Karl Otto Meyer - Über Jahrzehnte das Gesicht des SSW | Foto: Lars Salomonsen
Der Südschleswigsche Wählerverband (SSW) ist als Regionalpartei der dänischen und national-friesischen Minderheit eine Besonderheit im deutschen Parteiensystem. Er ist als Minderheitenpartei seit 1953 bei Bundestagswahlen (zu denen er bis 1961 antrat) und seit 1955 bei Landtagswahlen von der 5 % Sperrklausel befreit. Im September 2013 hat das schleswig-holsteinische Verfassungsgericht die Befreiung des SSW von der 5 %-Sperrklausel für vereinbar mit dem Prinzip der Stimmengleichheit erklärt.
Schleswig-Holstein gehörte bis 1864 zum dänischen Gesamtstaat. Insbesondere im nördlichen Teil, dem Herzogtum Schleswig, ließ sich keine klare nationale Trennlinie zwischen deutsch und dänisch ziehen. Deshalb wurde nach dem 1. Weltkrieg eine Volksabstimmung abgehalten, deren Ergebnis Grundlage für die heutige deutsch-dänische Grenze ist. 20 % der Stimmberechtigten südlich der neuen Grenze stimmten damals für Dänemark, 25 % der Stimmberechtigten im Norden für Deutschland. So entstanden auf beiden Seiten der Grenze nationale Minderheiten. Dabei haben die deutschen Nordschleswiger einen dänischen Pass, und die dänischen Südschleswiger einen deutschen – sie sind also gleichberechtigte Staatsbürger.
Nach der deutschen Niederlage 1945 wünschten sich viele Südschleswiger die Gelegenheit, nochmal über die Grenze entscheiden zu können. Die dänische Minderheit wurde zur Mehrheit in der einheimischen Bevölkerung und wollte ihren Wunsch nach einer Grenzverschiebung politisch ausdrücken. Die britischen Besatzungsbehörden wollten aber zunächst keine separate Minderheiten- und Grenzrevisionspartei zulassen, wie sie auch die Entstehung von Flüchtlingsparteien verhinderten. Trotzdem waren die ersten freien Wahlen (Kommunal- und Kreiswahl im September-Oktober 1946, Landtagswahl im April 1947 und die Kommunalwahl im Oktober 1948 vom Grenzkampf geprägt. Während der Sydslesvigsk Forening, zur Wahl 1947 ausnahmsweise als Partei zugelassen, noch beide Flensburger Direktmandate gewinnen konnte, war der Jubel auf deutscher Seite groß, als im Oktober 1948 die „dänischen Rathäuser“ in Flensburg und Schleswig fielen.
Der SSW war erst nach langen Verhandlungen im Sommer 1948 als Heimat- und Regionalpartei gegründet worden, nachdem die britischen Besatzungsbehörden dem eigentlichen Wunsch der Minderheit, den kulturellen Dachverband Sydslesvigsk Forening (SSF) als Partei anzuerkennen, nicht entsprochen hatten. Die dänische Bewegung war damals schon am Abklingen. Zum Einen, weil die inzwischen drei dänischen Nachkriegsregierungen verschiedener Coleur die Südschleswiger Bestrebungen nie wirklich unterstützt hatten, und zum Anderen, weil sich die deutsche Seite politisch und institutionell mit der Gründung des Landes Schleswig-Holstein 1946, mit der wirtschaftlichen Vereinigung zur Bi-Zone 1947 und der Währungsreform im Mai 1948 stabilisiert hatte.
Dem SSW wurden auch politische Grenzen gegeben. Der Wunsch nach einer Grenzverschiebung durfte nicht im Wahlprogramm und auch nicht auf Wahlplakaten geäußert werden. Gleichzeitig legte der SSW großen Wert darauf, nicht als Partei der Dänen angesehen zu werden. Im ersten Parteiprogramm ging es um die Heimat. Man sah sich als Vertreter aller Kreise der einheimischen Bevölkerung, und als Hauptgegner galten die zahlreichen Flüchtlinge, die in Schleswig-Holstein Aufnahme gefunden hatten. Von den deutschen Parteien und der Bevölkerung wurde der SSW aber von Anfang an als Vertretung der „Dänen“ angesehen.
Eine Privilegierung im Wahlrecht gab es für den SSW damals noch nicht. Die Befreiung von der 5 % Sperrklausel bei Landtagswahlen wurde 1955 in den Vorverhandlungen der Bonn-Kopenhagener Minderheitenerklärungen vereinbart und dann im schleswig-holsteinischen Wahlgesetz festgelegt. Hintergrund war der Eintritt der Bundesrepublik in die NATO und der damit einhergehende Wunsch der dänischen und der Bundesregierung, das Problem der politischen Vertretung der dänischen Minderheit zu lösen. Die Befreiung von der Sperrklausel ist somit einerseits Landesrecht, andererseits eine internationale Vereinbarung zwischen Dänemark und der Bundesrepublik Deutschland, wenngleich kein völkerrechtlich bindender Vertrag.
Der SSW war von 1947 bis 1954 im schleswig-holsteinischen Landtag vertreten; von 1949 – 1953 sogar mit einem Mandat im Bundestag. Ab 1958, durch die Befreiung von der 5 %-Klausel, war der SSW dann wieder regelmäßig im schleswig-holsteinischen Landtag vertreten; 1958 – 1962 mit zwei Abgeordneten, dann bis 1996 mit einem, 1996 – 2000 mit zwei, 2000 – 2005 mit drei, 2005 – 2009 mit zwei, 2009 – 2012 mit vier und seit 2012 wieder mit drei Mandaten. Seit 2012 ist der SSW erstmals Mitglied in einer Regierungskoalition und stellt eine Ministerin (Anke Spoorendonk; Europa-, Kultur- und Justizministerin).
Während also einerseits der SSW als europäisches Modell einer exemplarischen politischen Interessenvertretung einer nationalen Minderheit gilt, hat es andererseits immer wieder vor allem im bürgerlichen politischen Lager Kritik an der politischen Rolle des SSW gegeben. Hier ging es vor allem darum, in wie weit der SSW als Minderheitenpartei Einfluss auf „deutsche“ Politik nehmen dürfe; insbesondere auf die Regierungsbildung. Schon 1950 war der SSW Zünglein an der Waage zwischen SPD und dem zuerst wegen seiner Forderungen nach gesellschaftlicher Umverteilung als „links“ eingeschätzten Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE). Die SPD wollte damals mit dem SSW über die Unterstützung einer SPD-BHE Regierung verhandeln, was der SSW aber im Hinblick auf seinen gegen die Heimatvertriebenen geführten Wahlkampf ablehnte. 1979 sah es am Wahlabend lange so aus, als könnten SPD und FDP mit der Stimme des SSW die CDU-Regierung Stoltenberg ablösen – was dazu führte, das Stoltenberg die Mandatzahl des Landtags von 73 auf 74 erhöhen ließ. Dies mit dem erklärten Ziel, den SSW von der Regierungsbildung auszuschließen.
Als nach dem Tod Uwe Barschels 1987 der regierenden CDU-FDP Koalition eine Stimme zur Neuwahl eines Ministerpräsidenten fehlte, erzwang letztendlich der SSW durch seine Weigerung, einen CDU-Ministerpräsidenten zu unterstützen, Neuwahlen, die 1988 zur absoluten Mehrheit der SPD-Regierung Engholm führten. Nach der Landtagswahl 2005 wollte der SSW eine Minderheitsregierung aus SPD und Grünen tolerieren; dies scheiterte doch im vierten Wahlgang zur Ministerpräsidentin, als ein Abgeordneter Heide Simonis seine Unterstützung verweigerte. Nach der Wahl 2012 entschied der SSW, sich diesmal fest in eine Regierungskoalition einzubinden.
Sowohl 1979, 2005 und 2012 gab es Stimmen im bürgerlichen Lager, die eine Regierungsbeteiligung bzw. -unterstützung durch eine Minderheitenpartei für illegitim hielten. Dies hat nicht nur damit zu tun, dass der SSW eine Partei der linken Mitte ist, was einerseits mit der sozialdemokratischeren Kultur Dänemarks und andererseits mit dem Milieu der dänischen Minderheit zu erklären ist; oder damit, dass er im Wahlrecht privilegiert ist. Es geht dabei eher um ein ethnisch-nationales Staatsverständnis, wie es z.B. in der Debatte um eine deutsche Leitkultur zum Ausdruck kommt. Hier geht es darum, in wie weit man einer nationalen Minderheit das Recht zusprechen will, über alle politischen Belange des Landes, in dem sie Bürger sind, mitzubestimmen. Da ein Regierungswechsel 1979 und auch 2005 Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat berührte, gab es sogar bundespolitische Einmischung. Franz Josef Strauß sagte z.B. 1979, dass es nicht angehen könne, dass ein Däne (der SSW-Abgeordnete Karl Otto Meyer) über Deutschland bestimmen könne. Diese Haltung zeigte sich auch in sich wiederholenden Aufforderungen vor allem von CDU-Politikern, dass der SSW sich aus bestimmten politischen Themen heraushalten solle, weil sie angeblich nicht Anliegen der Minderheit seien.
Nach der Landtagswahl 2012 fochten Vertreter der Jungen Union zusammen mit anderen das Wahlergebnis an und zogen nach der Abweisung durch den Landeswahlleiter vor das Landesverfassungsgericht. Sie sahen durch die Privilegierung des SSW (Befreiung von der 5 %-Klausel) die verfassungsgebotene Gleichheit der Wählerstimmen nicht mehr gewährleistet und zweifelten auch an, dass der SSW wirklich eine Partei einer nationalen Minderheit sei. Sollte letzteres noch der Fall sein, hielten die Kläger die Befreiung von der 5%-Klausel nur für ein Grundmandat für gerechtfertigt, während weitere Mandate nur nach Überwindung der 5 %-Klausel zum tragen kommen sollten.
Seit 2000 ist der SSW durch das damals neu eingeführte Zweitstimmenwahlrecht in ganz Schleswig-Holstein wählbar. Während er nur in den südschleswigschen Wahlkreisen Direktkandidaten aufstellt, hat er sich insbesondere zur Landtagswahl 2012 SSW ein Wahlkampfprofil unter dem Markenzeichen „hergestellt in Schleswig-Holstein“ gegeben. Dies und eine im Zuge der Debatte um die Finanzierung der dänischen Minderheitsschulen anhaltende Diskussion um die „Echtheit“ der dänischen Minderheit begründeten in den Augen der Kläger eine Überprüfung der Sperrklauselbefreiung.
Das Gericht entschied einstimmig, dass der SSW die politische Vertretung der dänischen Minderheit sei, hauptsächlich weil klar ersichtlich ist, dass alle aktiven Politiker des SSW mit der Minderheit verbunden sind und die Partei somit eindeutig aus der Minderheit hervorgeht. Gleichzeitig hielt es die Befreiung von der Sperrklausel für legitim und verfassungsgemäß, wobei sich drei der sieben Richter in einem Minderheitsvotum für die Ansicht der Kläger aussprachen, dass die Befreiung von der Sperrklausel nur für ein Grundmandat gelten solle.