Wähler wählen

Von | 29. September 2011

Prognosen sind schwie­rig, beson­ders wenn sie die Zukunft betref­fen“. Das Zitat ist so all­ge­mein­gül­tig, dass es bis auf Marie von Ebner-Eschenbach allen typi­schen Zitatquellen zuge­schrie­ben wird: Karl Valentin, Mark Twain, Winston Churchill. Der NDR hat ges­tern, 220 Tage vor der Landtagswahl, eine Wahlumfrage ver­öf­fent­licht. Wäre die Landtagswahl in Schleswig-Holstein schon am kom­men­den Sonntag, dann wäre eine rot-grü­ne Regierung die nahe­lie­gen­de Folge des Wahlergebnisses. Oder so.
Die Parteien reagier­ten unter­schied­lich auf die Umfrage: Die glücks­trun­ke­ne SPD ver­gibt sich ein erfreu­li­ches Zwischenzeugnis. Für die ver­un­si­cher­te CDU bil­det die Umfrage die Startlinie. Die sonst anti­au­to­ri­tä­ren Grünen sehen die Regierung deut­lich abge­watscht. Die trost­lo­se FDP setzt auf die Landespolitik. Der unzu­frie­de­ne SSW freut sich über die Wechsel-Stimmung. Den abstür­zen­den Linken hat es die Sprache ver­schla­gen. Die noch im Hafen lie­gen­den Piraten wol­len sich den Rückenwind sel­ber machen.

Die extre­me Rechte und das antieuropäische/​rechtspopulistische/​islamkritische Spektrum schei­nen aktu­ell(!) kei­ne Rolle in Schleswig-Holstein zu spie­len.

Für die Kommentatoren der drei gro­ßen Zeitschriften im Lande ist der Drops noch nicht gelutscht. Stephan Richter in der sh:z sieht den Wechsel greif­bar nah, erin­nert aber an Volker Rühes Schicksal. Bodo Stade fin­det in den Kieler Nachrichten, dass es span­nend bleibt – wenn die Grünen die Frage nach ihrem Wunschpartner offen las­sen. Und in den Lübecker Nachrichten ist für Wolfram Hammer die Messe noch nicht gesun­gen – ein Spagat der Grünen muss die­sen nicht nüt­zen.

Vergleicht man die Entwicklung von Prognosen und Ergebnissen über die Jahre, dann zeigt sich, dass Umfragen und Wettervorhersagen Geschwister sind.

2000 Die CDU unter Volker Rühe greift die Sozialdemokratin Heide Simonis an und ver­liert den sicher geglaub­ten Wahlsieg. Grüne und FDP könn­ten den dro­hen­den Rausschmiss aus dem Parlament abwen­den. Der SSW kann sei­nen Stimmenanteil deut­lich aus­bau­en.

 

CDU

SPD

Grüne

FDP

Linke

SSW

17.09.99

45,0

42,0

4,0

4,0

-

3,0

27.02.00

35,2

43,1

6,2

7,6

-

4,1

 

-21,8%

2,6%

55,0%

90,0%

 

36,7%

Die Abweichung sind kei­ne Prozentpunkte son­dern Prozent. Das macht es etwas schwie­rig zu lesen. Ich erhoff­te mir dadurch aber eine bes­se­re Vergleichbarkeit der Abweichung zwi­schen grö­ße­ren und nicht so gro­ßen Parteien

2005 Peter Harry Carstensen for­der­te für die CDU die Amtsinhaberin Heide Simonis (SPD) her­aus. Während die CDU auf hohem Niveau rela­tiv sta­bil bleibt, ret­tet sich die SPD auf den letz­ten Metern auf für sie – sei­ner­zeit noch – „nor­ma­le“ Werte. Die Grünen stür­zen regel­recht ab, blei­ben aber, wie FDP und SSW, sicher im Parlament.

 

CDU

SPD

Grüne

FDP

Linke

SSW

26.08.04

42,0

31,0

11,0

7,0

-

4,0

20.02.05

40,2

38,7

6,2

6,6

0,8

3,6

 

-4,3%

24,8%

-43,6%

-5,7%

 

-10,0%

2009 Der Sozialdemokrat Ralf Stegner for­der­te Amtsinhaber Peter-Harry Carstensen her­aus. CDU und SPD rau­schen in den letz­ten fünf Monaten vor der Wahl durch den Keller hin­durch bis unter das Fundament: bei­de Parteien erhiel­ten ihre jeweils schlech­tes­tes Ergebnis. Die Linken schaf­fen erst­mals den Einzug in Schleswig-Holsteinische Parlament. Grüne, FDP und SSW leg­ten jeweils deut­lich zu, hol­ten ihrer­seits durch die Bank neue Höchstwerte:

 

CDU

SPD

Grüne

FDP

Linke

SSW

26.02.09

38,0

29,0

9,0

14,0

3,0

3,0

27.09.09

31,5

25,4

12,4

14,9

6,0

4,3

 

-17,1%

-12,4%

37,8%

6,4%

100,0%

43,3%

In einem Gedankenspiel habe ich die Abweichungen zwi­schen der Wahlprognose und dem Endergebnis auf die jet­zi­ge Prognose über­tra­gen. Welche Abweichungen wären dann (nach oben oder unten) mög­lich? Wo könn­ten die Parteien lan­den, ohne dass die Abweichung aus dem Rahmen fie­le?

Nicht unwahrscheinliche Abweichungen von der NDR-Prognose

Nicht unwahr­schein­li­che Abweichungen von der NDR-Prognose

Der Schwarze Punkt gibt die Prognose des NDR wie­der, die grü­nen Pfeile mar­kie­ren die jeweils unter­stell­ten Abweichungen, nach oben oder unten. Wegen des engen Spielraumes bei der FDP decken sich dort die Ergebnisse.

Das visua­li­siert zwar mög­li­che Ergebnisse, ändert aber nichts an der Unvorhersehbarkeit. Weder wis­sen wir, wie die Bundes- und Europapolitik sich in den nächs­ten acht Monaten ent­wi­ckeln wird. Noch wis­sen wir, ob die Parteienforscher, die den Wechsel von einem 2 ½ Parteiensystem (Volksparteien CDU und SPD, Klientelpartei FDP) auf ein sta­bi­les (oder: im Fluss befind­li­ches) Mehrparteiensystem (SPD, CDU, Grüne, FDP, SSW, Piraten …) für eine aus­ge­mach­te Sache hal­ten, Recht haben wer­den.

 

Wahlergebnisse der LT-Wahlen in SH seit 1947

Wahlergebnisse der LT-Wahlen in SH seit 1947

 

Quelle: Statistikamt Nord, aktu­el­le NDR-Umfrage GPD: Gesamtdeutsche Partei

Auch ist die Frage, ob die Parteien, beson­ders die jun­gen, sich auf die Gruppe der Nichtwähler kon­zen­trie­ren und sich damit neue Potentiale eröff­nen, noch unbe­ant­wor­tet. Unwahrscheinlich ist das nicht, eher nahe­lie­gend. Denn Parteien sind weni­ger Markenprodukte – es tritt nicht Snickers gegen Bounty an – son­dern eher Mischkonzerne, die eine gro­ße, in sich stim­mi­ge Produktbreite prä­sen­tie­ren und sich um das Gesamtimage küm­mern müs­sen.

Wenn die Parteien die Interessen der Nichtwähler stu­die­ren, ihnen zuhö­ren und von ihnen ler­nen, dann kön­nen sie die Distanz zu den Wählern wie­der ver­rin­gern, sich den Wählern wie­der annä­hern. Parteien, die über­kom­me­nen Klischees nach­hän­gen, wer­den Verlierer blei­ben. Da nützt es nicht mal, den Wähler dümm­lich zu beschimp­fen. Das ent­larvt nur die Borniertheit und Realitätsfremde man­cher Dinosaurier Parteienvertreter. Die Wählerinnen und Wähler sind das Maß der Dinge. Und sie ent­schei­den sich zuneh­mend nicht mehr Milieuorientiert und sind damit zuneh­mend fle­xi­bel. Ihre Ansprüche ändern sich. Das kann man bekla­gen, aber nicht ändern. Die Wählerinnen und Wähler haben, mehr als frü­her, im eigent­li­chen Sinne „die Wahl“. Dem müs­sen die Parteien fol­gen, nicht umge­kehrt.

Vielleicht lohnt ein Blick nach Dänemark. Dort sit­zen jetzt acht Parteien im Folketing. Mit 26,7 Prozent stellt man dort schon die größ­te Fraktion.  Und dem Wähler scheint es Spaß zu brin­gen: 87,7 Prozent, 1,1 Prozent mehr als 2007, betrug die Wahlbeteiligung, die so auf einen neu­en Höchststand klet­ter­te.

Und nicht zuletzt ist Schleswig-Holstein eh stets für eine Überraschung gut.

Von:

Swen Wacker, 49, im Herzen Kieler, wohnt in Lüneburg, arbeitet in Hamburg.

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