Nach vorn schauen

Von | 22. September 2011

Politik pas­siert heu­te, mit Blick auf die Zukunft. Politik ist aktiv, gestal­tet und regelt. Wenn der Blick nach vorn nicht so schön ist und die not­wen­di­gen Konsequenzen, zumal vor Wahlen, dem Wähler nicht gefal­len könn­ten, dann flüch­tet man sich gern in Allgemeinplätze oder schimpft auf die Vorgängerregierung.

Solches Genöle kommt beim Publikum nicht an. Man ist ja viel­leicht Wechselwähler und will sich nicht krän­ken las­sen. Außerdem ist jam­mern oder meckern kein Zeichen von Handlungswillen und wird mit Schwächlichkeit ver­bun­den. Allein die Stamm(tisch)wählerschaft applau­diert. Mit dem Finger auf ande­re zu zei­gen löst kein Problem. Denn es ist nicht aktiv, gestal­tet und regelt nicht.

In der Finanzpolitik ste­hen wir vor har­ten Herausforderungen. Die erge­ben sich aus der aktu­el­len wirt­schaft­li­chen und kon­junk­tu­rel­len Krisensituation. Und natür­lich auch aus den feh­ler­haf­ten Entscheidungen der letz­ten 60 Jahre. Das ver­lockt natür­lich zum mit-dem-Finger-auf-ande­re-zei­gen. Schnell wer­den die Vorgänger als cha­rak­ter­los ver­un­glimpft oder der jewei­li­ge poli­ti­sche Gegner zur Wurzel allen Übels erklärt. „Wenn die nicht so cha­rak­ter­los gewe­sen wären, dann könn­te ich ja, wie ich woll­te und müss­te jetzt nicht, wie ich nicht will …“. Ach, man hat es nicht leicht und müh­se­lig ist es auch noch.

Ich habe ein paar ziem­lich tro­cke­ne Statistiken zusam­men­ge­stellt, die in mei­nen Augen klar machen, dass wir eine kon­ti­nu­ier­li­che Fehlentwicklung im Nachkriegs-Schleswig-Holstein (und nicht nur dort) hat­ten. Verschärft durch aktu­el­le glo­ba­len Herausforderungen und loka­len Katastrophen (HSH) kom­men wir des­halb heu­te um eine Schuldenbremse nicht mehr her­um kom­men. Ich hat­te die Unausweichlichkeit in die­sem Artikel schon mal dis­ku­tiert.

Das ers­te, was uns ein­fällt, wenn wir an zu bekla­gen­de Schulden den­ken, sind Begriffe wie „Höhe der Schulden“ und „zu zah­len­de Zinsen“. Solche Zahlen und Beträge haben den gran­dio­sen Nachteil, dass sie ohne Relation und ohne Wissen um die Einnahmesituation nicht aus­sa­ge­kräf­tig sind. Das ken­nen wir aus unse­rem pri­va­ten Leben, wenn wir uns Gedanken dar­über machen, ob wir uns einen Küchenschrank, ein Auto oder gar ein Haus auf Raten kau­fen wol­len.

Betrachten wir die Zahlen für die letz­ten 40 Jahre (die ich dem Umdruck 17/​2495 ent­nom­men habe), dann sehen wir, dass die Höhe der Schulden und die Ausgaben für Zinsen ste­tig stei­gen. Weder in schwar­zen noch in roten Jahren wird es wirk­lich bes­ser.

Fundierte Schulden in Mio € / Quelle: Umdruck 17/2495

Fundierte Schulden in Mio € /​ Quelle: Umdruck 17/​2495

In die Jahren von 1970 bis 1987 sowie seit 2005 regier(t)en die CDU-Ministerpräsidenten Lemke, Stoltenberg, Barschel und Carstensen, von 1988 bis 2004 die SPD-Ministerpräsidenten Engholm und Simonis. 

Zinsausgaben in Mio € / Quelle: Umdruck 17/2495

Zinsausgaben in Mio € /​ Quelle: Umdruck 17/​2495

Schaut man genau­er auf die Zinsausgaben, kommt man ins Grübeln. Betrachtet man näm­lich zum Beispiel die „roten“ Jahre, dann sieht man ein Absinken der Zinszahlungen — trotz stei­gen­der Gesamtverschuldung. Es spie­len also offen­sicht­lich ande­re Effekte mit hin­ein, die die Zahlen beein­flus­sen. Die (von dem Gebahren einer Landesregierung völ­lig unab­hän­gi­ge) Entwicklung der Geldmarktzinsen oder ein intel­li­gen­te­res Kreditmanagement zum Beispiel. Mit sol­chen Zahlen kommt man also nicht wei­ter.

Das Bundesverfassungsgericht hat 1992, als es sich mit dem erho­be­nen Anspruch der Länder Saarland und Bremen auf Sanierungshilfen befass­te, zwei Indikatoren benutzt, die hel­fen, den inne­ren Zustand eines Haushaltes zu objek­ti­vie­ren:

  • Kreditfinanzierungsquote Das ist das Verhältnis der Nettokreditaufnahme zu den Gesamtausgaben des Landes. Also: In wel­chem Umfang wird die Ausgaben durch neu auf­ge­nom­me­ne Schulden finan­ziert.
  • Zins-Steuer-Quote Sie drückt das Verhältnis der auf die Schulden zu zah­len­den Zinsen zu den Steuereinnahmen aus. Zu den Steuereinnahmen wer­den Zahlungen aus dem Länderfinanzausgleich und eini­ge ande­re Leistungen hin­zu­ge­zählt.

Diese Kennziffern nutzt auch der Stabilitätsrat, der die Haushalte der Länder über­wacht. Außerdem schaut das Gremium noch auf den

  • Strukturellen Finanzierungssaldo Das ist Fehlbetrag, der ent­steht, wenn die Ausgaben die Einnahmen über­stei­gen. Dafür muss man Kredite auf­neh­men. Im Gegensatz zum kon­junk­tu­rel­len Defizit, von dem man annimmt, dass es sich bei einer wirt­schaft­li­chen Erholung auto­ma­tisch wie­der zurück­bil­det (Ganz, ganz gro­ber Vergleich: wir Menschen benut­zen für so etwas unse­ren Dispo), bleibt ein struk­tu­rel­les Defizit dau­er­haft bestehen. Deshalb wer­den in einem kom­pli­zier­ten Verfahren kurz­le­bi­ge, ver­fäl­schen­de finan­zi­el­le Transaktionen und kon­junk­tu­rel­le Einflüsse raus­ge­rech­net, bis das struk­tu­rel­le Defizit übrig bleibt. Gemessen in € je Einwohner. Bei der Konsolidierung der öffent­li­chen Haushalte geht es fast allein um die Reduzierung des struk­tu­rel­len staat­li­chen Defizits. Beispiel: Man soll sich nicht durch­schum­meln kön­nen, indem man sich die aktu­ell gera­de nied­ri­gen Zinsen hohen Steuereinnahmen (Update: zu mei­ner Überraschung lese ich, dass die Zinsen, jeden­falls in einer kon­junk­tur­be­ding­ten Bandbreite, kon­junk­tu­rell raus­ge­rech­net wer­den. Damit kann die in mei­nen Augen absur­de Situation auf­tre­ten, dass sich das struk­tu­rel­le Defizit durch die kon­junk­tu­rel­le Schwankung der Zinsen ver­än­dert) fröh­lich anrech­net und dafür ein im Unterhalt per­ma­nent Kosten ver­ur­sa­chen­des Ding anschafft. Die dau­er­haf­te Überlastung durch nicht finan­zier­te Ausgaben muss bis 2020 stu­fen­wei­se auf Null redu­ziert wer­den. Das kann durch Kürzungen von Ausgaben oder Erhöhung von Einnahmen (Z.B. durch Steuererhöhungen), nicht aber durch das zufäl­li­ge, kon­junk­tu­rell beding­te Steigen der Steuereinnahmen gesche­hen.
     
  • Schuldenstand Gemessen wer­den die Schulden am Kreditmarkt zum Ende des Jahres im Verhältnis zur Einwohnerzahl.

Für die Kennziffern wer­den Durchschnittszahlen und Schwellenwerte gebil­det. Diese Schwellenwerte dür­fen nicht über­schrit­ten wer­den.

Wie sieht das aus? Finden wir jetzt den Schuldigen?

Kreditfinanzierungsquote / Quelle: Umdruck 17/2495

Kreditfinanzierungsquote /​ Quelle: Umdruck 17/​2495

 

Zins-Steuer-Quote / Quelle: Umdruck 17/2495

Zins-Steuer-Quote /​ Quelle: Umdruck 17/​2495

Die Entwicklung der Kreditfinanzierungsquote und der Zins-Steuer-Quote geben kei­nen Anlass, einer bestimm­ten Regierung oder Regierungszeit Charakterlosigkeit vor­wer­fen zu kön­nen. Der Vorwurf trifft aus­nahms­los auf alle zu. Das macht die Situation weder bes­ser noch ein­fa­cher. Alle Regierungen sind den Weg in die heu­ti­ge Situation offen­sicht­lich ste­tig gegan­gen. Das zeigt auch ein Blick auf die Schulden, wenn wir sie auf uns Einwohner run­ter­bre­chen: 

Schulden je Einwohner in € / Quelle: Umdruck 17/2495 und Statistische Jahrbücher

Schulden je Einwohner in € /​ Quelle: Umdruck 17/​2495 und Statistische Jahrbücher

(Diese Zahlen stim­men nicht exakt mit den Zahlen des Stabilitätsrates über­ein. Dessen Zahlen sind gering­fü­gig nied­ri­ger, da er Schulden etwas anders defi­niert.) 

Der struk­tu­rel­len Finanzierungssaldo ist eine recht fri­sche Kennzahl. Dem Bericht des Evaluationsausschusses des Stabilitätsrates kann ich für Schleswig-Holstein die Ist-Zahlen für 2008, 2009 und die Soll-Zahl für 2010 ent­neh­men. Da Sachsen-Anhalt sei­nen dies­jäh­ri­gen Bericht schon ver­öf­fent­licht hat, habe ich eini­ge Zahlen aktua­li­siert. Die ursprüng­li­chen Zahlen sind hell­grau und kur­siv gesetzt. 

 

Ist
2008

Ist
2009

Soll/​Ist
2010

Entwurf/​Soll
2011

SH € /​ Einw.

-91

-354

-587

-505

Schwellenwert

-132

-403

-424

-465

Länder Ø

68

-203

-224

-265

Für die wich­tigs­te Zahl, dem struk­tu­rel­len Finanzierungssaldo, feh­len Zahlenreihen für die Vergangenheit. Das kann man also kei­nem Vorgänger um die Ohren hau­en. Muss man auch nicht. Die Zukunft ist eh span­nen­der.

Die nächs­ten Wochen – die nächs­te Sitzung des Stabilitätsrates wird vor­aus­sicht­lich am 17. November 2011 statt­fin­den – wer­den mehr Klarheit brin­gen. In der Presserklärung zur letz­ten Sitzung hat­te es gehei­ßen, dass unter ande­rem mit Schleswig-Holstein in der Novembersitzung Sanierungsprogramme ver­ein­bart wer­den sol­len, die sich über fünf Jahre erstre­cken und Vorgaben für die ange­streb­ten Abbauschritte der jähr­li­chen Nettokreditaufnahme und geeig­ne­te Sanierungsmaßnahmen ent­hal­ten. Das hört sich nach „Butter bei die Fische“ an. Zumal die dama­li­ge Sitzungsvorlage vor­sah, dass die Vorschläge für die Sanierungsprogramme bis zum 15. September 2011 vor­lie­gen sol­len. Wir dür­fen also gespannt sein.

Von:

Swen Wacker, 49, im Herzen Kieler, wohnt in Lüneburg, arbeitet in Hamburg.

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