Atlanten verschweigen Details, lassen uns nicht hinter das von drei auf zwei Dimensionen reduzierte Abbild schauen, bilden Bewegtes erstarrt ab. Das ist aber nicht schlimm sondern gut. Sie helfen uns gerade deshalb, uns zu orientieren, den Überblick zu gewinnen, eine Richtung festzulegen. Schwer sind sie dennoch.
Die Bertelsmann-Stiftung hat einen Deutschen Lernatlas 2011 vorgelegt. Eine immense Fleißarbeit, die die Bedingungen für das lebenslange Lernen in der Bundesrepublik Deutschland „sichtbar und vergleichbar“ machen soll. Welche Situation finden wir, unabhängig von unseren aktuellen Lebensphasen und -bereichen, vor unserer Haustür? Ist die Region, in der ich lebe, gut aufgestellt? Kann sie mich unterstützen, wirtschaftlich und sozial erfolgreich zu sein?
Die Autoren definieren den eher unscharf benutzten Begriff „lebenslanges Lernen“ durch vier Lerndimensionen: Schulisches, Berufliches, Soziales und Persönliches Lernen. Jede Dimension wird in Indikatoren unterteilt und diese durch Kennzahlen belegt, die schließlich mit unterschiedlichem Gewicht in eine Gesamtauswertung hineinfließen. Analytische Unterstützung fanden die Autoren bei der Kieler Firma Analytix GmbH, einem Ableger des Kieler Instituts für Weltwirtschaft mit Sitz im Kieler Innovations- und Technologiezentrum.
Schulisches Lernen
Die Autoren fragten: Wie lernen Menschen in den Bildungsinstitutionen? Sie suchten „Hinweise auf die Lernentwicklung von Kindern und Jugendlichen in Schulen, das Studienplatzangebot und das Bildungsniveau von jungen Menschen und Erwerbstätigen“ und definierten zwei Indikatoren, die sie durch unter anderem durch drei bekannte Leistungsvergleiche (IGLU, PISA und IQB) belegen:
Indikator allgemeinbildenden Schulen
- Kennzahlen
- „Lesekompetenz von Grundschülern (IGLU)“
- Lesekompetenz Deutsch (IQB)“
- „Lesekompetenz Englisch (IQB),
- „Mathematische Kompetenz (PISA)“
- „Naturwissenschaftliche Kompetenz (PISA)
- „Anteil der Klassenwiederholer“
- „Anteil der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss“
- „Junge Erwachsene mit höherem Schulabschluss“
Indikator Hochschulbildung
- Kennzahlen
- „Angebot an Studienplätzen in der Region“
- „Junge Bevölkerung mit Hochschulabschluss“.
Berufliches Lernen
Hier lautete die Frage „Wie lernen Menschen für und in ihrem Beruf?“ Die Dimension gibt Hinweise geben auf die „Chancen von Jugendlichen, eine qualifizierende Ausbildung abzuschließen, (…) den Stellenwert der beruflichen Weiterbildung und des Lernens am Arbeitsplatz“
Indikator Berufliche Ausbildung
- Kennzahlen
- „Erfolg beim Abschluss der Berufsausbildung“
- „Jugendliche ohne Aussicht auf einen Ausbildungsplatz“
Indikator Berufliche Weiterbildung
- Kennzahlen
- „Durchgeführte VHS-Kurse zur beruflichen Weiterbildung“
- „Teilnahme an beruflicher Weiterbildung“
- „Teilnahme von Hochqualifizierten an beruflicher Weiterbildung“
- „Dauer der Arbeitslosigkeit vor Beginn einer beruflichen Weiterbildung“
- „Eingliederung in den Arbeitsmarkt nach beruflicher Weiterbildung“
Indikator Lernförderliche Arbeitsumgebung
- Kennzahlen
- „Beschäftigte, die im Beruf häufig vor neue Aufgaben gestellt werden“
- „Beschäftigte, die im Beruf häufig bisherige Verfahren verbessert oder Neues ausprobiert haben“
- „Beschäftigte, die an Coaching oder Supervision am Arbeitsplatz teilnehmen“
Soziales Lernen
Die Frage lautete: „Wie lernen Menschen im und für das soziale Miteinander?“ Die Lerndimension weist darauf hin, “in welcher Form und in welchem Ausmaß die Menschen in einer Region Möglichkeiten zum sozialen Lernen wahrnehmen“.
Indikator Soziales Engagement
- Kennzahlen
- „Engagierte Bürger (allgemein)“
- „Engagierte Bürger für Kinder und Jugend“
- „Engagierte Bürger für Ältere“
- „Engagierte Bürger im Bereich Kirche und Religion“
- „Engagierte Bürger in der Freiwilligen Feuerwehr“
- „Engagierte Bürger im Deutschen Roten Kreuz“
- „Bereitschaft zur Knochenmarkspende“
Indikator Politische Teilnahme
- Kennzahlen
- „Wahlbeteiligung“
- „Parteimitgliedschaft“
Indikator Soziale Integration
- Kennzahl
- „Einrichtungen in der Jugendarbeit“
Persönliches Lernen
Schließlich fragten die Macher der Studie: „Wie lernen Menschen, um sich persönlich weiterzuentwickeln?“ und erhielten Hinweise darauf, „welche Lernmöglichkeiten die Menschen in einer Region zur persönlichen Entwicklung und Entfaltung vorfinden und nutzen“.
Indikator Persönliche Weiterbildung (Kurse)
- Kennzahlen
- „durchgeführter VHS-Kurse zur persönlichen Weiterbildung“
- „Teilnahme an VHS-Kursen zur persönlichen Weiterbildung“
Indikator Kulturelles Erleben
- Kennzahlen
- „Museumsbesucher in der Region“
- „Theater- und Konzertbesucher“
Indikator Sport und Erholung
- Kennzahl
- „Sportvereine in der Region“
Indikator Lernen durch Medien
- Kennzahlen
- „Nutzung von Bibliotheken“
- „Neigung zum Bücherlesen“
- „Haushalte mit Breitband-Internetzugang“
Alle zu den Kennziffern verfügbaren Daten flossen in den Gesamtindex des Lernatlas ein. Als Kennziffer konnte nur berücksichtigt werden, was flächendeckend mit hinreichend regionaler Genauigkeit verfügbar war. So wurden 300 denkbaren Lern- und Bildungskennzahlen aus über 20 verschiedenen statistischen Quellen schrittweise auf 8 bis 10 Kennzahlen pro Lerndimension reduziert. Wer die Methodik hinterfragen oder genauere Ergebnisse lesen will, liest dem Methodologische Konzept oder den Ergebnisbericht.
Das Vorbild
Pate des Berichts ist ein in Kanada entwickeltes statistisches Verfahren, der Composite Learning Index (CLI). Er misst seit 2006 die Lernentwicklung in über 4.000 kanadischen Kommunen. In einem Interview zeigt sich der Vater des Verfahrens, der Mediziner und Soziologie Prof. Dr. Paul Cappon überzeugt von seiner Methode: „Mit der Einführung des Composite Learning Index (CLI) ist in der kanadischen Öffentlichkeit das Interesse an Bildung wieder gestiegen (…) Unser gemeinsames Ziel besteht darin, die optimalen Rahmenbedingungen und politischen Strukturen für ein erfolgreiches Lernen und positive Veränderungen im Bildungssystem zu schaffen. Dies wird von Bürgern, Stadtverwaltungen und Stiftungen gefördert und unterstützt.“
Jetzt kommen wir
In Schleswig-Holstein gab es bislang neben viel Schweigen (sporadische Reaktionen von Bildungspolitikern; Martin Habersaat, Bildungspolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion aus Stormarn, hat sich die Ergebnisse „seines” Kreises angesehen) und partikularer Interessensbekundung auch kritisches Interesse. Martin Lätzel erklärt in seinem Blog Bildungsweg, warum man die Art und Weise, wie die Daten zusammen gefügt werden, hinterfragen kann. „Es gibt keine pauschal zu interpretierende Bildungsstruktur“. Das ist für ihn aber keine Fundamentalkritik an der Studie. Sie besitzt für ihn gleichwohl viel Aussagekraft. Er verwehrt sich einer einfachen Interpretation der Ergebnisse (Stadt A liegt vor Landkreis B). Seiner Meinung nach ist die zentrale Frage, die sich aus den Ergebnissen ergibt, die Gretchenfrage der Bildungspolitik: Glaubst Du an den Bildungsföderalismus? Der Atlas ist für ihn keine Bundesligatabelle: „Es gilt, ihn in seinen ganzen Facetten zu deuten und gemeinsam zu schauen, über die Grenzen der Bundesländer hinweg, wie sich Bildung in Qualität und Struktur im Fokus lebenslangen Lernens weiter entwickeln kann“.
Auch ich habe mich beim Lesen gefragt, ob die Unterscheidung der kommunalen Kontexte in sechs Regionstypen in Bildungsfragen wirklich hilfreich ist (Kreisfreie Größere Großstädte Kreisfreie kleine und mittlere Großstädte, Kreisfreie Klein- und Mittelstädte, Kreise im verdichteten Umland, Kreise im ländlichen Umland, Kreise im ländlichen Raum — die Aufteilung orientiert sich an einer Typisierung des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung).
Eine so kleine Aufteilung vernachlässigt Ein- und Auspendlereffekte: Wenn ländliche Bewohner zunehmend dazu neigen, für kulturelle Veranstaltungen größere Wege auf sich zu nehmen, dann sollte das auch für Bildungserfahrungen gelten.
Kommunen in Deutschland hängen in der Regel wegen der vor Ort angebotenen (oder eben: nicht angebotenen) Angebote am Tropf der Länder. Die Darstellung auf Kreisebene könnte also verfälschend sein. Auf Länderebene kann sie hingegen gleichwohl stimmige Ergebnisse liefern.
Schließlich verleitet die mediale Darstellung eines Rankings zu billigen „Ich bin besser als Du“-Vergleichen, die die obere Hälfte selbstzufrieden werden lässt und die untere stigmatisiert. Letzteres ist nicht den Ergebnissen der Studie, wohl aber der der gewählten Art der Präsentation anzulasten.
Aber diese Kritik ist kein Anlass, die Studie zu ignorieren. Sie zeigt auf, – obwohl das nicht mehr nötig ist: nur Traumtänzer oder Ignoranten sehen im Bildungsbereich keinen akuten und umfangreichen Handlungsbedarf – dass wir umfassend handeln müssen. Mit 300 Lehrerstellen bekommt man das Problem nicht in den Griff. Mit einer Bücherei im Kreis A, vier zusätzlichen VHS-Kursen in der Stadt B und Glasfasernetzen in der Kommune C auch nicht. Wenn das so einfach wäre, hätten wir keine Bildungskrise. Es geht auch nicht in erster Linie um Geld. Im Gegenteil ist ausgeschieden, wer als erster sagt, es müsse nur dieser und jener Ansatz erhöht werden. Denn damit erhält man nur windschiefe Wände, marode Dächer und sandige Fundamente. Wo die Probleme so vielfältig diagnostiziert werden, die Zusammenhänge so verwoben sind, müssen wir als erstes die bisherige Denkmuster, die unsere Bildungspolitiken geprägt haben, in Frage stellen. Und uns dann wohl auch von unseren tradierten Lösungsmustern trennen, neu denken. Oder um mit Albert Einstein zu sprechen: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind“.
Wir haben in Schleswig-Holstein keine Probleme damit, ohne viel nachzudenken zu fordern, Hunderte von Lehrerstellen einzurichten (genauer: Hunderte von Lehrerstellen nicht wegfallen zu lassen) – obwohl wir genau wissen, dass eine Verbesserung der Unterrichtssituation und des Bildungserfolges nicht durch Drehen an einem möglichst populären Schräubchen erfolgt. Die losen Enden der Bildungspolitiken, -konzepte und -etats neu zu diskutieren und zu verknüpfen traut sich anscheinend niemand. Weil man es nicht mehr diskutieren braucht? Weil wir ja schon für jedes Detail Konzepte noch und nöcher haben? „Liegt alles schon in der Schublade“, „Wenn man uns nur mal lassen würde“. Ach nee, lass stecken. Alle Erfahrung spricht dafür, dass die nichts taugen. Die Visionen über ein Schleswig-Holstein 2025, von denen vor einem Jahr noch viele redeten, sind allesamt versandet. Einen Masterplan hat bislang keiner. Das kann auch eine Chance sein. Dann schreibt man einen. Womit wir im Mai 2012 sind.
Erste Meldungen sagten „Endlich einen Schritt weiter als bei Pisa, raus aus der Beschränkung auf die kognitiven Schulfächer”, erste Reaktionen lobten die ganzheitliche Betrachtung der Studie, erste Massenmedienkommentare (Spiegel) reduzierten die Studie dann doch wieder auf ein „Süden toppt Norden”. Ihr Blogbeitrag, Herr Wacker, zeigt salopp formuliert: „das Ding ist dicker, die Sache komplizierter” und mir schwant die Komplexität liegt schon in den Ausgangsfragen: Was ist Bildung, was zählt als Lernen, wofür soll Lernen gut sein.
Die Wissenschaft hat ja noch nicht einmal verlässliche und umfassende Antworten auf die Frage gefunden, welche Fähigkeiten des Menschen erlernt, welche angeboren sind. So, jetzt ist das Gesichtsfeld ganz weit. Und ob der vielen Fragezeichen, Eindrücke und Unsicherheiten bleibt die große Überforderung mit dem Thema.
Trotz aller Fleißarbeit ist die auch bei den Bertelsmännern zu erkennen: sie setzen möglichst alle Indizes, derer sie habhaft werden konnten, zusammen — oder soll man sagen nebeneinander? Bei der Lektüre der Auflistung der Lernbereiche und Kennzahlen fällt auf, das bereits dies in sich unausgewogen, inkonsequent und dramatisch lückenhaft ist. Beispiel: nebeneinander stehen die Lernbereiche allgemeinbildende Schulen und Soziales Lernen. Findet denn zweiteres in ersterem nicht statt? „Kulturelles erleben” kann man statistisch offenbar wenn man in einer schlechten Theaterinszenierung gelangweilt die Gesichter der anderen Zuschauer studiert, nicht aber, wenn man beim Klassenmusizieren mit orff’schem Instrumentarium sich begeistert in osteuropäische ungrade Taktarten eingroovt.
Fazit zur Studie: es ist eine beeindruckend umfangreiche Datensammlung erfolgt. Jede einzelne Kennzahl lässt (wahrscheinlich) einen interessanten Rückschluss auf ein sehr begrenztes Lernfeld zu. Gedankliche Grenzen zu hinterfragen, indem Beziehungen zwischen einzelnen Indizes hergestellt werden, ist sinnvoll. Alles Verfügbare in Beziehung zu setzen und daraus ein erfassbares Gesamtbild machen zu wollen vermutlich illusorisch.
Und für Schleswig-Holstein? Masterplan ist sicher eine gute Idee. Die Studie kann eine Anregung sein, wie ein Teil des Masterplanes anzugehen ist: nämlich sich ein möglichst breites Bild von bestehenden Lernorten, -Institutionen, -Wegen, -Zeiten etc. zu machen. Für die andere Seite des Masterplans kann die Studie keine Anregung geben — nämlich auf die Frage Wo wollen wir hin? Da wäre die Gütersloher Antwort bereits vorgegeben: nach Süden!