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Unter dem Titel „Wie die wilden Kerle lernen“ luden die Grünen am vergangenen Donnerstag zu einer Veranstaltung der „plietsch”-Reihe ins Landeshaus ein und lenkten damit den Blick auf den Stand der Inklusion in Schleswig-Holstein.
Ziel der Inklusion ist, diese Schülerinnen und Schüler nicht mehr ausschließlich in sogenannten Förderzentren, früher Sonderschulen genannt, zu unterrichten, sondern sie in allgemeinbildenden Schulen gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen ohne Förderbedarf auf das Leben vorzubereiten. In den Bundesländern wird Inklusion sehr unterschiedlich stark vorangetrieben. So bilden Bremen, Schleswig-Holstein und Berlin die Vorreiter in diesem Bereich und haben bereits 50 Prozent oder mehr der Förderschüler an Regelschulen integriert, während es in Nordrhein-Westfalen, Hessen und Niedersachsen noch nicht einmal 20 Prozent sind.
Wenn von Inklusion im bildungspolitischen Kontext die Rede ist, meint man das gemeinsame Unterrichten von Schülern mit und ohne Förderbedarf. Diese Förderbedarfe können in verschiedenen Bereichen bestehen. Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen bilden mit rund 40 Prozent die größte Gruppe, dazu kommen die Förderschwerpunkte geistige Entwicklung (16 Prozent), emotionale und soziale Entwicklung (13 Prozent), körperliche/motorische Entwicklung (7 Prozent), Sprache (11 Prozent), Hören (3 Prozent) sowie Sehen (1,5 Prozent). Dazu kommen noch Schüler mit übergreifenden Förderbedarfen und kranke Schüler, die eine besondere Betreuung brauchen.
Von der Theorie zur Praxis
Doch um erfolgreich Inklusion zu betreiben, reicht guter Wille allein nicht aus. Um Schüler mit verschiedenen Förderbedarfen an den Regelschulen adäquat betreuen zu können, müssen Sonderschulpädagogen mit ihrem Fachwissen über die unterschiedlichen Förderbedarfe ebenfalls in den Alltagsbetrieb der Regelschulen integriert werden. Diese sind zumeist an den Förderzentren angestellt, arbeiten jedoch in Regelschulen, so dass viele Förderzentren immer mehr zu Schulen ohne Schüler im eigenen Haus werden. Innerhalb Schleswig-Holsteins variieren die Inklusionsquoten zwischen 76,4 Prozent im Kreis Steinburg und 44,4 Prozent im Kreis Plön.
Bei der „plietsch”-Veranstaltung lag ein besonderer Fokus auf der Inklusion von Schülern mit dem Förderbedarf soziale und emotionale Entwicklung. Gastgeberin Anke Erdmann, schulpolitische Sprecherin der Grünen und Vorsitzende des Bildungsausschusses, berichtete von ihren Beobachtungen bei Schulbesuchen und zitierte einen Schulleiter, der ausführte, dass die Langsamlerner weniger das Problem seien, sondern vielmehr die Schüler, die durch ihr unangepasstes Verhalten ganze Klassen und Schulen lahmlegen können. Sie räumte ebenfalls ein, dass der Landtag eben diese Schüler bisher kaum im Blick hatte, wenn über Inklusion gesprochen wurde, sondern dass dieser vorwiegend auf denen mit körperlichen Handicaps lag.
Im späteren Verlauf der Veranstaltung sprach der GEW-Landesvorsitzende Matthias Heidn davon, dass sich im Bereich der Zunahme des sozial-emotionalen Förderbedarfs eine rasante Entwicklung vollzieht und die Zahlen steigen. Angela Ehlers, Vorsitzende des Verbands Sonderpädagogik Schleswig-Holstein, spezifizierte in ihren Ausführungen den Begriff des sozial-emotionalen Förderbedarfs. Damit sind nicht die Schüler gemeint, die häufig kippeln oder sich in der Pause mal prügeln. Es geht um Kinder und Jugendliche, die unter massiven Schulängsten leiden, bereits Aufenhalte in psychiatrischen Einrichtungen hatten, langfristig schulabstinent waren oder ein stark nach außen gerichtetes Verhalten zeigen, das sie selbst und andere gefährdet. Für diese Schüler müssen Lösungen gefunden werden, damit sie in Regelschulklassen lernfähig sein können und nicht zu einer dauerhaften Belastung für ihre Mitschüler, Lehrer und des gesamten Schulbetrieb werden. Alle Referenten waren sich einig, dass dafür multiprofessionelle Teams nötig sind, in denen Sozialpädagogen, Sonderschullehrer und Regelschullehrer gemeinsam zusammenarbeiten. Wie das in der Praxis aussehen kann, zeigten die drei Best Practice Beispiele, die auf der Veranstaltung vorgestellt wurden.
Familie in Schule
Zuerst stellen Ulrike Behme-Matthiessen, Leiterin der Tagesklinik Baumhaus am HELIOS Klinikum Schleswig, und Heike Petersen, Koordinatorin für FiSch-Arbeit, das Projekt „Familie in Schule” vor, das seit 2006 immer weiterentwickelt und mittlerweile in über 20 FiSch-Klassen in ganz Schleswig-Holstein praktiziert wird. Das FiSch-Konzept basiert auf dem Ansatz der Multifamilientherapie und definiert sich über den Leitsatz „Ohne Eltern geht es nicht”. Deshalb liegt ein starker Fokus auf der Stärkung der Eltern, die in Familien mit multiplen Problemfeldern häufig als wenig präsent und kompetent wahrgenommen werden, was sich auf das Verhalten der Kinder auswirkt.
Durch ein kontinuierliches Elterncoaching sollen den Eltern neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet werden, mit Hilfe derer sie ihren Kindern zu einer erfolgreichen Teilnahme am Regelschulunterricht verhelfen können. Deshalb wird mindestens ein Elternteil an einem Tag der Woche in den Unterricht eingebunden. An diesem Tag besucht das Kind die FiSch-Klasse, während es die restlichen Wochentage ganz normal am Unterricht in seiner Stammklasse teilnimmt. Die FiSch-Klassen bestehen meistens aus weniger als zehn Schülerinnen und Schülern. Sie sind mit jeweils einer Lehrkraft und einer sozialpädagogischen Kraft besetzt. Während erstere für den Unterricht zuständig ist, widmet sich die andere dem Elterncoaching.
Ein FiSch-Tag beginnt immer mit einer Reflexionsrunde über die vergangene Woche und einem Austausch darüber, wie die neuen elterlichen Handlungsmöglichkeiten im Alltag funktioniert haben. Im Tagesverlauf hospitieren die Eltern im Unterricht ihrer Kinder und beobachten sie. Wenn Schwierigkeiten im Unterrichtsverlauf auftreten, gehen die Eltern zu ihren Kindern und versuchen sie zu unterstützen oder tauschen sich mit den anderen Eltern und der Coachingkraft über mögliche Handlungsansätze aus. Am Ende des Schultages findet eine weitere Gesprächsrunde statt, bei der die Schüler über das Erreichen ihrer Ziele in der vergangenen Woche reflektieren und sich neue Ziele setzen.
Damit das möglich ist, geben die Lehrkräfte in der Stammklasse am Ende jeder Unterrichtsstunde Feedback über das Verhalten der Kinder in Bezug auf ihre individuellen Ziele, welches dann vor der Abschlussgesprächsrunde zusammengefasst und visualisiert wird. Einen weiteren wichtigen Bestandteil bilden drei Intensivgespräche zwischen Klassenlehrkraft, FiSch- und Coachingkraft, Eltern und Kind, die die zwölf Wochen umrahmen, in denen die Schüler in der FiSch-Klasse verbleiben.
Ziel ist, dass das Kind nach den zwölf Wochen gestärkt vollständig in seine Stammklasse zurückkehrt und sowohl Eltern als auch Kinder für sich selbst neue Handlungsmöglichkeiten für schwierige Situationen entdeckt und eingeübt haben. Der Kreis Schleswig-Flensburg stellt für das FiSch-Projekt an neuen Standorten 4,5 Planstellen zur Verfügung und das Projekt wird außerdem durch die Jugendhilfe und den schulpsychologischen Dienst in Bezug auf finanzielle Mittel, Fortbildungen und Supervisionen unterstützt. Das Projekt erhielt darüber hinaus wissenschaftliche Begleitung und wurde im Rahmen einer Masterarbeit evaluiert.
Kooperatives Schultraining
Im zweiten Beitrag stellten Heiko Knoche, Lehrkraft, und Kai Grüninger, Sozialpädagoge, das kooperative Schultraining des Kreises Pinneberg vor. Vor sechs Jahren entstanden, richtet es sich vor allem an Schüler, die aufgrund erheblicher persönlicher, sozialer oder psychischer Auffälligkeiten nicht erfolgreich am Regelschulunterricht teilnehmen können. Mittlerweile gibt es vier derartige Maßnahmen im Kreis Pinneberg, die nach einem gemeinsamen Konzept arbeiten und vor allem für Zehn- bis Sechzehnjährige gedacht sind, die die oben genannten Probleme aufweisen.
Ziel des Projekts ist eine schrittweise Wiedereingliederung in die Regelschule. Deshalb wird von Anfang an eine geeignete Stammklasse gesucht, in die der jeweilige Projektteilnehmer nach einer Zeit von durchschnittlich 18 Monaten komplett zurückgeführt werden soll. Während des Projektzeitraums werden schulferne, schulnahe und schulische Lernorte in individuell verschiedenen Anteilen genutzt. Je nach Bedarf der Teilnehmer wird individuell entschieden, ob schulferne Orte mit Angeboten wie Einzelgesprächen, Tierversorgung, reiten oder körperliche Aktivitäten erst einmal stärker genutzt werden, damit die Jugendlichen wieder Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten gewinnen.
Ein weiterer Schritt ist die Beschulung in kleinen Lerngruppen, bei dem jedoch darauf geachtet wird, dass die Unterrichtsinhalte sich an denen der Stammklasse orientieren. Stellt sich heraus, dass ein Schüler in einem Fach besondere Stärken aufweist, startet er mit diesem Fach mit wenigen Stunden in der späteren Stammklasse. Zu Anfang ist in diesen Stunden immer noch jemand aus dem Team des kooperativen Schultrainings dabei und fungiert in Zweitbesetzung als Unterstützung für die Lehrkraft in der Stammklasse sowie als Berater für den Schüler. Im Verlauf der Teilnahme am Projekt wird die Zeit in der Stammklasse schrittweise erweitert, während die Anteile an schulfernen Lernorten und die Beschulung in der Kleingruppe schrumpfen. Neben einer ausführlichen Diagnostikphase beim Einstieg in das Projekt, wird auch hier intensive Elternarbeit betrieben und am Ende einer jeden Woche erfolgen Reflexionsgespräche, bei denen das Erreichen der gesetzten Wochenziele besprochen wird und Ziele für die kommende Woche festgelegt werden.
Schule ohne Schüler im eigenen Haus
Zuletzt stellte Lars Krackert, Schulleiter des Förderzentrums Schleswig-Kropp, seine Schule ohne Schüler im eigenen Haus vor. Der Grund dafür ist, dass die 324 Schüler der Schule an 26 Regelschulen integriert und dort von 44 Sonderschulpädagogen unterstützt werden. Auch wenn das Förderzentrum schwerpunktmäßig Schülerinnen und Schüler mit dem Förderbedarf Lernen betreut, wird vor Ort nach Lösungen gesucht, wenn sie aufgrund von sozial-emotionalen Belastungen nicht in der Lage sind, am Unterricht teilzunehmen. Teams aus Kräften, die auf Erziehungshilfe spezialisiert sind, und Sonderpädagogen sorgen für Entspannung in den jeweiligen Klassen, indem sie die jeweiligen Schüler auf Zeit in Kleingruppen innerhalb der eigenen Schule betreuen. Ziel ist eine zügige Reintegration in die Stammklasse und die Erfolgsquote liegt lauf Lars Krackert bei 78 Prozent. Die komplette Reintegration sollte innerhalb von sechs bis zwölf Monaten erfolgen. Auch hier wird Diagnostik großgeschrieben, denn nur wenn den Ursachen der Belastung auf den Grund gegangen wird, können Maßnahmen für eine nachhaltige Reintegration geplant und schrittweise umgesetzt werden. Aktuell gibt es sechs Fördergruppen mit jeweils vier bis fünf Schülern. Mittlerweile nehmen auch zwei Gymnasien die Unterstützung in Bezug auf schulische Erziehungshilfe in Anspruch. Das Förderzentrum hat bereits den Jakob Muth-Preis sowie den 2. Platz als Schule des Jahres Schleswig-Holstein 2014 bekommen.
Abschlussdiskussion
Anschließend an die Darstellungen der drei Best Practice Beispiele folgte eine Podiumsdiskussion, an der sich die anwesenden Besucher mit Fragen und Statements beteiligen durften. In den anfänglichen Ausführungen von Angela Ehlers und Matthias Heidn kam noch einmal deutlich zum Ausdruck, dass Inklusion ein höchstaktuelles Thema ist, an dem die Bildungspolitik nicht vorbeikommt. Seit bereits 25 Jahren wird in Schleswig-Holstein inklusiv gearbeitet und die Quote hat sich stetig gesteigert.
Nun wurde erstmals von einer Regierungskoalition ein Inklusionskonzept vorgestellt. Dieses bedeutet aber nur den Startschuss für eine umfangreiche Auseinandersetzung mit diesem Thema, denn um es zu spezifizieren und adäquat und nachhaltig umzusetzen, müssen viele Facetten bedacht werden.
Einen wichtigen Bereich wird dabei die Prävention bilden. So merkte eine Grundschullehrerin an, dass in den ersten beiden Klassenstufen, in denen noch keine Testungen auf bestimmte Förderbedarfe erfolgen, bereits eine steigende Menge Schülerinnen und Schüler mit diversen Problembelastungen erkannt werden. Jedoch ist eine Grundschullehrkraft, die für 25 oder mehr Kindern zuständig ist und nur zwei Stunden in der Woche Unterstützung durch eine doppeltbesetzte Lehrkraft hat, kaum in der Lage, den Bedürfnissen der belasteten Kinder gerecht zu werden.
Ein ebenfalls wichtiges Thema ist die Ausbildung hochprofessioneller Sonderpädagogen, die ihre Expertise an passenden Stellen einbringen können. Ein Schlagwort des Abends waren die „multiprofessionellen Teams” und es wurde deutlich, dass entsprechende Ressourcen benötigt werden, um belastete Schüler in kleinen Lerngruppen intensiv mit Vertretern der verschiedenen Professionen betreuen zu können.
Die Best Practice Beispiele zeigen, dass eine solche Herangehensweise erfolgreich ist, jedoch sind solche Unterstützungssysteme nicht flächendeckend vorhanden. Des Weiteren entstehen punktuell gute und nachahmenswerte Pilotprojekte, doch die Vernetzung und der Austausch fehlt im Bundesland, so dass manche Initiativen wieder versanden oder nur im kleinen Rahmen genutzt werden.
Als Fazit des Abends ist festzuhalten, dass obwohl Schleswig-Holstein eine bereits hohe Inklusionsquote vorweisen kann, in Bezug auf die Qualität noch viel Handlungsbedarf besteht, der wiederum nur umgesetzt werden kann, wenn die Bildungspolitik in ihrer Planung die richtigen Akzente setzt.
2 Gedanken zu “Inklusion - Wie die wilden Kerle lernen”: