Inklusion - Wie die wilden Kerle lernen

Von | 8. September 2014
Inklusion

Dieter Schütz / pixelio.de

Unter dem Titel „Wie die wil­den Kerle ler­nen“ luden die Grünen am ver­gan­ge­nen Donnerstag zu einer Veranstaltung der „plietsch”-Reihe ins Landeshaus ein und lenk­ten damit den Blick auf den Stand der Inklusion in Schleswig-Holstein.

Ziel der Inklusion ist, die­se Schülerinnen und Schüler nicht mehr aus­schließ­lich in soge­nann­ten Förderzentren, frü­her Sonderschulen genannt, zu unter­rich­ten, son­dern sie in all­ge­mein­bil­den­den Schulen gemein­sam mit Kindern und Jugendlichen ohne Förderbedarf auf das Leben vor­zu­be­rei­ten. In den Bundesländern wird Inklusion sehr unter­schied­lich stark vor­an­ge­trie­ben. So bil­den Bremen, Schleswig-Holstein und Berlin die Vorreiter in die­sem Bereich und haben bereits 50 Prozent oder mehr der Förderschüler an Regelschulen inte­griert, wäh­rend es in Nordrhein-Westfalen, Hessen und Niedersachsen noch nicht ein­mal 20 Prozent sind.

Wenn von Inklusion im bil­dungs­po­li­ti­schen Kontext die Rede ist, meint man das gemein­sa­me Unterrichten von Schülern mit und ohne Förderbedarf. Diese Förderbedarfe kön­nen in ver­schie­de­nen Bereichen bestehen. Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen bil­den mit rund 40 Prozent die größ­te Gruppe, dazu kom­men die Förderschwerpunkte geis­ti­ge Entwicklung (16 Prozent), emo­tio­na­le und sozia­le Entwicklung (13 Prozent), körperliche/​motorische Entwicklung (7 Prozent), Sprache (11 Prozent), Hören (3 Prozent) sowie Sehen (1,5 Prozent). Dazu kom­men noch Schüler mit über­grei­fen­den Förderbedarfen und kran­ke Schüler, die eine beson­de­re Betreuung brau­chen.

Von der Theorie zur Praxis

Doch um erfolg­reich Inklusion zu betrei­ben, reicht guter Wille allein nicht aus. Um Schüler mit ver­schie­de­nen Förderbedarfen an den Regelschulen adäquat betreu­en zu kön­nen, müs­sen Sonderschulpädagogen mit ihrem Fachwissen über die unter­schied­li­chen Förderbedarfe eben­falls in den Alltagsbetrieb der Regelschulen inte­griert wer­den. Diese sind zumeist an den Förderzentren ange­stellt, arbei­ten jedoch in Regelschulen, so dass vie­le Förderzentren immer mehr zu Schulen ohne Schüler im eige­nen Haus wer­den. Innerhalb Schleswig-Holsteins vari­ie­ren die Inklusionsquoten zwi­schen 76,4 Prozent im Kreis Steinburg und 44,4 Prozent im Kreis Plön.

Bei der „plietsch”-Veranstaltung lag ein beson­de­rer Fokus auf der Inklusion von Schülern mit dem Förderbedarf sozia­le und emo­tio­na­le Entwicklung. Gastgeberin Anke Erdmann, schul­po­li­ti­sche Sprecherin der Grünen und Vorsitzende des Bildungsausschusses, berich­te­te von ihren Beobachtungen bei Schulbesuchen und zitier­te einen Schulleiter, der aus­führ­te, dass die Langsamlerner weni­ger das Problem sei­en, son­dern viel­mehr die Schüler, die durch ihr unan­ge­pass­tes Verhalten gan­ze Klassen und Schulen lahm­le­gen kön­nen. Sie räum­te eben­falls ein, dass der Landtag eben die­se Schüler bis­her kaum im Blick hat­te, wenn über Inklusion gespro­chen wur­de, son­dern dass die­ser vor­wie­gend auf denen mit kör­per­li­chen Handicaps lag.

Im spä­te­ren Verlauf der Veranstaltung sprach der GEW-Landesvorsitzende Matthias Heidn davon, dass sich im Bereich der Zunahme des sozi­al-emo­tio­na­len Förderbedarfs eine rasan­te Entwicklung voll­zieht und die Zahlen stei­gen. Angela Ehlers, Vorsitzende des Verbands Sonderpädagogik Schleswig-Holstein, spe­zi­fi­zier­te in ihren Ausführungen den Begriff des sozi­al-emo­tio­na­len Förderbedarfs. Damit sind nicht die Schüler gemeint, die häu­fig kip­peln oder sich in der Pause mal prü­geln. Es geht um Kinder und Jugendliche, die unter mas­si­ven Schulängsten lei­den, bereits Aufenhalte in psych­ia­tri­schen Einrichtungen hat­ten, lang­fris­tig schul­ab­sti­nent waren oder ein stark nach außen gerich­te­tes Verhalten zei­gen, das sie selbst und ande­re gefähr­det. Für die­se Schüler müs­sen Lösungen gefun­den wer­den, damit sie in Regelschulklassen lern­fä­hig sein kön­nen und nicht zu einer dau­er­haf­ten Belastung für ihre Mitschüler, Lehrer und des gesam­ten Schulbetrieb wer­den. Alle Referenten waren sich einig, dass dafür mul­ti­pro­fes­sio­nel­le Teams nötig sind, in denen Sozialpädagogen, Sonderschullehrer und Regelschullehrer gemein­sam zusam­men­ar­bei­ten. Wie das in der Praxis aus­se­hen kann, zeig­ten die drei Best Prac­tice Beispiele, die auf der Veranstaltung vor­ge­stellt wur­den.

Familie in Schule

Zuerst stel­len Ulrike Behme-Matthiessen, Leiterin der Tagesklinik Baumhaus am HELIOS Klinikum Schleswig, und Heike Petersen, Koordinatorin für FiSch-Arbeit, das Projekt „Familie in Schule” vor, das seit 2006 immer wei­ter­ent­wi­ckelt und mitt­ler­wei­le in über 20 FiSch-Klassen in ganz Schleswig-Holstein prak­ti­ziert wird. Das FiSch-Konzept basiert auf dem Ansatz der Multifamilientherapie und defi­niert sich über den Leitsatz „Ohne Eltern geht es nicht”. Deshalb liegt ein star­ker Fokus auf der Stärkung der Eltern, die in Familien mit mul­ti­plen Problemfeldern häu­fig als wenig prä­sent und kom­pe­tent wahr­ge­nom­men wer­den, was sich auf das Verhalten der Kinder aus­wirkt.

Durch ein kon­ti­nu­ier­li­ches Elterncoaching sol­len den Eltern neue Handlungsmöglichkeiten eröff­net wer­den, mit Hilfe derer sie ihren Kindern zu einer erfolg­rei­chen Teilnahme am Regelschulunterricht ver­hel­fen kön­nen. Deshalb wird min­des­tens ein Elternteil an einem Tag der Woche in den Unterricht ein­ge­bun­den. An die­sem Tag besucht das Kind die FiSch-Klasse, wäh­rend es die rest­li­chen Wochentage ganz nor­mal am Unterricht in sei­ner Stammklasse teil­nimmt. Die FiSch-Klassen bestehen meis­tens aus weni­ger als zehn Schülerinnen und Schülern. Sie sind mit jeweils einer Lehrkraft und einer sozi­al­päd­ago­gi­schen Kraft besetzt. Während ers­te­re für den Unterricht zustän­dig ist, wid­met sich die ande­re dem Elterncoaching.

Ein FiSch-Tag beginnt immer mit einer Reflexionsrunde über die ver­gan­ge­ne Woche und einem Austausch dar­über, wie die neu­en elter­li­chen Handlungsmöglichkeiten im Alltag funk­tio­niert haben. Im Tagesverlauf hos­pi­tie­ren die Eltern im Unterricht ihrer Kinder und beob­ach­ten sie. Wenn Schwierigkeiten im Unterrichtsverlauf auf­tre­ten, gehen die Eltern zu ihren Kindern und ver­su­chen sie zu unter­stüt­zen oder tau­schen sich mit den ande­ren Eltern und der Coachingkraft über mög­li­che Handlungsansätze aus. Am Ende des Schultages fin­det eine wei­te­re Gesprächsrunde statt, bei der die Schüler über das Erreichen ihrer Ziele in der ver­gan­ge­nen Woche reflek­tie­ren und sich neue Ziele set­zen.

Damit das mög­lich ist, geben die Lehrkräfte in der Stammklasse am Ende jeder Unterrichtsstunde Feedback über das Verhalten der Kinder in Bezug auf ihre indi­vi­du­el­len Ziele, wel­ches dann vor der Abschlussgesprächsrunde zusam­men­ge­fasst und visua­li­siert wird. Einen wei­te­ren wich­ti­gen Bestandteil bil­den drei Intensivgespräche zwi­schen Klassenlehrkraft, FiSch- und Coachingkraft, Eltern und Kind, die die zwölf Wochen umrah­men, in denen die Schüler in der FiSch-Klasse ver­blei­ben.

Ziel ist, dass das Kind nach den zwölf Wochen gestärkt voll­stän­dig in sei­ne Stammklasse zurück­kehrt und sowohl Eltern als auch Kinder für sich selbst neue Handlungsmöglichkeiten für schwie­ri­ge Situationen ent­deckt und ein­ge­übt haben. Der Kreis Schleswig-Flensburg stellt für das FiSch-Projekt an neu­en Standorten 4,5 Planstellen zur Verfügung und das Projekt wird außer­dem durch die Jugendhilfe und den schul­psy­cho­lo­gi­schen Dienst in Bezug auf finan­zi­el­le Mittel, Fortbildungen und Supervisionen unter­stützt. Das Projekt erhielt dar­über hin­aus wis­sen­schaft­li­che Begleitung und wur­de im Rahmen einer Masterarbeit eva­lu­iert.

Kooperatives Schultraining

Im zwei­ten Beitrag stell­ten Heiko Knoche, Lehrkraft, und Kai Grüninger, Sozialpädagoge, das koope­ra­ti­ve Schultraining des Kreises Pinneberg vor. Vor sechs Jahren ent­stan­den, rich­tet es sich vor allem an Schüler, die auf­grund erheb­li­cher per­sön­li­cher, sozia­ler oder psy­chi­scher Auffälligkeiten nicht erfolg­reich am Regelschulunterricht teil­neh­men kön­nen. Mittlerweile gibt es vier der­ar­ti­ge Maßnahmen im Kreis Pinneberg, die nach einem gemein­sa­men Konzept arbei­ten und vor allem für Zehn- bis Sechzehnjährige gedacht sind, die die oben genann­ten Probleme auf­wei­sen.

Ziel des Projekts ist eine schritt­wei­se Wiedereingliederung in die Regelschule. Deshalb wird von Anfang an eine geeig­ne­te Stammklasse gesucht, in die der jewei­li­ge Projektteilnehmer nach einer Zeit von durch­schnitt­lich 18 Monaten kom­plett zurück­ge­führt wer­den soll. Während des Projektzeitraums wer­den schul­fer­ne, schul­na­he und schu­li­sche Lernorte in indi­vi­du­ell ver­schie­de­nen Anteilen genutzt. Je nach Bedarf der Teilnehmer wird indi­vi­du­ell ent­schie­den, ob schul­fer­ne Orte mit Angeboten wie Einzelgesprächen, Tierversorgung, rei­ten oder kör­per­li­che Aktivitäten erst ein­mal stär­ker genutzt wer­den, damit die Jugendlichen wie­der Vertrauen in ihre eige­nen Fähigkeiten gewin­nen.

Ein wei­te­rer Schritt ist die Beschulung in klei­nen Lerngruppen, bei dem jedoch dar­auf geach­tet wird, dass die Unterrichtsinhalte sich an denen der Stammklasse ori­en­tie­ren. Stellt sich her­aus, dass ein Schüler in einem Fach beson­de­re Stärken auf­weist, star­tet er mit die­sem Fach mit weni­gen Stunden in der spä­te­ren Stammklasse. Zu Anfang ist in die­sen Stunden immer noch jemand aus dem Team des koope­ra­ti­ven Schultrainings dabei und fun­giert in Zweitbesetzung als Unterstützung für die Lehrkraft in der Stammklasse sowie als Berater für den Schüler. Im Verlauf der Teilnahme am Projekt wird die Zeit in der Stammklasse schritt­wei­se erwei­tert, wäh­rend die Anteile an schul­fer­nen Lernorten und die Beschulung in der Kleingruppe schrump­fen. Neben einer aus­führ­li­chen Diagnostikphase beim Einstieg in das Projekt, wird auch hier inten­si­ve Elternarbeit betrie­ben und am Ende einer jeden Woche erfol­gen Reflexionsgespräche, bei denen das Erreichen der gesetz­ten Wochenziele bespro­chen wird und Ziele für die kom­men­de Woche fest­ge­legt wer­den.

Schule ohne Schüler im eigenen Haus

Zuletzt stell­te Lars Krackert, Schulleiter des Förderzentrums Schleswig-Kropp, sei­ne Schule ohne Schüler im eige­nen Haus vor. Der Grund dafür ist, dass die 324 Schüler der Schule an 26 Regelschulen inte­griert und dort von 44 Sonderschulpädagogen unter­stützt wer­den. Auch wenn das Förderzentrum schwer­punkt­mä­ßig Schülerinnen und Schüler mit dem Förderbedarf Lernen betreut, wird vor Ort nach Lösungen gesucht, wenn sie auf­grund von sozi­al-emo­tio­na­len Belastungen nicht in der Lage sind, am Unterricht teil­zu­neh­men. Teams aus Kräften, die auf Erziehungshilfe spe­zia­li­siert sind, und Sonderpädagogen sor­gen für Entspannung in den jewei­li­gen Klassen, indem sie die jewei­li­gen Schüler auf Zeit in Kleingruppen inner­halb der eige­nen Schule betreu­en. Ziel ist eine zügi­ge Reintegration in die Stammklasse und die Erfolgsquote liegt lauf Lars Krackert bei 78 Prozent. Die kom­plet­te Reintegration soll­te inner­halb von sechs bis zwölf Monaten erfol­gen. Auch hier wird Diagnostik groß­ge­schrie­ben, denn nur wenn den Ursachen der Belastung auf den Grund gegan­gen wird, kön­nen Maßnahmen für eine nach­hal­ti­ge Reintegration geplant und schritt­wei­se umge­setzt wer­den. Aktuell gibt es sechs Fördergruppen mit jeweils vier bis fünf Schülern. Mittlerweile neh­men auch zwei Gymnasien die Unterstützung in Bezug auf schu­li­sche Erziehungshilfe in Anspruch. Das Förderzentrum hat bereits den Jakob Muth-Preis sowie den 2. Platz als Schule des Jahres Schleswig-Holstein 2014 bekom­men.

Abschlussdiskussion

plietsch-Veranstaltung im Landtag - "Wo die wilden Kerle lernen"

plietsch-Veranstaltung im Landtag — „Wo die wil­den Kerle ler­nen”

Anschließend an die Darstellungen der drei Best Practice Beispiele folg­te eine Podiumsdiskussion, an der sich die anwe­sen­den Besucher mit Fragen und Statements betei­li­gen durf­ten. In den anfäng­li­chen Ausführungen von Angela Ehlers und Matthias Heidn kam noch ein­mal deut­lich zum Ausdruck, dass Inklusion ein höchstak­tu­el­les Thema ist, an dem die Bildungspolitik nicht vor­bei­kommt. Seit bereits 25 Jahren wird in Schleswig-Holstein inklu­siv gear­bei­tet und die Quote hat sich ste­tig gestei­gert.

Nun wur­de erst­mals von einer Regierungskoalition ein Inklusionskonzept vor­ge­stellt. Dieses bedeu­tet aber nur den Startschuss für eine umfang­rei­che Auseinandersetzung mit die­sem Thema, denn um es zu spe­zi­fi­zie­ren und adäquat und nach­hal­tig umzu­set­zen, müs­sen vie­le Facetten bedacht wer­den.

Einen wich­ti­gen Bereich wird dabei die Prävention bil­den. So merk­te eine Grundschullehrerin an, dass in den ers­ten bei­den Klassenstufen, in denen noch kei­ne Testungen auf bestimm­te Förderbedarfe erfol­gen, bereits eine stei­gen­de Menge Schülerinnen und Schüler mit diver­sen Problembelastungen erkannt wer­den. Jedoch ist eine Grundschullehrkraft, die für 25 oder mehr Kindern zustän­dig ist und nur zwei Stunden in der Woche Unterstützung durch eine dop­pelt­be­setz­te Lehrkraft hat, kaum in der Lage, den Bedürfnissen der belas­te­ten Kinder gerecht zu wer­den.

Ein eben­falls wich­ti­ges Thema ist die Ausbildung hoch­pro­fes­sio­nel­ler Sonderpädagogen, die ihre Expertise an pas­sen­den Stellen ein­brin­gen kön­nen. Ein Schlagwort des Abends waren die „mul­ti­pro­fes­sio­nel­len Teams” und es wur­de deut­lich, dass ent­spre­chen­de Ressourcen benö­tigt wer­den, um belas­te­te Schüler in klei­nen Lerngruppen inten­siv mit Vertretern der ver­schie­de­nen Professionen betreu­en zu kön­nen.

Die Best Practice Beispiele zei­gen, dass eine sol­che Herangehensweise erfolg­reich ist, jedoch sind sol­che Unterstützungssysteme nicht flä­chen­de­ckend vor­han­den. Des Weiteren ent­ste­hen punk­tu­ell gute und nach­ah­mens­wer­te Pilotprojekte, doch die Vernetzung und der Austausch fehlt im Bundesland, so dass man­che Initiativen wie­der ver­san­den oder nur im klei­nen Rahmen genutzt wer­den.

Als Fazit des Abends ist fest­zu­hal­ten, dass obwohl Schleswig-Holstein eine bereits hohe Inklusionsquote vor­wei­sen kann, in Bezug auf die Qualität noch viel Handlungsbedarf besteht, der wie­der­um nur umge­setzt wer­den kann, wenn die Bildungspolitik in ihrer Planung die rich­ti­gen Akzente setzt.

Quellen:

Von:

Melanie Richter lebt seit mehr als 20 Jahren in Kiel, ist parteilos, seit 2010 Mitglied im Verein für Neue Medien Kiel e.V. und arbeitet in einer Kieler Gemeinschaftsschule.

2 Gedanken zu “Inklusion - Wie die wilden Kerle lernen”:

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