlich das Gegenteil einer Bundeszuständigkeit.
Ich dachte irgendwann einmal, ich stände mit der Forderung nach einer Kommunalisierung der Bildungspolitik einigermaßen allein. Doch die Zahl der Befürworter scheint stetig zu steigen. Sehr gut.
Ich habe auf die relevanten Studien über unser Schulsystem in meinem Artikel verwiesen. Ich kenne keine positiven internationalen Untersuchungen über das deutschen Schulsystem. Wenn Ihnen da was fehlt, dann erklären Sie doch mal bitte, was am derzeitigen Ist-Zustand gut ist und mit welcher Begründung die Zuständigkeit weiterhin bei den Ländern bleiben soll.
Ihr Argument gegen den Bund geht ins Leere. Welchen Anreiz soll denn ein Land haben, das der Bund nicht hätte? Welche „notwendige” Bedingungen sprechen denn für die Länder? Welche Fortschritte haben die Länder denn erreicht? Welchem Irrtum unterliegt die Mehrheit der Bevölkerung, die den Ländern die Zuständigkeit wegnehmen möchte?
Solange die Zuständigkeit bei den Ländern liegt, wird es keine größere Autonomie der Kommunen (genauer: der Schulen) geben. Bei Bundeszuständigkeiten, die klare zu erfüllende Rahmenbedingungen und Ziele vorgeben und damit finanzielle Zuwendungen garantieren, wird es unvermeidbar (durch den Wegfall der Länderbehörden) zu autonomeren Schulen kommen. Eine Verstärkung der Autonomie in den Schulen bei Beibehaltung der unterschiedlichen und divergierenden Länderregelungen lässt für mich keine erkennbaren Vorteil entstehen. Wo sollen die liegen? Was soll da besser werden? Wie sichert das die finanziellen Autonomie der Schule? Wie verbessert das die Ausbildung der Lehrer? Wie werden Lehrkompetenzen dadurch verbessert? … Wenn Sie ihre Ideen in einem Artikel darlegen wollen, dann biete ich Ihnen einen Gastartikel (natürlich unter Klarnamen) im Landesblog an.
Vielen Dank für das Angebot eines Gastartikels, leider fehlt mir ein wenig die Zeit.
Im Prinzip ist die Sache ganz einfach:
— Es gibt einen Status Quo.
— Eine Änderung des Status Quo verursacht in jedem Fall ganz unvermeidlich nicht unerhebliche Transaktionskosten.
— Die Änderung des Status Quo ist also nur dann vorteilhaft, wenn die aus dieser Änderung resultierenden Vorteile diese besagten Transaktionkosten einigermaßen sicher übersteigen.
— Insofern wäre im Falle des Wunsches nach einer Änderung vorher überzeugend darzulegen, daß die Auswirkungen dieser Änderung:
1. überhaupt insgesamt positiv ausfallen
2. außerdem die genannten Transaktionskosten übersteigen.
— Und, sorry, eine solche Darlegung sehe ich bisher nicht. In einer hypothetischen Welt ohne Transaktionskosten, in der man solche Änderungen ex cathedra verfügen kann und sie dann friktionslos umgesetzt werden, mag eine solche Rechnung vielleicht noch aufgehen (selbst da wäre ich skeptisch), aber in einer realen Welt, in der man im Rahmen von Verhandlungen wohl das GG ändern müste und das resultierende Verhandlungsergebnis zwischen Bund und Ländern noch gar nicht abschätzen kann, finde ich die zahlreichen impliziten Annahmen des obigen Beitrages reichlich gewagt, um nicht zu sagen spekulativ.
MfG