„Der einzig wahre Realist ist der Visionär.“ Federico Fellini hat mit dieser Einstellung das Nachkriegskino in Europa nachhaltig geprägt, uns ewig schöne Filme wie La Strada (Das Lied der Straße), La dolce vita (Das süße Leben) oder Ginger und Fred hinterlassen.
Auf die Politik übertragen braucht der Realist, der heute Politik gestalten zu können, die uns auch noch morgen nützt, Visionen, die über die Dauer eines Landeshaushaltes oder einer Legislaturperiode hinaus reichen.
Robert Habeck, Fraktionschef der Grünen im Kieler Landtag, hat zur heutigen (14. Januar) Fraktions-Klausur der Landtags-Grünen im nordfriesischen Leck ein Strategiepapier vorgelegt, das ebenso bescheiden wie unzutreffend „Leitlinien für die Arbeit der Grünen der Landtagsfraktion bis zur Neuwahl” überschrieben ist, aber über den Zeitraum hinaus schaut.
Man wird darüber streiten können. Man muss darüber streiten. Das wäre ein schöner Erfolg. Dann lernen wir auch andere Visionen kennen.
Das Landesblog dokumentiert nachfolgend den Wortlaut des Papieres.
Landesaußenpolitik
Leitlinien für die Arbeit der Grünen der Landtagsfraktion bis zur Neuwahl
Robert Habeck
1. Widersprüchliche Herausforderungen
In 2010 hat sich die Grüne Eigenständigkeit zu einem neuen grünen Selbstbewusstsein weiterentwickelt und wir wurden immer mehr zu der politischen Kraft, die einen gesellschaftlichen Führungsanspruch formuliert. Das bemisst sich nicht an Umfragen sondern an Konzepten. Im diesen Sinn ist die einzig vernünftige Reaktion auf gestiegene gesellschaftliche Erwartungshaltungen, mit noch größerem Arbeitsethos ans Werk zu gehen. Die neue Herausforderung, vor der die Grünen stehen, ist die Programmatik in Konzepte zu verwandeln – und zwar möglichst ohne Abstriche an weitreichenden, visionären Vorstellungen und andererseits mit dem verschärften Blick auf die Möglichkeiten der Umsetzung. Dies beinhaltet sowohl finanzielle Einschränkungen wie rechtliche Rahmenbedingungen. Insofern spiegelt die Position der grünen Landtagsfraktion den gesellschaftlichen Protest – auch in seiner Widersprüchlichkeit.
Ob die guten Umfrageergebnisse später auch zu guten Wahlergebnissen führen und dann in der nächsten Legislatur erhalten bleiben, liegt nicht an den Umfragen, sondern einzig und allein an uns. Mehr Menschen als jemals zuvor trauen uns mehr zu. Diesem Anspruch müssen sich die Grünen stellen – und die Landtagsfraktion muss ihn einlösen. Die Frage, ob die Grünen Volkspartei werden oder nicht, ist eine Frage aus der Vergangenheit. Wir werden nicht für Konsens und kleinsten-gemeinsamen-Nenner gewählt. Wir werden für konzeptionelle Antworten gewählt, die den Anspruch auf gesellschaftliche Veränderung nicht aufgeben. Diesen Spagat müssen die Grünen aushalten.
Tiefengrund der BürgerInnenproteste des letzten Jahres ist das feine Gespür für die enge des politischen Entscheidungsspielraumes. Stets gibt es gesetzliche Vorgaben, selbstgesteckte, wie die Schuldenbremse, oder aus Berlin und Brüssel, die politisches Agieren erschweren. Am greifbarsten ist dies in der Energiepolitik, — selbst wenn wir eine grüne Alleinregierung in Schleswig-Holstein hätten, wir können die AKWs nicht gegen Bundesgesetze stilllegen — am deutlichsten in der Finanz- und Währungspolitik, wo der Zusammenbruch der Weltfinanzen die HSH Nordbank mitgerissen hat (die freilich kein Unschuldslamm bei den Spekulationen war). Insofern sind die Proteste vermutlich eine verspätete Reaktion auf die Hilflosigkeit und Nachträglichkeit von politischen Entscheidungsprozessen angesichts der großen Anonymität der Strukturen – und sie zielen im Kern auf eine neue Ermöglichung von Gestaltung. Andererseits kann diese nur innerhalb demokratischer Prozesse und nach rechtsstaatlichen Spielregeln erfolgen. Politiker, die sich daran nicht halten, werden als unglaubwürdig angesehen und sind es auch.
Folglich ist die Aufgabe – zumal der grünen Landtagsfraktion – so zu beschreiben: Innerhalb des eingeübten Systems des Föderalismus müssen wir für Veränderungen sorgen, die dem Land und seinen Bürgerinnen und Bürgern wieder Handlungs- und Entscheidungsoptionen zurück geben, also: Innerhalb der föderalen Strukturen müssen wir Ansätze finden, die diese verändern. Mit anderen Worten: Eine zukünftige Landespolitik ist Landesaußenpolitik!
2. Von der Programmatik zu Konzepten
Die Leistungsbilanz der grünen Landtagsfraktion kann insgesamt als gut bezeichnet werden. Die wesentlichen Themenfelder sind durch die Fachaufteilung der Fraktion abgedeckt. Den Vergleich zu der Arbeit anderer Fraktionen brauchen wir nicht zu scheuen. Immer mehr gelingt es in den verschiedenen Themenfeldern die politische Interpretation zu bestimmen. Andererseits ist Selbstzufriedenheit Fehl am Platz. Erstens, weil das Messen an der Arbeit der anderen Fraktionen nur ein relativer Vergleich ist (und nicht immer ein schmeichelhafter), zweitens weil es durchaus Themenfelder gibt, die wir nicht oder ungenügend konzeptionell unterlegen oder nicht offensiv genug in die gesellschaftliche Diskussion bringen, drittens, weil die Nagelprobe noch nicht erbracht ist. Die Nagelprobe ist die unter 1. Beschrieben Aufgabe, von der Programmatik zu Konzepten zu gelangen.
Dabei sind die Aufgaben weiter geworden. Wurden früher von den Grünen Antworten für Verbraucherschutz, Gleichstellungspolitik, Umwelt-, Energie-, Integrationspolitik erwartet, gilt dies jetzt auch für Wirtschaftspolitik, Innen- und Sicherheitspolitik, Bildungs-, Gesundheits- und Finanzpolitik. In diesem Sinne sind wir in der Mitte der Gesellschaft tatsächlich angekommen – es gibt kein zentrales gesellschaftliches Feld, dem wir uns nicht stellen (müssen und wollen).
Dabei haben wir besonders im letztgenannten Themenfeld Hausaufgaben zu machen. Programmatisch sind wir da sehr gut aufgestellt. JedeR Grüne kann Kriterien der Nachhaltigkeit für Wirtschafts- ggf. sogar für Finanzprodukte aufzählen, kann demokratische Aspekte für mehr Bürgerbeteiligung fordern oder ein besseres Miteinander von Polizei und Demonstranten. Aber welche Rechtsvorschriften bei der Einzelbetrieblichen Förderung müssen wie geändert werden? Wie genau findet die Mittelsteuerung im Sozialbereich statt? Wie genau setzt man eine Verwaltungsreform um? Die Aufgabe der Fraktion wird es sein, diese Frage vor der nächsten Landtagswahl beantwortet zu haben. Erstens, weil es gegen die grüne Ehre und das grüne Selbstverständnis als grüne Bürgerpartei geht, den Menschen (und sich selbst) Sand über die Bedingungen der Möglichkeiten in die Augen zu streuen, zweitens, weil diese Hausaufgaben die Voraussetzung dafür sind, einen wirklich ehrgeizigen Politikanspruch zu formulieren.
Jeder Fachbereich der Landtagsfraktion legt zur Klausurtagung deshalb eine Projektskizze für die zu schreibenden Konzepte vor und gliedert sie nach IST-Stand, grünen Antworten (Programmatik) und Lösungen (Konzepten).
3. Landesaußenpolitik
Schleswig-Holstein ist allein nicht lebensfähig. Als Land war es abgeschnitten, sofern ihm Hamburg nicht zugehörte, oder es nicht Teil des skandinavischen Raumes war. Das ist die brutale historische Sicht. Aber ist es auch die Wahrheit? Immer wieder nämlich schaffte es das Land zwischen den Meeren, politische Bedeutung zu gewinnen. Immer dann war das Land und seine Politik gut, wenn sie nicht nur Politik für das Land gemacht hat, sondern wenn sie einen Anspruch formulierte, die über die Provinz Schleswig-Holstein und seine Provinzialität hinausging. Und genau das dürfte die Herausforderung für die nächsten Jahre sein: Landespolitik zu machen, die über das Land hinaus weist. Die Probleme der Zukunft sind für das Land noch nicht ehrlich genug beschrieben. Und beschreibt man sie, dann kommt man zum Schluss, dass Schleswig-Holstein völlig unzureichend aufgestellt ist, um halbwegs prosperierend die Aufgaben der Zukunft zu bestehen. Neben der Bedrohung durch den Klimawandel stellt vor allen Dingen der demographische Wandel das Land vor riesige Probleme.
Im ländlichen Raum – wie in Ostdeutschland, wo man wirklich schon dabei ist, Dörfer wieder aufzugeben – droht eine ganze Infrastruktur zusammen zu brechen. Die Sorgen um die Landarzt-Versorgung und den Fortbestand der kleinen Grundschulen sind da nur der Anfang. 80.000 Einwohner wird das Land bis 2050 verlieren. Die sozialen Dienstleistungen werden dann in der Fläche kaum zu halten sein, was die Konzentration auf die Städte nach sich ziehen und eine zusätzliche Landflucht einläuten wird. Die Idee, diesem Verlust im ländlichen Raum mit mehr Wirtschaftswachstum begegnen zu wollen, ist richtig, aber unstrategisch, wenn er diffus daher kommt. Wenn man alles fördert, fördert man in Wahrheit nichts.
- Der Ansatz wird sein müssen, dass man den Impuls, der aus dem Land zu den Städten geht, wird zurückgeben müssen. Aus den Zentren die wir haben, wird die Region gestärkt. Die beste Stärkung wäre, die Akademikerquote zu erhöhen und die jungen Leute, die ja schon in Schleswig-Holstein sind, im Land zu halten. Ersteres wird ohne Hilfe des Bundes und deshalb ohne eine Streichung des Kooperationsverbotes nicht möglich sein, für letzteres bietet die mittelständisch geprägte Wirtschaft eine hervorragende Möglichkeit. Konzentriert sich diese Wirtschaft auf die strategischen Handlungsfelder der Zukunft, wird sie den Braindrain im Land stoppen können. Deshalb muss sich die Wirtschafts- und Technologieförderung auf die Märkte der Zukunft konzentrieren, also vor allem auf die Entwicklung energieeffizienter Technologien und Geräte, außerdem auf grüne Technologien so z. B. in der Abfallwirtschaft, in der Nano- und Biotechnologie und bei der Energieerzeugung. Bis zu 25.000 Arbeitsplätze könnten allein in Schleswig-Holstein durch Klimaschutz bei der Gebäudesanierung, in der ökologischen Landwirtschaft und durch Erneuerbare Energien entstehen.
- Das Know-how im Land zu halten, bedeutet daher vor allen Dingen die Kompetenz im Bereich der Erneuerbaren Energien weiter zu entwickeln. Schleswig-Holstein wird, ohne zu pathetisch klingen zu wollen, das Land, in dem wie unter einem Brennglas die Entscheidung über die zukünftige Energiestruktur der Bundesrepublik fallen wird. Hier gibt es drei AKW — von denen zwei extrem störanfällig sind -, hier sollen vier neue Kohlekraftwerke gebaut werden, hier sind große Off-Shore-Parks in Planung und es gibt die theoretische Möglichkeit für eine unterirdische CO2-Speicherung. In Schleswig-Holstein entscheidet sich, ob Deutschland energisch in Richtung Erneuerbarer Energie aufbricht oder alles gleichzeitig will und damit in Wahrheit nichts. Die nächste Landesregierung muss im Bereich der Erneuerbaren klare Prioritäten setzen, auf die Stllegung der AKWs hinwirken, den Bau von Kohlekraftwerken ablehnen, ggf. der Bindung zur Förderung von Anlagen an den Wirkungsgrad koppeln (Bundesratsinitiative), 110 kv-Leitungen als Erdkabel verlegen und im Bereich e-Mobilität die Spitzenforschung ins Land holen, denn die e-Mobilität ist auch eine Antwort auf die Speicherfrage Erneuerbarer Energie.
- Die Schuldenbremse sinnvoll zu interpretieren, heißt eine Vision von einem Schleswig-Holstein 2020 zu haben und alle Mittel zu nutzen, um diese zu befördern. Und es heißt, das Land von seinen Zinsen zu befreien. Die einzige Möglichkeit, dies zu tun, ist ein Altschulden-Tilgungsfonds. Ohne diesen Fonds wird Schleswig-Holstein finanziell nicht überleben können. Und weil das Problem in Schleswig-Holstein am drückendsten ist, sollte der Ministerpräsident es sich auf seine Fahne schreiben, diese Schuldenbremse in Berlin einzufordern.
- Die Haushaltsberatungen für den Doppelhaushalt 2011/12 haben gezeigt: Steuererhöhungen sind auch für CDU und FDP kein Tabu mehr; ohne Steuererhöhungen geht die Konsolidierung des Landes nicht. Deshalb wird eine nächste Landesregierung treibende Kraft im Bundesrat für eine höhere Staatsquote sein müssen. Wir verschließen uns dabei nicht einer Debatte über eine Mehrwertssteuerreform, gehen aber darüber hinaus, wollen den Soli in einen Bildungssoli umwandeln, die Einführung einer Vermögenssteuer (ggf. als Abgabe zur Tilgung des Altschuldenfonds), eine Anhebung der Erbschaftssteuer. Das Land muss im Bundesrat Initiative zeigen.
- Ein Ergebnis der Enquetekommission norddeutsche Zusammenarbeit sollte sein, dass zügig eine Föderalismus-Kommission III eingesetzt wird, die die Bedingungen für einen neuen Länderfinanzausgleich aushandelt. Der alte geht bis 2017, ab 2016 müssen die Bedingungen für einen neuen klar sein, ab 2014 wird darüber verhandelt werden, ab 2013 sollte das Land wissen, was es will – dass heißt, die nächste Landesregierung muss sofort mit der Debatte über eine Neuordnung des Föderalismus beginnen.
Die bestehenden Regelungen im Länderfinanzausgleich sind so gestaltet, dass die Region 1 Mrd verliert, würde sie sich an eine föderale Neuordnung heranmachen. Es kann nicht richtig sein, dass sinnvolle Schritte bestraft werden. - Vermutlich wird der nächste Bildungsminister eine Aufgabe haben: Sich selbst in Frage zu stellen und den Bildungsföderalismus mit seiner Unterfinanzierung zu hinterfragen. Wir brauchen eine Bildungspolitik mit bundesweit einheitlichen Strukturen, die Aufhebung des Kooperationsverbotes, ein ausreichendes Bundesprogramm für U3-Kita-Betreuungsplätze und einen Hochschulpakt mit klaren Vorgaben für Studienplätze (Hochschullastenausgleich). Der Einwand ist, dass dann die Existenz des Bundeslandes bedroht ist, das ja ohne Bildung kaum eigenverantwortliche Aufgaben hat. Aber was für ein kläglicher, besitzstandswahrender Gedanke! Umgekehrt wird ein Schuh draus! Schleswig-Holstein muss eine Neudefinition seiner Rolle als Bundesland schaffen.
- Am stärksten über die Musikfestivals Jazz und Folk Baltica, das SHMF, aber auch über Reisestipendien, Hochschulkooperationen und die Arbeit der Academia Baltica kann das Land seine geographische Lage im Rahmen einer europäischen Kulturstrategie zu einer starken baltischen Kulturarbeit ausprägen. Dass die Unterstützung der Kulturvereine der nationalen Minderheiten dazu gehört, erklärt sich fast von selbst. Konkretes Projekt wäre die Unterstützung der Bewerbung von Sonderburg/ Flensburg zur europäischen Kulturhauptstadt. Die Streichung der Mittel für die Jazz Baltica ist dann wieder rückgängig zu machen. Salzau als Ort hat die Geschichte des Jazz Festivals begründet – ist aber, ein Kaufinteresse vorausgesetzt – auch ersetzbar. Nämlich dann, wenn Jazz Baltica breit ausstrahlend eine Neukonzeption findet.
- Die Zusammenarbeit mit den Ostseeanrainer-Staaten ist zum Erliegen gekommen. Nicht nur im kulturellen Bereich, auch im Bereich der Hochschulen, der Energie-Kooperation, der Agrarwirtschaft, der Meerespolitik, des Tourismus muss das Land den Kontakt mit den baltischen Staaten, Polen und den skandinavischen Ländern verstärken. Es kann hier zum Botschafter für ganz Deutschland werden. Die nächste Landesregierung wird auf eine baltische Energie-Kooperation (Offshore-Netze in der Ostsee, nachwachsende Rohstoffe), auf ein europäisches Nord-Bündnis Gentechnik-freier Regionen und ein abgestimmtes Meers-Schutz-und Schiffahrts-Konzept hinarbeiten.
Wenn Schleswig-Holstein in jüngster Vergangenheit für etwas stand, dann für gescheiterte Wahlen, verkürzte Legislaturen, heftige persönliche Feindschaften der politischen Akteure. Wenn Schleswig-Holstein in jüngster Vergangenheit für etwas stand, dann war es meist peinlich! Schleswig-Holstein muss aufwachen aus dem Dornröschenschlaf. Schleswig-Holstein muss die Rolle des Antreibers übernehmen: Wir gehen unter, wenn der Klimawandel kommt; wir laufen in die Insolvenz, wenn der Tilgungsfonds nicht kommt, wir können unsere Kinder nicht gut ausbilden, wenn die Vermögensabgabe nicht kommt. Wir müssen die politische Rolle des Landes neu definieren – und damit werden wir auch das Klein-Klein der Landes-Binnen-Politik überwinden.
4. Bürgerpartei statt Volkspartei
Anknüpfend daran lässt sich ein vermeintlich weicher Anspruch guten Regierens bretthart fassen: Wem es nicht gelingt, die notwendigen Veränderungen so zu erklären, dass sie zu politisch von der Mehrheit gewollten Veränderungen werden, der wird scheitern.
Die Unzufriedenheit der Menschen entstammt dem feinen Gefühl für den mangelnden Entscheidungsspielraum von Politik, der sich am härtesten in dem Unwort von der „Alternativlosigkeit“ artikuliert. Wenn Schleswig-Holsteins Lage etwas zeigt, dann das Politik verdammt ist, Alternativen zu schaffen.
Insofern geht es, quasi als politische Rahmenbedingung, im nächsten Jahrzehnt wesentlich darum, Teilhabe am Staat neu zu begreifen. Das zielt auf ein anderes Bürger-Verständnis, als das, das konservative Kampfbegriffe wie „neue Bürgerlichkeit“ oder „bürgerliches Lager“ meint. Letztere zielen auf den Rückzug ins Private, Verzicht auf Teilhabe am Staatlichen, Kultivierung von Stilen und Manierismen und verkürzen Bürgertum auf Besitzstandswahrung . Der Mehrung des privaten Reichtums wird das größere Interesse, der Gedanke eines funktionierenden Gemeinwesens, untergeordnet. Das klingt nicht nur zufällig nach der FDP. Bürgertum, so verstanden, nimmt den Staat als Kapitalgesellschaft, Deutschland als AG – wie es im Zitatschatz von CDU und FDP verräterischerweise heißt. Aber dieses Bürgertum, die Bourgeoisie, ist nicht deckungsgleich mit der Tradition eines emanzipatorischen Bürgertums. Dies existierte stets neben ihm in der Figur des Citoyen. Die Abstinenz des Politischen ist ihm fremd. Sein Selbstverständnis fordert Mitwirken an den Geschicken des Allgemeinwohls. Als Anspruch der Bürger auf geteilte Staatlichkeit, als Souveränitätserklärung mündiger Individuen, die den erwirtschafteten Reichtum der Gesellschaft zugänglich machen wollten, als Freiheit für die eigene Meinung, als Gleichheit vor dem Gesetz, und als Brüderlichkeit als Teilen des kulturellen und materiellen Erbes ist Bürgertum nur ein anderes Wort für Veränderungswille. Nur war diese andere Art des Bürgertums in Deutschland nie mehrheitsfähig. Mit neuem grünen Selbstbewusstsein können wir sagen: Volkspartei war gestern! Wir wollen Bürgerpartei werden, im besten Sinn des Wortes.
(Editorischer Hinweis: Im Original sind die Ziffern 1 bis 8, die sich im dritten Abschnitt befinden, römische Ziffern)
Herzlichen Glückwunsch zu diesem beherzten Fraktionsvorsitzenden! Dazu hätte ich jetzt gerne noch ein Video, das die Bürgerinnen-Partei knackig rüberbringt.
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