„Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen“. Das Zitat ist so allgemeingültig, dass es bis auf Marie von Ebner-Eschenbach allen typischen Zitatquellen zugeschrieben wird: Karl Valentin, Mark Twain, Winston Churchill. Der NDR hat gestern, 220 Tage vor der Landtagswahl, eine Wahlumfrage veröffentlicht. Wäre die Landtagswahl in Schleswig-Holstein schon am kommenden Sonntag, dann wäre eine rot-grüne Regierung die naheliegende Folge des Wahlergebnisses. Oder so.
Die Parteien reagierten unterschiedlich auf die Umfrage: Die glückstrunkene SPD vergibt sich ein erfreuliches Zwischenzeugnis. Für die verunsicherte CDU bildet die Umfrage die Startlinie. Die sonst antiautoritären Grünen sehen die Regierung deutlich abgewatscht. Die trostlose FDP setzt auf die Landespolitik. Der unzufriedene SSW freut sich über die Wechsel-Stimmung. Den abstürzenden Linken hat es die Sprache verschlagen. Die noch im Hafen liegenden Piraten wollen sich den Rückenwind selber machen.
Die extreme Rechte und das antieuropäische/rechtspopulistische/islamkritische Spektrum scheinen aktuell(!) keine Rolle in Schleswig-Holstein zu spielen.
Für die Kommentatoren der drei großen Zeitschriften im Lande ist der Drops noch nicht gelutscht. Stephan Richter in der sh:z sieht den Wechsel greifbar nah, erinnert aber an Volker Rühes Schicksal. Bodo Stade findet in den Kieler Nachrichten, dass es spannend bleibt – wenn die Grünen die Frage nach ihrem Wunschpartner offen lassen. Und in den Lübecker Nachrichten ist für Wolfram Hammer die Messe noch nicht gesungen – ein Spagat der Grünen muss diesen nicht nützen.
Vergleicht man die Entwicklung von Prognosen und Ergebnissen über die Jahre, dann zeigt sich, dass Umfragen und Wettervorhersagen Geschwister sind.
2000 Die CDU unter Volker Rühe greift die Sozialdemokratin Heide Simonis an und verliert den sicher geglaubten Wahlsieg. Grüne und FDP könnten den drohenden Rausschmiss aus dem Parlament abwenden. Der SSW kann seinen Stimmenanteil deutlich ausbauen.
CDU | SPD | Grüne | FDP | Linke | SSW | |
45,0 | 42,0 | 4,0 | 4,0 | - | 3,0 | |
27.02.00 | 35,2 | 43,1 | 6,2 | 7,6 | - | 4,1 |
-21,8% | 2,6% | 55,0% | 90,0% | 36,7% |
Die Abweichung sind keine Prozentpunkte sondern Prozent. Das macht es etwas schwierig zu lesen. Ich erhoffte mir dadurch aber eine bessere Vergleichbarkeit der Abweichung zwischen größeren und nicht so großen Parteien
2005 Peter Harry Carstensen forderte für die CDU die Amtsinhaberin Heide Simonis (SPD) heraus. Während die CDU auf hohem Niveau relativ stabil bleibt, rettet sich die SPD auf den letzten Metern auf für sie – seinerzeit noch – „normale“ Werte. Die Grünen stürzen regelrecht ab, bleiben aber, wie FDP und SSW, sicher im Parlament.
CDU | SPD | Grüne | FDP | Linke | SSW | |
42,0 | 31,0 | 11,0 | 7,0 | - | 4,0 | |
20.02.05 | 40,2 | 38,7 | 6,2 | 6,6 | 0,8 | 3,6 |
-4,3% | 24,8% | -43,6% | -5,7% | -10,0% |
2009 Der Sozialdemokrat Ralf Stegner forderte Amtsinhaber Peter-Harry Carstensen heraus. CDU und SPD rauschen in den letzten fünf Monaten vor der Wahl durch den Keller hindurch bis unter das Fundament: beide Parteien erhielten ihre jeweils schlechtestes Ergebnis. Die Linken schaffen erstmals den Einzug in Schleswig-Holsteinische Parlament. Grüne, FDP und SSW legten jeweils deutlich zu, holten ihrerseits durch die Bank neue Höchstwerte:
CDU | SPD | Grüne | FDP | Linke | SSW | |
38,0 | 29,0 | 9,0 | 14,0 | 3,0 | 3,0 | |
27.09.09 | 31,5 | 25,4 | 12,4 | 14,9 | 6,0 | 4,3 |
-17,1% | -12,4% | 37,8% | 6,4% | 100,0% | 43,3% |
In einem Gedankenspiel habe ich die Abweichungen zwischen der Wahlprognose und dem Endergebnis auf die jetzige Prognose übertragen. Welche Abweichungen wären dann (nach oben oder unten) möglich? Wo könnten die Parteien landen, ohne dass die Abweichung aus dem Rahmen fiele?
Der Schwarze Punkt gibt die Prognose des NDR wieder, die grünen Pfeile markieren die jeweils unterstellten Abweichungen, nach oben oder unten. Wegen des engen Spielraumes bei der FDP decken sich dort die Ergebnisse.
Das visualisiert zwar mögliche Ergebnisse, ändert aber nichts an der Unvorhersehbarkeit. Weder wissen wir, wie die Bundes- und Europapolitik sich in den nächsten acht Monaten entwickeln wird. Noch wissen wir, ob die Parteienforscher, die den Wechsel von einem 2 ½ Parteiensystem (Volksparteien CDU und SPD, Klientelpartei FDP) auf ein stabiles (oder: im Fluss befindliches) Mehrparteiensystem (SPD, CDU, Grüne, FDP, SSW, Piraten …) für eine ausgemachte Sache halten, Recht haben werden.
Quelle: Statistikamt Nord, aktuelle NDR-Umfrage GPD: Gesamtdeutsche Partei
Auch ist die Frage, ob die Parteien, besonders die jungen, sich auf die Gruppe der Nichtwähler konzentrieren und sich damit neue Potentiale eröffnen, noch unbeantwortet. Unwahrscheinlich ist das nicht, eher naheliegend. Denn Parteien sind weniger Markenprodukte – es tritt nicht Snickers gegen Bounty an – sondern eher Mischkonzerne, die eine große, in sich stimmige Produktbreite präsentieren und sich um das Gesamtimage kümmern müssen.
Wenn die Parteien die Interessen der Nichtwähler studieren, ihnen zuhören und von ihnen lernen, dann können sie die Distanz zu den Wählern wieder verringern, sich den Wählern wieder annähern. Parteien, die überkommenen Klischees nachhängen, werden Verlierer bleiben. Da nützt es nicht mal, den Wähler dümmlich zu beschimpfen. Das entlarvt nur die Borniertheit und Realitätsfremde mancher Dinosaurier Parteienvertreter. Die Wählerinnen und Wähler sind das Maß der Dinge. Und sie entscheiden sich zunehmend nicht mehr Milieuorientiert und sind damit zunehmend flexibel. Ihre Ansprüche ändern sich. Das kann man beklagen, aber nicht ändern. Die Wählerinnen und Wähler haben, mehr als früher, im eigentlichen Sinne „die Wahl“. Dem müssen die Parteien folgen, nicht umgekehrt.
Vielleicht lohnt ein Blick nach Dänemark. Dort sitzen jetzt acht Parteien im Folketing. Mit 26,7 Prozent stellt man dort schon die größte Fraktion. Und dem Wähler scheint es Spaß zu bringen: 87,7 Prozent, 1,1 Prozent mehr als 2007, betrug die Wahlbeteiligung, die so auf einen neuen Höchststand kletterte.
Und nicht zuletzt ist Schleswig-Holstein eh stets für eine Überraschung gut.