Auf dem Berliner Gendarmenmarkt steht der Französische Dom; ein Turm mit einer Kuppel oben drauf, der nie eine religiöse Bedeutung hatte. Seine innere Funktionslosigkeit teilt er mit dem benachbarten, ebenfalls weltlichen Deutschen Dom. Sie entfalten nach außen hin Pracht und sollen städtebaulich wirken. Das tun sie auch. Der Französische Dom ist aber auch Ausdruck einer politischen Entscheidung der brandenburgischen Kurfürsten und preußischen Könige des 17. und 18. Jahrhunderts: Der Ansiedlung von Menschen, besonders von Fachkräften, aus dem Ausland. Aus Böhmen, Österreich, der Schweiz und den Niederlanden, besonders aber aus Frankreich, strömten sie in das dünn besiedelte Brandenburg-Preußen.
Das Edikt von Potsdam von 1685 gewährte ihnen freie Religionsausübung, Steuerbefreiung, Starthilfen für Unternehmer. Denn aus dem bevölkerungsarmen, von Hunger geplagten, wirtschaftlich schwachen, ungebildeten und reichlich kulturlosen Land sollte ein Staat werden, der sich neben England, Frankreich, Österreich und Russland behaupten konnte. Die Strategie ging auf: Zeitweise bildeten die Hugenotten ein Drittel der Bevölkerung Berlins. Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur prosperierten. Um den weiteren Ansprüchen der wachsenden Bevölkerung folgen zu können, wurde der Anbau der Kartoffel befohlen, Sümpfe trockengelegt oder ganze Flüsse umgeleitet.
Schleswig-Holstein schrumpft
Kann es sein, dass wir uns in Schleswig-Holstein demnächst ähnliche Gedanken machen müssen? Das Innenministerium hat Mitte März die „Aktualisierte Bevölkerungsvorausberechnung 2010 bis 2025 für die Kreise und kreisfreien Städte in Schleswig-Holstein” veröffentlicht. Die Zahlen und Diagramme hat das Ministerium hier recht detailliert zur Verfügung gestellt. Auch das Statistische Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein hält Daten parat, leider nur im PDF-Format, nicht als Tabellenblatt.
Schaut man sich die Zukunft an, dann nimmt die Einwohnerzahl Schleswig-Holstein ab. Betrachtet man einen Zeitraum vom 90 Jahren (1970 bis 2060), dann erscheint die Rückgang nicht sonderlich dramatisch:
Das Verschwinden der Jugend
Das eigentliche Drama offenbart sich, wenn man sich die Zusammensetzung der Bevölkerung nach ihrem Alter anschaut: Es werden weniger junge Menschen in Schleswig-Holstein leben, die Anzahl der Älteren steigt. Der Verlauf ist allerdings nicht überall in Schleswig-Holstein gleich: In Flensburg und Kiel steigt die Zahl der unter 20-Jährigen. In Lübeck und im Hamburger Rand sinkt sie leicht. Im Rest des Landes sind teilweise dramatische Einbrüche zu verzeichnen: Das Schlusslicht Steinburg muss mit einem Rückgang von 30,2 Prozent der unter 20-Jährigen rechnen. Dort könnte jede dritte Schule vor dem Aus stehen, Schulwege verlängerten sich entsprechend, Betriebe fänden vor Ort kaum noch Auszubildenden.
Nun sind solche Erkenntnisse nicht neu. In der 2004 veröffentlichten, von der Landesregierung in Auftrag gegebenen, Studie „Zukunftsfähiges Schleswig-Holstein — Konsequenzen des demographischen Wandels” findet man entsprechendes Zahlenmaterial für die Zeitraum 1999 bis 2015. Auch hier ist die Tendenz klar: Rückläufige Bevölkerung, weniger junge Menschen, mehr ältere Mitbürger. Die Zahlen weichen allerdings in ihrer räumlichen Verteilung erheblich voneinander ab. Hier eine Gegenüberstellung der aktuellen Vorhersage mit der aus der Studie:
Die Abkehr von der Vorstellung, dass besonders in den größeren Städten mit einem erheblichen Absinken der Bevölkerung (und damit auch der Anzahl der Jugendlichen) zu rechnen sei, wurde schon in der Studie von 2004 erkannt (S. 56): Zum Zeitpunkt der Studie war für die Autoren erkennbar, dass der für die Jahre 1999 bis 2003 prognostizierte Bevölkerungsrückgang in den großen Städten nicht eintrat. Im Gegenteil stieg die Wohnbevölkerung in Kiel, Lübeck und Flensburg. Ausschlaggebend waren, so die Studie, geringere Wanderungsverluste gegenüber dem Umland und steigenden Wanderungsgewinne aus anderen Teilen Deutschlands sowie aus dem Ausland. Gleichwohl ignorierte man dies und sagte nur zwei Seiten später (S. 58) deutliche Bevölkerungsrückgänge in den Kreisfreien Städten Schleswig-Holsteins voraus, da „die Bevölkerungszahlen stärker sinken und die Rückgänge früher einsetzen, denn für die kreisfreien Städte spielen neben der bereits heute überdurchschnittlich alten Bevölkerungsstruktur die Stadt-Umland Wanderungen eine besondere Rolle.”
Es scheint, dass sich jedenfalls aktuell eine andere Auffassung ihren Weg bahnt. Um Planungssicherheit für die großen ortsgebundenen staatlichen Investitionen und Infrastruktur (Straßen, Schienen, Strom- und Kommunikationsnetze, Schulen …) zu haben, wäre es sicherlich förderlich, wenn man sich einigen könnte, was richtig ist. Stimmt die neue Bevölkerungsvorausberechnung, muss man die Studie von 2004 zwar nicht in die Tonne treten, kommt aber nicht umhin, bei der regionalen Schwerpunktsetzung nachzubessern.
Land der alten Horizonte
Für die Entwicklung einer Bevölkerung sind drei demographische Faktoren maßgeblich: Die Geburtenrate, die Lebenserwartung und die Zuwanderung. Schleswig-Holstein hatte in der Vergangenheit im Vergleich zu anderen Bundesländern stets positive Zuwanderungsbilanzen, die im Wesentlichen aus Aus- und Übersiedlern entstanden sind, später durch Zuzug aus Mecklenburg-Vorpommern. Sie konnten etwaige Verluste durch ein Geburtendefizit mehr als ausgleichen. In der Studie aus dem Jahre 2004 prognostizieren die Autoren, dass es damit ein Ende haben werde:
Zukünftig werden Wanderungsgewinne die wachsende Differenz zwischen Gestorbenen und Lebendgeborenen in Schleswig-Holstein nicht mehr ausgleichen. Auch höhere als die in der Modellrechnung angenommenen Wanderungsgewinne werden die Entwicklung nur abschwächen aber nicht stoppen können. Trotz der Wanderungsgewinne und einer steigenden Lebenserwartung werden also mittelfristig weniger Menschen in Schleswig-Holstein leben.
Das muss wohl ergänzt werden um die Aussage, dass die „weniger Menschen“ anders zusammengesetzt sein werden. Die Gruppen der Jugendlichen — aber auch die der Erwachsenen, der Erwerbstätigen — sinkt, die Gruppe der Senioren steigt jedoch signifikant:
35 Prozent aller Einwohnerinnen und Einwohner unseres Bundeslandes wird 60 Jahre und älter sein.
Politische Handlungsfelder
Die Studie „Zukunftsfähiges Schleswig-Holstein — Konsequenzen des demographischen Wandels” sieht 13 Handlungsfelder
- Ausschöpfung des Erwerbspersonenpotenzials
- Qualitätsverbesserung des Humankapitals
- Erhöhung des Kapitaleinsatzes
- Branchenspezifische Anpassung an die veränderte Nachfragestruktur
- Ausweitung eines bedarfsgerechten Bildungsangebots
- Steigerung von Kooperation und Vernetzung der Bildungseinrichtungen
- Erhöhung der Anzahl von Qualifizierungs- und Weiterbildungsteilnehmenden
- Effizienzsteigerung und Kooperation bei privaten und öffentlichen Infrastruktur- und Dienstleistungsangeboten
- Anpassung der Infrastruktur an die Nachfrageveränderung insbesondere in den Bereichen Gesundheit, Wohnen und Verkehr
- Regionalspezifische Nutzung von Chancen und Minderung von Risiken des demographischen Wandels
- Erhöhung der Familienfreundlichkeit
- Stärkung des Zusammenlebens der Generationen
- Verbesserte Integration von Migrantinnen und Migranten
Ich glaube, da fehlt ein wesentlicher Aspekt. Denn wenn es wahr ist, dass wir keine Wanderungsgewinne mehr erzielen können; und wenn wir bedenken, dass der Hamburger Rand kein naturgebener Wachstumsbereich ist — sondern in Konkurrenz zum nördlichen Niedersachsen steht: Dann kann es nicht ausreichen, Migrantinnen und Migranten zu integrieren, sondern dann sollten wir überlegen, wie wir Migrantinnen und Migranten dazu bewegen, nach Schleswig-Holstein zu kommen. Ein modernes Variante des Satzes, den Friedrich II. 1740 sagte: „„Alle Religionen seindt gleich und guht, wan nuhr die Leute, so sie profesieren, erliche Leute seindt, und wen Türken und Heiden kähmen und wolten das Land pöbplieren, so wollen wier sie Mosqueen und Kirchen bauen“ (Alle Religionen sind gleich und gut, wenn nur die Leute, die sie ausüben, ehrliche Leute sind. Und wenn Türken und Heiden kämen und das Land bevölkerten, so baute ich ihnen Moscheen und Kirchen).
Und wer weiß schon, ob es dann ein Französischer Dom in Itzehoe oder eine al-Aqsa-Moschee (das bedeutet soviel wie ‚die ferne Kultstätte‘) in Plön werden wird.
Ist es nicht lange schon ein allgemeiner Trend, dass junge Leute das Land verlassen und in die (gerne größeren) Städte ziehen? Und die Alten auf dem Land zurück bleiben?
Je mehr LAND ein Bundesland hat, desto mehr wird es diese Entwicklung spüren.
Ich glaube nicht, dass man viel dagegen tun kann. Das Land wird zunehmend Touristengebiet, Altenheim, Naturpark und natürlich weiterhin Zone langwirtschaftlicher Nutzung.
Ja, das ist ein schon seit längeren erkennbarer Trend. Ich bin nur nicht so sicher, dass wir seine Auswirkung wirklich durchdenken.
In Städten ist die Geburtenrate niedriger als auf dem Land. Das ist nicht nur hier so sondern auch in Schwellenländern.
Das Problem der schrumpfenden „werktätigen” Bevölkerung wird so noch verstärkt. Das hat Auswirkungen auf alle Systeme, nicht nur auf die Versicherungssysteme der Solidargemeinschaft.
Selbst Altenheime werden auf die Dauer keine Zukunft auf dem Land haben, wenn dort niemand mehr ist, der dort „draußen” (angesichts der Löhne und der Arbeitszeiten verbietet sich das Pendeln) arbeiten will.
Klar, man kann sich hinstellen und sagen: Verödung kennen wir als Folge von Ereignissen wie dem dreißigjährigen Krieg, der Pest-Epidimien und der Wiedervereinigung. Das ist normal und hinzunehmen. Nur muss man sich dann auch explizit dazu bekennen. Kleiner Flächenländer wie SH (nicht viel anders Brandenburg oder McPom) müssen dann in eine geregelte Schließung der politischen Systeme eintreten. Denn selbst die Infrastruktur (Straßen, Schiene …) kann man ohne Einnahmen nicht mehr gestalten oder erhalten. Selbst touristische Gebiete schaffen das schon heute nicht mehr: Sanierung zu teuer: Fehmarn will 54 Kilometer Straße sperren.