Corinna Dumat / pixelio.de
Ach, es ist schon ein Kreuz mit diesen ganzen Rankings und Wettbewerben. Seit wir in der Bildung nur noch auf Pisa-Ergebnisse und nicht mehr auf die Schülerinnen und Schüler schauen, grassiert die Tabelleritis. Jetzt auch in der Kultur.
Das Hamburger Weltwirtschaftsinstitut hat dreißig deutsche Großstädte unter die Lupe genommen und untersucht, wie Kulturangebot, Kulturrezeption und Kulturwirtschaft in den Städten zu bewerten. Gesamtsieger, laut HWWI, ist Stuttgart, sozusagen Kulturkapitale der Republik. Die schleswig-holsteinische Landeshauptstadt Kiel belegt Platz 24 von 30. Eine der hinteren Plätze. Wir haben uns an die diesen Anblick mittlerweile gewohnt.
Die Frage ist aber doch: Hilft uns in der Diskussion um Ausstattung und Ausgestaltung der Kultur noch ein Ranking wirklich weiter?
Eine der erstaunlichsten (Wieder)Entdeckung der Literatur stellte im Jahr 2011 die Edition der ungekürzten Originalfassung von Hans Falladas Jeder stirbt für sich allein dar. Im Zentrum des Romans steht die wahre Geschichte des Berliner Ehepaares Hampel, im Roman Quangel genannt. Das waren Menschen aus einfachen Verhältnissen, die ihre Einstellung gegen das Regime wandelten und durch primitive Flugblattaktionen versuchten, die Bevölkerung gegen die Nationalsozialisten aufzurütteln. Sie wurden denunziert und ermordet. Fallada versucht, kurz nach Kriegsende, versorgt durch Johannes R. Becher mit den Originalunterlagen des Falles, den Widerstand der Hampels zu skizzieren. Er erfindet Figuren dazu, überzeichnet und profiliert und ändert hier und da die historische Wahrheit. Was aber im Kern bleibt, sind der verzweifelte Versuch der Aufrichtigkeit und die Gleichgültigkeit der Gesellschaft gegenüber Unrecht und Unterdrückung. In den einfachen Dialog präsentiert Fallada Mitläufer, Duckmäuser und dummes Mordgesindel. Manches davon waren den Lektoren beim Aufbau-Verlag zu überzeichnet, zu rau, manches politisch zu unbequem, und so kürzten sie die Erstausgabe. Der nun erfolgte Druck des Originals zeitigte, trotz mancher literarischer Friktionen, einen unglaublichen Erfolg. Das Buch avancierte zum Bestseller. In der Tat ist das Buch ein fulminantes Werk, Falladas bestes Buch.
Schon verhaftet, wartet der Protagonist Quangel in Berlin-Moabit auf seinen Prozess. Fallada gesellt ihm einen Dirigenten hinzu. Er wird der kommunistischen Umtriebe verdächtigt. Doch behält er sich in der Haft seine Würde durch einen strukturierten und sorgfältigen Tagesablauf. Der einfache Arbeiter kommt mit ihm, dem kulturellen Intellektuellen, ins Gespräch. Dieser machte Musik, jener war einfacher Tischler. Dieser beschäftigte sich mit Schach und philosophischer Literatur, jener hat noch nie ein Buch gelesen. Es kommt zu einem denkwürdigen Dialog über ihre jeweiligen Tätigkeiten:
„Schweigen. Dann sagte Quangel plötzlich: ‚Und bloß Musik … Sehen Sie, wenn wir in unsern guten Zeiten gearbeitet haben, nicht bloß Särge, sondern Möbel, Anrichten und Bücherschränke und Tische, da haben wir etwas gearbeitet, was sich sehen lassen konnte! Beste Tischlerarbeit, verzapft und geleimt, was noch in hundert Jahren hält. Aber bloß Musik – wenn Sie aufhören, ist nichts von ihrer Arbeit geblieben.‘
‚Doch, Quangel, die Freude in den Menschen, die gute Musik hören, die bleibt.‘“ (Hans Fallada, Jeder stirbt für sich allein, Berlin 2011, 561) Quangel nimmt den Impuls auf. Er wird die Struktur, die sein Mithäftling pflegt, übernehmen, um die Haft zu überstehen.
In diesem kurzen Dialog in existenzieller Situation findet ein Anknüpfungspunkt für die Reflexion über Kultur.
Die Diskussion wurde in den vergangenen Jahren intensiv und teilweise hart geführt. Auf der einen Seite war da die Erhöhung der Bundesmittel für Kultur, Bernd Neumann konnte jubilieren und jährliche Steigerungen verkünden. Auf der anderen Seite war da jüngst die Diskussion über den Kulturinfarkt, ein Manifest von Fachleuten für Kulturmanagement, in dem sie die allzu selbstverständliche Forderung nach öffentlichen Kulturmitteln kritisch anfragten. Bei uns in Schleswig-Holstein – eh auf einem der letzten Plätze in Deutschland, was öffentliche Gelder für Kultur anbelangt – war die Zeit geprägt, durch Kürzungen und Kürzungsandrohungen von Seiten des Landes, ohne, dass irgendwelche substanziellen Kriterien aufgestellt wurden. Insgesamt stellt sich doch die Frage, was Kultur ist, was sie für die Gesellschaft bedeutet und – daraus resultierend – was die Kultur kosten darf, und was nicht.
Kultur als Lebensmittel ist ein Schlagwort, hört sich gut an, sagt aber nichts aus. Existenziell ist wohl niemand bedroht, der auf Kultur verzichtet. Überhaupt ist ja zu klären, was Kultur bedeutet (dahinter steckt die alte Diskussion um die so genannte Hochkultur). Die Fragen sind so komplex, dass sie hier nicht hinreichend beantwortet werden können. Allein das kurze Zitat Falladas, führt auf eine Fährte, über die weiter nachzudenken lohnt.
Das, was Kultur anrichtet, ist materiell nicht greifbar. Selbst ein Bild, eine Skulptur, sind nicht mehr als Leinwand, Farbe, Holz oder Stein. Banale Dinge. Was sie aber an Emotionen bei Hörern und Betrachtern auslösen, ist mehr und kaum messbar. Aber es ist wertvoll. Das ist so wertvoll und bedachtsam wie das Spiel der Kinder. Wer Kinder beim Spielen beobachtet weiß, wie ernst dies vonstattengeht. Da entstehen eigene Welten mit eigenen Regeln. Kinder sind in ihrer Phantasiewelt, kaum ansprechbar, allein, wenn man sich zu ihnen hinunter beugt und in ihre Welt vollkommen eintaucht. Das Spiel bleibt Spiel, gewissermaßen irreal und doch ist es heiliger Ernst, die Welten, die in den Köpfen der Kinder entstehen, sind wirklich und real und nur phantasielose Geister können sie infrage stellen.
Für den Arbeiter Quangel gilt, was man sieht, was hält und was bleibt. Das Spiel kann er nicht sehen. Musik, die kann man hören, aber sie verfliegt. Sein Zellengenosse Reichhardt aber sieht das ganz anders. Musik ist für ihn ein Impuls, der die Menschen verändert, indem sie bleibende Emotionen auslöst. Für ihn ist die kulturelle Betätigung ein Spiel – ein ernst zu nehmendes Spiel, nicht greifbar, aber voller Wirkung.
So ist es mit der Kultur. Das, was sie erzeugt, ist irreal und unwirklich. Ein Spiel. Das Menschen, seien sie nun kulturschaffend oder kulturteilhabend, verändert. Das Emotionen auslöst, die weiter wirken. Das Gemeinschaften prägt. Das hoffen lässt. Das die Gesellschaft verwandelt.
Welche Emotionen verändern die Gesellschaft? Freude und Empathie, Trauer , Wut und Hoffnung. Vor allem aber, das wird gerade im Kontext des Romans von Fallada offensichtlich, der Mut. Die Pflege einer freiheitlichen Kultur ist ein Wehr gegen gesellschaftliche Irrgänge. „Wenn die Hemmungen fallen, kommt die Orgie des Sadismus“, schreibt Klaus Mann. „Kultur hat die Hemmungen als Basis ihres Bestandes.“ (Die neuen Eltern. Aufsätze, Reden, Kritiken 1924 – 1936, Reinbek 1992, 320f).
Kultur fördert die Hemmungen und nichts braucht unsere Gesellschaft mehr, als das Hemmnis ausufernder Ismen. Die Hampels/Quangels sind in diesem Sinne als ein Paar von Kulturmenschen zu sehen. Ihr Kulturbeitrag ist von Wut, Mut und Hoffnung geprägt. Wenn es der Kultur gelingt, Hemmungen zu konstruieren, Mut und Hoffnung zu wecken und Identität zu stiften, dann ist ihr gesellschaftlicher Nutzen evident. Ebenso, wenn es ihr gelingt, Freude zu bereiten – wie ein Spiel. In Rankings ist das allerdings nicht zu messen. Es ist alles bloß Musik.