Politik passiert heute, mit Blick auf die Zukunft. Politik ist aktiv, gestaltet und regelt. Wenn der Blick nach vorn nicht so schön ist und die notwendigen Konsequenzen, zumal vor Wahlen, dem Wähler nicht gefallen könnten, dann flüchtet man sich gern in Allgemeinplätze oder schimpft auf die Vorgängerregierung.
Solches Genöle kommt beim Publikum nicht an. Man ist ja vielleicht Wechselwähler und will sich nicht kränken lassen. Außerdem ist jammern oder meckern kein Zeichen von Handlungswillen und wird mit Schwächlichkeit verbunden. Allein die Stamm(tisch)wählerschaft applaudiert. Mit dem Finger auf andere zu zeigen löst kein Problem. Denn es ist nicht aktiv, gestaltet und regelt nicht.
In der Finanzpolitik stehen wir vor harten Herausforderungen. Die ergeben sich aus der aktuellen wirtschaftlichen und konjunkturellen Krisensituation. Und natürlich auch aus den fehlerhaften Entscheidungen der letzten 60 Jahre. Das verlockt natürlich zum mit-dem-Finger-auf-andere-zeigen. Schnell werden die Vorgänger als charakterlos verunglimpft oder der jeweilige politische Gegner zur Wurzel allen Übels erklärt. „Wenn die nicht so charakterlos gewesen wären, dann könnte ich ja, wie ich wollte und müsste jetzt nicht, wie ich nicht will …“. Ach, man hat es nicht leicht und mühselig ist es auch noch.
Ich habe ein paar ziemlich trockene Statistiken zusammengestellt, die in meinen Augen klar machen, dass wir eine kontinuierliche Fehlentwicklung im Nachkriegs-Schleswig-Holstein (und nicht nur dort) hatten. Verschärft durch aktuelle globalen Herausforderungen und lokalen Katastrophen (HSH) kommen wir deshalb heute um eine Schuldenbremse nicht mehr herum kommen. Ich hatte die Unausweichlichkeit in diesem Artikel schon mal diskutiert.
Das erste, was uns einfällt, wenn wir an zu beklagende Schulden denken, sind Begriffe wie „Höhe der Schulden“ und „zu zahlende Zinsen“. Solche Zahlen und Beträge haben den grandiosen Nachteil, dass sie ohne Relation und ohne Wissen um die Einnahmesituation nicht aussagekräftig sind. Das kennen wir aus unserem privaten Leben, wenn wir uns Gedanken darüber machen, ob wir uns einen Küchenschrank, ein Auto oder gar ein Haus auf Raten kaufen wollen.
Betrachten wir die Zahlen für die letzten 40 Jahre (die ich dem Umdruck 17/2495 entnommen habe), dann sehen wir, dass die Höhe der Schulden und die Ausgaben für Zinsen stetig steigen. Weder in schwarzen noch in roten Jahren wird es wirklich besser.
In die Jahren von 1970 bis 1987 sowie seit 2005 regier(t)en die CDU-Ministerpräsidenten Lemke, Stoltenberg, Barschel und Carstensen, von 1988 bis 2004 die SPD-Ministerpräsidenten Engholm und Simonis.
Schaut man genauer auf die Zinsausgaben, kommt man ins Grübeln. Betrachtet man nämlich zum Beispiel die „roten“ Jahre, dann sieht man ein Absinken der Zinszahlungen — trotz steigender Gesamtverschuldung. Es spielen also offensichtlich andere Effekte mit hinein, die die Zahlen beeinflussen. Die (von dem Gebahren einer Landesregierung völlig unabhängige) Entwicklung der Geldmarktzinsen oder ein intelligenteres Kreditmanagement zum Beispiel. Mit solchen Zahlen kommt man also nicht weiter.
Das Bundesverfassungsgericht hat 1992, als es sich mit dem erhobenen Anspruch der Länder Saarland und Bremen auf Sanierungshilfen befasste, zwei Indikatoren benutzt, die helfen, den inneren Zustand eines Haushaltes zu objektivieren:
- Kreditfinanzierungsquote Das ist das Verhältnis der Nettokreditaufnahme zu den Gesamtausgaben des Landes. Also: In welchem Umfang wird die Ausgaben durch neu aufgenommene Schulden finanziert.
- Zins-Steuer-Quote Sie drückt das Verhältnis der auf die Schulden zu zahlenden Zinsen zu den Steuereinnahmen aus. Zu den Steuereinnahmen werden Zahlungen aus dem Länderfinanzausgleich und einige andere Leistungen hinzugezählt.
Diese Kennziffern nutzt auch der Stabilitätsrat, der die Haushalte der Länder überwacht. Außerdem schaut das Gremium noch auf den
- Strukturellen Finanzierungssaldo Das ist Fehlbetrag, der entsteht, wenn die Ausgaben die Einnahmen übersteigen. Dafür muss man Kredite aufnehmen. Im Gegensatz zum konjunkturellen Defizit, von dem man annimmt, dass es sich bei einer wirtschaftlichen Erholung automatisch wieder zurückbildet (Ganz, ganz grober Vergleich: wir Menschen benutzen für so etwas unseren Dispo), bleibt ein strukturelles Defizit dauerhaft bestehen. Deshalb werden in einem komplizierten Verfahren kurzlebige, verfälschende finanzielle Transaktionen und konjunkturelle Einflüsse rausgerechnet, bis das strukturelle Defizit übrig bleibt. Gemessen in € je Einwohner. Bei der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte geht es fast allein um die Reduzierung des strukturellen staatlichen Defizits. Beispiel: Man soll sich nicht durchschummeln können, indem man sich die aktuell gerade niedrigen Zinsen hohen Steuereinnahmen (Update: zu meiner Überraschung lese ich, dass die Zinsen, jedenfalls in einer konjunkturbedingten Bandbreite, konjunkturell rausgerechnet werden. Damit kann die in meinen Augen absurde Situation auftreten, dass sich das strukturelle Defizit durch die konjunkturelle Schwankung der Zinsen verändert) fröhlich anrechnet und dafür ein im Unterhalt permanent Kosten verursachendes Ding anschafft. Die dauerhafte Überlastung durch nicht finanzierte Ausgaben muss bis 2020 stufenweise auf Null reduziert werden. Das kann durch Kürzungen von Ausgaben oder Erhöhung von Einnahmen (Z.B. durch Steuererhöhungen), nicht aber durch das zufällige, konjunkturell bedingte Steigen der Steuereinnahmen geschehen.
- Schuldenstand Gemessen werden die Schulden am Kreditmarkt zum Ende des Jahres im Verhältnis zur Einwohnerzahl.
Für die Kennziffern werden Durchschnittszahlen und Schwellenwerte gebildet. Diese Schwellenwerte dürfen nicht überschritten werden.
Wie sieht das aus? Finden wir jetzt den Schuldigen?
Die Entwicklung der Kreditfinanzierungsquote und der Zins-Steuer-Quote geben keinen Anlass, einer bestimmten Regierung oder Regierungszeit Charakterlosigkeit vorwerfen zu können. Der Vorwurf trifft ausnahmslos auf alle zu. Das macht die Situation weder besser noch einfacher. Alle Regierungen sind den Weg in die heutige Situation offensichtlich stetig gegangen. Das zeigt auch ein Blick auf die Schulden, wenn wir sie auf uns Einwohner runterbrechen:
(Diese Zahlen stimmen nicht exakt mit den Zahlen des Stabilitätsrates überein. Dessen Zahlen sind geringfügig niedriger, da er Schulden etwas anders definiert.)
Der strukturellen Finanzierungssaldo ist eine recht frische Kennzahl. Dem Bericht des Evaluationsausschusses des Stabilitätsrates kann ich für Schleswig-Holstein die Ist-Zahlen für 2008, 2009 und die Soll-Zahl für 2010 entnehmen. Da Sachsen-Anhalt seinen diesjährigen Bericht schon veröffentlicht hat, habe ich einige Zahlen aktualisiert. Die ursprünglichen Zahlen sind hellgrau und kursiv gesetzt.
| Ist | Ist | Soll/Ist | Entwurf/Soll |
SH € / Einw. | -91 | -354 | -587 | -505 |
Schwellenwert | -132 | -403 | -424 | -465 |
Länder Ø | 68 | -203 | -224 | -265 |
Für die wichtigste Zahl, dem strukturellen Finanzierungssaldo, fehlen Zahlenreihen für die Vergangenheit. Das kann man also keinem Vorgänger um die Ohren hauen. Muss man auch nicht. Die Zukunft ist eh spannender.
Die nächsten Wochen – die nächste Sitzung des Stabilitätsrates wird voraussichtlich am 17. November 2011 stattfinden – werden mehr Klarheit bringen. In der Presserklärung zur letzten Sitzung hatte es geheißen, dass unter anderem mit Schleswig-Holstein in der Novembersitzung Sanierungsprogramme vereinbart werden sollen, die sich über fünf Jahre erstrecken und Vorgaben für die angestrebten Abbauschritte der jährlichen Nettokreditaufnahme und geeignete Sanierungsmaßnahmen enthalten. Das hört sich nach „Butter bei die Fische“ an. Zumal die damalige Sitzungsvorlage vorsah, dass die Vorschläge für die Sanierungsprogramme bis zum 15. September 2011 vorliegen sollen. Wir dürfen also gespannt sein.