Der Südschleswigsche Wählerverband – Eine besondere Partei

Von | 20. Januar 2014
Karl Otto Meyer, SSW

Karl Otto Meyer - Über Jahrzehnte das Gesicht des SSW | Foto: Lars Salomonsen

Der Südschleswigsche Wählerverband (SSW) ist als Regionalpartei der däni­schen und natio­nal-frie­si­schen Minderheit eine Besonderheit im deut­schen Parteiensystem. Er ist als Minderheitenpartei seit 1953 bei Bundestagswahlen (zu denen er bis 1961 antrat) und seit 1955 bei Landtagswahlen von der 5 % Sperrklausel befreit. Im September 2013 hat das schles­wig-hol­stei­ni­sche Verfassungsgericht die Befreiung des SSW von der 5 %-Sperrklausel für ver­ein­bar mit dem Prinzip der Stimmengleichheit erklärt.

Schleswig-Holstein gehör­te bis 1864 zum däni­schen Gesamtstaat. Insbesondere im nörd­li­chen Teil, dem Herzogtum Schleswig, ließ sich kei­ne kla­re natio­na­le Trennlinie zwi­schen deutsch und dänisch zie­hen. Deshalb wur­de nach dem 1. Weltkrieg eine Volksabstimmung abge­hal­ten, deren Ergebnis Grundlage für die heu­ti­ge deutsch-däni­sche Grenze ist. 20 % der Stimmberechtigten süd­lich der neu­en Grenze stimm­ten damals für Dänemark, 25 % der Stimmberechtigten im Norden für Deutschland. So ent­stan­den auf bei­den Seiten der Grenze natio­na­le Minderheiten. Dabei haben die deut­schen Nordschleswiger einen däni­schen Pass, und die däni­schen Südschleswiger einen deut­schen – sie sind also gleich­be­rech­tig­te Staatsbürger.

Nach der deut­schen Niederlage 1945 wünsch­ten sich vie­le Südschleswiger die Gelegenheit, noch­mal über die Grenze ent­schei­den zu kön­nen. Die däni­sche Minderheit wur­de zur Mehrheit in der ein­hei­mi­schen Bevölkerung und woll­te ihren Wunsch nach einer Grenzverschiebung poli­tisch aus­drü­cken. Die bri­ti­schen Besatzungsbehörden woll­ten aber zunächst kei­ne sepa­ra­te Minderheiten- und Grenzrevisionspartei zulas­sen, wie sie auch die Entstehung von Flüchtlingsparteien ver­hin­der­ten. Trotzdem waren die ers­ten frei­en Wahlen (Kommunal- und Kreiswahl im September-Oktober 1946, Landtagswahl im April 1947 und die Kommunalwahl im Oktober 1948 vom Grenzkampf geprägt. Während der Sydslesvigsk Forening, zur Wahl 1947 aus­nahms­wei­se als Partei zuge­las­sen, noch bei­de Flensburger Direktmandate gewin­nen konn­te, war der Jubel auf deut­scher Seite groß, als im Oktober 1948 die „däni­schen Rathäuser“ in Flensburg und Schleswig fie­len.

"Unser Land wählte deutsch" Kieler Nachrichten, 25.10.1948

„Unser Land wähl­te deutsch” Kieler Nachrichten, 25.10.1948

Der SSW war erst nach lan­gen Verhandlungen im Sommer 1948 als Heimat- und Regionalpartei gegrün­det wor­den, nach­dem die bri­ti­schen Besatzungsbehörden dem eigent­li­chen Wunsch der Minderheit, den kul­tu­rel­len Dachverband Sydslesvigsk Forening (SSF) als Partei anzu­er­ken­nen, nicht ent­spro­chen hat­ten. Die däni­sche Bewegung war damals schon am Abklingen. Zum Einen, weil die inzwi­schen drei däni­schen Nachkriegsregierungen ver­schie­de­ner Coleur die Südschleswiger Bestrebungen nie wirk­lich unter­stützt hat­ten, und zum Anderen, weil sich die deut­sche Seite poli­tisch und insti­tu­tio­nell mit der Gründung des Landes Schleswig-Holstein 1946, mit der wirt­schaft­li­chen Vereinigung zur Bi-Zone 1947 und der Währungsreform im Mai 1948 sta­bi­li­siert hat­te.

Dem SSW wur­den auch poli­ti­sche Grenzen gege­ben. Der Wunsch nach einer Grenzverschiebung durf­te nicht im Wahlprogramm und auch nicht auf Wahlplakaten geäu­ßert wer­den. Gleichzeitig leg­te der SSW gro­ßen Wert dar­auf, nicht als Partei der Dänen ange­se­hen zu wer­den. Im ers­ten Parteiprogramm ging es um die Heimat. Man sah sich als Vertreter aller Kreise der ein­hei­mi­schen Bevölkerung, und als Hauptgegner gal­ten die zahl­rei­chen Flüchtlinge, die in Schleswig-Holstein Aufnahme gefun­den hat­ten. Von den deut­schen Parteien und der Bevölkerung wur­de der SSW aber von Anfang an als Vertretung der „Dänen“ ange­se­hen.

Eine Privilegierung im Wahlrecht gab es für den SSW damals noch nicht. Die Befreiung von der 5 % Sperrklausel bei Landtagswahlen wur­de 1955 in den Vorverhandlungen der Bonn-Kopenhagener Minderheitenerklärungen ver­ein­bart und dann im schles­wig-hol­stei­ni­schen Wahlgesetz fest­ge­legt. Hintergrund war der Eintritt der Bundesrepublik in die NATO und der damit ein­her­ge­hen­de Wunsch der däni­schen und der Bundesregierung, das Problem der poli­ti­schen Vertretung der däni­schen Minderheit zu lösen. Die Befreiung von der Sperrklausel ist somit einer­seits Landesrecht, ande­rer­seits eine inter­na­tio­na­le Vereinbarung zwi­schen Dänemark und der Bundesrepublik Deutschland, wenn­gleich kein völ­ker­recht­lich bin­den­der Vertrag.

Der SSW war von 1947 bis 1954 im schles­wig-hol­stei­ni­schen Landtag ver­tre­ten; von 1949 – 1953 sogar mit einem Mandat im Bundestag. Ab 1958, durch die Befreiung von der 5 %-Klausel, war der SSW dann wie­der regel­mä­ßig im schles­wig-hol­stei­ni­schen Landtag ver­tre­ten; 1958 – 1962 mit zwei Abgeordneten, dann bis 1996 mit einem, 1996 – 2000 mit zwei, 2000 – 2005 mit drei, 2005 – 2009 mit zwei, 2009 – 2012 mit vier und seit 2012 wie­der mit drei Mandaten. Seit 2012 ist der SSW erst­mals Mitglied in einer Regierungskoalition und stellt eine Ministerin (Anke Spoorendonk; Europa-, Kultur- und Justizministerin).

Während also einer­seits der SSW als euro­päi­sches Modell einer exem­pla­ri­schen poli­ti­schen Interessenvertretung einer natio­na­len Minderheit gilt, hat es ande­rer­seits immer wie­der vor allem im bür­ger­li­chen poli­ti­schen Lager Kritik an der poli­ti­schen Rolle des SSW gege­ben. Hier ging es vor allem dar­um, in wie weit der SSW als Minderheitenpartei Einfluss auf „deut­sche“ Politik neh­men dür­fe; ins­be­son­de­re auf die Regierungsbildung. Schon 1950 war der SSW Zünglein an der Waage zwi­schen SPD und dem zuerst wegen sei­ner Forderungen nach gesell­schaft­li­cher Umverteilung als „links“ ein­ge­schätz­ten Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE). Die SPD woll­te damals mit dem SSW über die Unterstützung einer SPD-BHE Regierung ver­han­deln, was der SSW aber im Hinblick auf sei­nen gegen die Heimatvertriebenen geführ­ten Wahlkampf ablehn­te. 1979 sah es am Wahlabend lan­ge so aus, als könn­ten SPD und FDP mit der Stimme des SSW die CDU-Regierung Stoltenberg ablö­sen – was dazu führ­te, das Stoltenberg die Mandatzahl des Landtags von 73 auf 74 erhö­hen ließ. Dies mit dem erklär­ten Ziel, den SSW von der Regierungsbildung aus­zu­schlie­ßen.

Als nach dem Tod Uwe Barschels 1987 der regie­ren­den CDU-FDP Koalition eine Stimme zur Neuwahl eines Ministerpräsidenten fehl­te, erzwang letzt­end­lich der SSW durch sei­ne Weigerung, einen CDU-Ministerpräsidenten zu unter­stüt­zen, Neuwahlen, die 1988 zur abso­lu­ten Mehrheit der SPD-Regierung Engholm führ­ten. Nach der Landtagswahl 2005 woll­te der SSW eine Minderheitsregierung aus SPD und Grünen tole­rie­ren; dies schei­ter­te doch im vier­ten Wahlgang zur Ministerpräsidentin, als ein Abgeordneter Heide Simonis sei­ne Unterstützung ver­wei­ger­te. Nach der Wahl 2012 ent­schied der SSW, sich dies­mal fest in eine Regierungskoalition ein­zu­bin­den.

Sowohl 1979, 2005 und 2012 gab es Stimmen im bür­ger­li­chen Lager, die eine Regierungsbeteiligung bzw. -unter­stüt­zung durch eine Minderheitenpartei für ille­gi­tim hiel­ten. Dies hat nicht nur damit zu tun, dass der SSW eine Partei der lin­ken Mitte ist, was einer­seits mit der sozi­al­de­mo­kra­ti­sche­ren Kultur Dänemarks und ande­rer­seits mit dem Milieu der däni­schen Minderheit zu erklä­ren ist; oder damit, dass er im Wahlrecht pri­vi­le­giert ist. Es geht dabei eher um ein eth­nisch-natio­na­les Staatsverständnis, wie es z.B. in der Debatte um eine deut­sche Leitkultur zum Ausdruck kommt. Hier geht es dar­um, in wie weit man einer natio­na­len Minderheit das Recht zuspre­chen will, über alle poli­ti­schen Belange des Landes, in dem sie Bürger sind, mit­zu­be­stim­men. Da ein Regierungswechsel 1979 und auch 2005 Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat berühr­te, gab es sogar bun­des­po­li­ti­sche Einmischung. Franz Josef Strauß sag­te z.B. 1979, dass es nicht ange­hen kön­ne, dass ein Däne (der SSW-Abgeordnete Karl Otto Meyer) über Deutschland bestim­men kön­ne. Diese Haltung zeig­te sich auch in sich wie­der­ho­len­den Aufforderungen vor allem von CDU-Politikern, dass der SSW sich aus bestimm­ten poli­ti­schen Themen her­aus­hal­ten sol­le, weil sie angeb­lich nicht Anliegen der Minderheit sei­en.

Nach der Landtagswahl 2012 foch­ten Vertreter der Jungen Union zusam­men mit ande­ren das Wahlergebnis an und zogen nach der Abweisung durch den Landeswahlleiter vor das Landesverfassungsgericht. Sie sahen durch die Privilegierung des SSW (Befreiung von der 5 %-Klausel) die ver­fas­sungs­ge­bo­te­ne Gleichheit der Wählerstimmen nicht mehr gewähr­leis­tet und zwei­fel­ten auch an, dass der SSW wirk­lich eine Partei einer natio­na­len Minderheit sei. Sollte letz­te­res noch der Fall sein, hiel­ten die Kläger die Befreiung von der 5%-Klausel nur für ein Grundmandat für gerecht­fer­tigt, wäh­rend wei­te­re Mandate nur nach Überwindung der 5 %-Klausel zum tra­gen kom­men soll­ten.

Seit 2000 ist der SSW durch das damals neu ein­ge­führ­te Zweitstimmenwahlrecht in ganz Schleswig-Holstein wähl­bar. Während er nur in den süd­schles­wig­schen Wahlkreisen Direktkandidaten auf­stellt, hat er sich ins­be­son­de­re zur Landtagswahl 2012 SSW ein Wahlkampfprofil unter dem Markenzeichen „her­ge­stellt in Schleswig-Holstein“ gege­ben. Dies und eine im Zuge der Debatte um die Finanzierung der däni­schen Minderheitsschulen anhal­ten­de Diskussion um die „Echtheit“ der däni­schen Minderheit begrün­de­ten in den Augen der Kläger eine Überprüfung der Sperrklauselbefreiung.

Das Gericht ent­schied ein­stim­mig, dass der SSW die poli­ti­sche Vertretung der däni­schen Minderheit sei, haupt­säch­lich weil klar ersicht­lich ist, dass alle akti­ven Politiker des SSW mit der Minderheit ver­bun­den sind und die Partei somit ein­deu­tig aus der Minderheit her­vor­geht. Gleichzeitig hielt es die Befreiung von der Sperrklausel für legi­tim und ver­fas­sungs­ge­mäß, wobei sich drei der sie­ben Richter in einem Minderheitsvotum für die Ansicht der Kläger aus­spra­chen, dass die Befreiung von der Sperrklausel nur für ein Grundmandat gel­ten sol­le.

Martin Klatt
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Martin Klatt, Assoc. Prof. am Institut for Grænseregionsforskning der Süddänischen Universität in Sønderborg. Forschungsgebiete: deutsch-dänische Regionalgeschichte, Grenzregionen, grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Europa. Co-Autor von Lars N. Henningsen/Martin Klatt/Jørgen Kühl: SSW. Dansksindet politik i Sydslesvig 1948-1998, Flensburg, 1998.

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