Kunst. Kultur. Gesellschaft. Im Diskurs mit Bernhard Schwichtenberg

Von | 30. September 2019

Bernhard Schwichtenberg bei "Yes, I have an answer" von Roswitha Steinkopf. Ihrer 2001 in Kiel gestarteten interaktiven Performance schliessen sich weltweit immer mehr Menschen an: www.roswitha-steinkopf.de.

Impulsgeber zu die­sem Beitrag war ein Essay von Jochen Gerz über die Rolle des Künstlers in der Gesellschaft. Den hat­te Gerz anläss­lich sei­ner im September 2018 eröff­ne­ten Duisburger Ausstellung mit dem Titel „The Walk – Keine Retrospektive“ ver­fasst. Eine Kopie die­ses Textes ging zusam­men mit Fragen an Bernhard Schwichtenberg. Der in Kiel leben­de Bildende Künstler ist rund ein hal­bes Jahr älter als Gerz. Beide wur­den in Berlin gebo­ren, im Krieg eva­ku­iert und wuch­sen im Rheinland auf. Wie Gerz nahm Schwichtenberg eine Professur an. Um zu ergrün­den, ob die Übereinstimmung wei­ter reicht, tra­fen wir uns zu Gesprächen. Der nach­fol­gen­de Text ent­stand auf Basis eines ein­stün­di­gen Audiomitschnitts.

Beginnen wir mit der Begriffsbestimmung. Was ist Kunst, Bernhard Schwichtenberg? In Schleswig-Holstein poli­tisch zustän­dig ist ein Ministerium, das Bildung, Wissenschaft und Kultur im Titel trägt. Wäre nicht Kunst statt Kultur der kor­rek­te Begriff? Und „kul­tu­rel­le Bildung“ in der Form wie Politik sie för­dert, durch ästhe­ti­sche Bildung zu erset­zen?

Bernhard Schwichtenberg: In poli­ti­schen Reden und Parteiprogrammen heißt es: Wir wol­len die Kunst und die Kultur för­dern! Kunst und Kultur, so in einem Atemzug, das zeigt, dass kei­ner begrif­fen hat, dass die Kunst zur Kultur gehört. Kultur ist der Oberbegriff, ist das Dach. Damit ist alles gemeint, was die Menschheit her­vor­ge­bracht hat. Also Wissenschaft, die Künste wie Literatur, Musik, die Darstellenden Künste, aber auch alles ande­re – vom Alphabet bis zur Sprache, von der Ampel bis zum Auto, vom Besteck bis zu den Tischmanieren. Alles Dinge, die der Mensch sich hat ein­fal­len las­sen in den ver­gan­ge­nen Jahrhunderten.

Der legen­dä­re Kieler Oberbürgermeister Andreas Gayk schuf nach dem Krieg einen Kultursenat. Der war besetzt mit Professorinnen und Professoren ver­schie­de­ner Disziplinen der Christian-Albrechts-Universität. Sie kamen im Dutzend zusam­men, um den Oberbürgermeister bei den vie­len Dingen zu bera­ten, die nach dem Krieg zu bewäl­ti­gen waren. Überdies soll­ten sie ihm und der Ratsversammlung ein­mal im Jahr Persönlichkeiten für den Kulturpreis vor­schla­gen. Der ers­te, der den Kulturpreis der Landeshauptstadt Kiel bekam, war Emil Nolde – 1952. Rund vier­zig Jahre dar­auf benann­te Norbert Gansel als Oberbürgermeister die Runde in Kultur- und Wissenschaftssenat um. Fortan gab es zwei Preise, einen für Kultur und einen für Wissenschaft. Wenn man die Wissenschaften als einen wesent­li­chen, gro­ßen Bestandteil unse­rer Kultur ansieht, wie über­all in Deutschland und dar­über hin­aus, dann ist es schon ulkig, dass Kiel hier dif­fe­ren­ziert. Der mit dem Kulturpreis, das ist die Spitzenkraft, die bekommt das Höchste, was Kiel zu ver­ge­ben hat. Darunter ran­giert der Preis für Wissenschaftler? Das ist nicht ein­zu­se­hen. Außerdem ist das dop­pelt gemop­pelt.

In Adaption eines Anglizismus ent­stand in Deutschland der Begriff Kultur- und Kreativwirtschaft. Dahinter steckt die Idee, das krea­ti­ve Potential von Künstlerinnen und Künstlern für die Wirtschaft aus­zu­schöp­fen. Dagegen ent­wirft Jochen Gerz die Vorstellung einer „Öffentlichen Autorschaft“. Er will Kreativität nicht auf einen exklu­si­ven Kreis von Menschen beschrän­ken son­dern for­dert mehr Partizipation an gesell­schaft­li­chen Prozessen.

Bernhard Schwichtenberg: Dazu habe ich ein klei­nes Stückchen von Jean Monnet mit­ge­bracht, von einem Wirtschaftswissenschaftler Frankreichs. Er leb­te von 1888 bis 1979, ist also sehr alt gewor­den. Im Jahr 1955 grün­de­te er das Aktionskomitee für die Vereinigten Staaten von Europa und betrieb die Europäische Integration. 1975 ging die Kommission über in den Europäischen Rat. Der frü­he­re Kulturstaatsminister Jack Lang zitiert Monnet wie folgt: „Wenn ich es noch ein­mal zu tun hät­te, wür­de ich mit der Kultur begin­nen“. Das Witzige an der Geschichte ist, dass im Französischen das Wort Kultur gar nicht exis­tiert. Wenn sie es über­set­zen, tun sie es mit „civi­li­sa­ti­on“. Schlägt man im Wörterbuch unter „cul­tu­re“ nach, erfährt man, dass es sich dabei um etwas Gärtnerisches han­delt wie die Züchtung und den Anbau von Pflanzen und so wei­ter.

Es ist eine schwie­ri­ge Aufgabe zusam­men zu tra­gen, was wir unter Kulturwirtschaft in Deutschland ver­ste­hen. Den meis­ten fal­len dann so Begriffe ein wie Kulturbeutel oder alles rund um Mode. Dieser gesam­te Komplex Kulturwirtschaft erwirt­schaf­tet in der Bundesrepublik Deutschland übri­gens erheb­lich mehr pro Jahr als alle ande­ren gro­ßen Industriezweige. Also zum Beispiel die Autoindustrie oder die che­mi­sche Industrie, die sonst an vor­ders­ter Stelle lie­gen. Mir gefällt das Zitat von der Webseite der Unesco, das Jochen Gerz in sei­nem Essay bringt. Anders als ich benutzt er den Begriff Kreativwirtschaft: „Die Kreativwirtschaft ein­schließ­lich audio­vi­su­el­ler Produkte, Design, neu­er Medien, dar­stel­len­der Künste, Verlagswesen und bil­den­der Künste ist einer der am schnells­ten wach­sen­den Sektoren der glo­ba­len Wirtschaft. Kreativität und Kultur haben dar­über hin­aus einen nicht mone­tä­ren Wert, der zu sozia­lem Fortschritt, Dialog und Einigkeit zwi­schen den Völkern bei­trägt.“

Kreativität ist bei Gerz eine Methode, die zur Sozialisierung bei­trägt. Der Begriff kommt aus dem Lateinischen: crea­re, der Creator ist der Schöpfer. Die krea­ti­ven Leute sind die­je­ni­gen, die Ideen, Einfälle haben. Und man könn­te auch die Fabulierkunst dar­un­ter sub­su­mie­ren oder man könn­te sagen, das sind Leute, die schöp­fe­ri­sches Empfinden haben oder Erfindungsfähigkeit besit­zen. In allen Bereichen unse­rer Gesellschaft brau­chen wir Menschen mit krea­ti­ven Einfällen. Das kann jemand sein, der pro­gram­mie­ren muss, der bestimm­te Problemlösungen über Programmiersprachen für den Computer ent­wi­ckeln muss. Das kann in der Küche statt­fin­den, im Ingenieurbüro, im Wasserwerk oder auf der Rennbahn oder wo immer. In allen Branchen wer­den die inter­es­san­tes­ten und ein­falls­rei­chen Leute gebraucht. Also davon soll­ten wir uns ver­ab­schie­den, Kreativität auf irgend­wel­che Bereiche der Gesellschaft zu kon­zen­trie­ren. Es braucht Freiräume, man muss die Menschen von der Leine las­sen. Dann kom­men die bes­ten Sachen dabei her­aus.

Damit sind wir beim zwei­ten gro­ßen Komplex unse­res Gesprächs ange­langt, zu der Frage: Welche Funktion hat Kunst für die Gesellschaft?

Bernhard Schwichtenberg: Auf einem von Klaus Staeck ent­wor­fe­nen Plakat steht: „Die Kunst ist frei“. Er brach­te das Wort Kunst unter einer Glocke auf einem Käsebrett an. Damit deu­tet er an, dass die Kunst erheb­li­chen Zwängen unter­liegt. Und hat dabei die Bildende Kunst im Blick. Alles ande­re wür­de ja gar nicht so leicht unter eine Käseglocke pas­sen. Oft wird unter „Kunst“ nur die Bildende Kunst ver­stan­den. Es sind aber viel­mehr „die Künste“ gemeint, also alle hoch­künst­le­ri­schen Bereiche wie Literatur, Musik und so wei­ter.

Antworten möch­te ich noch mit einer wei­te­ren Postkarte. Darauf steht ein Zitat von Claes Oldenburg: „Ich bin für eine Kunst, die etwas ande­res tut, als in einem Museum auf ihrem Arsch zu sit­zen.“ Das gefällt uns ganz gut. Wir müs­sen uns in Bewegung set­zen, uns in den öffent­li­chen Raum bege­ben. Künstlerinnen und Künstler aller Bereiche sind die Problemlöser unse­rer Gesellschaft. Durch ihre Studien sind sie gewohnt, fach­rich­tungs­über­grei­fend zu arbei­ten. Wenn sie ein Team brau­chen, um ein bestimm­tes Problem anzu­ge­hen, brin­gen sie die rich­ti­gen Leute zusam­men. Das sind Menschen, die die Ohren und Augen auf­sper­ren, sobald sie in der Gesellschaft Dinge sehen, die falsch lau­fen. Das geht denen rich­tig unter die Haut. Und ich ken­ne vie­le sol­cher Leute, die dar­an ver­zwei­feln, wie dies poli­tisch tape­ziert wird, über­tüncht wird, wir belo­gen wer­den und so wei­ter, bloß weil bestimm­te Interessen dahin­ter ste­hen. Bestes Beispiel ist der Abgasbetrug bei Dieselmotoren. Wie kann man bei einem Verbrechen sol­chen Ausmaßes ver­harm­lo­send von Schummel reden?! Und die Verantwortlichen müs­sen erst durch Gerichte gezwun­gen wer­den, sich um den Schaden zu küm­mern! Kunst muss sich ein­mi­schen. Das ist eine Verabredung, die alle Kreativen schon lan­ge getrof­fen haben, ein­mi­schen in die Gesellschaft, müs­sen sich ver­bün­den, und müs­sen aktiv etwas tun.

Als wei­te­res Stichwort zu die­sem Komplex notier­te ich mir: Kommunikation. Die Bildende Kunst ist immer auch auf den Austausch von Botschaften, auf das Hin und Zurück ange­legt. Das ist die berühm­te Beziehung zwi­schen Sender und Empfänger, die man auf­bau­en muss. Beide müs­sen die­sel­be Sprache spre­chen, die­sel­be Bildsprache, die­sel­be Sprache zum Hören, denn das Ziel bei sämt­li­chen krea­ti­ven Bereichen ist immer die Verständigung.

Multimediale Informationen ver­meh­ren sich heu­te unglaub­lich schnell und in alle Richtungen. Für die Verständigung wer­den audio­vi­su­el­le Medien benö­tigt, deren Codes – ich habe das ja eben bereits ange­deu­tet – bei­de Seiten ler­nen müs­sen. Wir wis­sen, dass der Mensch mehr als 80 % sei­ner Informationen über den Gesichtssinn, also über die Augen auf­nimmt. Dazu kommt das Hören mit noch ein­mal 11 %. Zusammen sind wir bei weit über 90 %. Alle ande­ren Sinnesbereiche tei­len sich den Rest. Eine Reaktion auf die­sen audio­vi­su­el­len Overkill ist das wie­der erwach­te Interesse am Kochen. Warum sen­det das Fernsehen so vie­le Kochshows? Das hängt damit zusam­men, dass sich beim Kochen die Sinnesorgane tüch­tig aus­to­ben kön­nen, sogar wenig orga­ni­sier­te Felder im Gehirn. Das sind so Wiederbelebungsversuche völ­lig unge­üb­ter Fähigkeiten. Sonst ver­blö­den die Menschen.

Die letz­te unse­rer drei gro­ßen Fragen, die wir uns vor­ge­nom­men haben, lau­tet: Welche Eigenschaften braucht es, um die skiz­zier­ten Probleme der Gesellschaft nach­hal­tig zu lösen?

Bernhard Schwichtenberg: Auf bei­den Seiten, beim Sender wie beim Empfänger, brau­chen wir Menschen mit Charakter. Und nach Möglichkeit wel­che mit Humor. Und Empathie, die­ser Begriff ist ja wie­der im Kommen. Er bezeich­net die Fähigkeit, mit den Gehirnwindungen mei­nes Gegenübers den­ken zu kön­nen, mich in die Lage des Anderen hin­ein­zu­ver­set­zen. Wenn ich für den etwas ent­wer­fen soll, ist es ja ganz gut, wenn ich mich in sei­ne Lage hin­ein­ver­set­ze, über­le­ge, ob das funk­tio­niert, ob das ankommt. Und dann habe ich noch notiert, es müs­sen Menschen sein mit einer aus­ge­prägt krea­ti­ven Seele. Und wir brau­chen eine ästhe­ti­sche Bildung von klein auf mit viel Spielraum und mit sen­si­bler Pädagogik. Sonst wird das nie was.

Der Homo ludens, der ist gefragt. Ludere ist Lateinisch, meint das Spielen, und Homo, den Menschen. Sich mit Spieltheorie zu beschäf­ti­gen ist das Wichtigste über­haupt. Dann weiß man, was das Spiel für ein Gewicht hat, in der Erziehung, in der Pädagogik. Wir brau­chen in allen Feldern der Gesellschaft Ideen. Deutschland gibt über­all damit an, ein Land der Ideen zu sein. Denn wir sind nicht mehr so auf Maloche ange­legt, auf kör­per­li­che schwe­re Arbeit. Wir arbei­ten mit Patenten und ver­kau­fen die welt­weit und sind damit bis­her ganz gut gefah­ren.

Aufgabe der Schulen und der Ausbildungsstätten ist es, die krea­ti­ven Fähigkeiten kom­men­der Generationen nach Kräften zu för­dern und nicht zu deckeln. Selbst die Kleinsten brau­chen den Freiraum der Bewegung statt einer Industrie voll Spielzeugen, die ihnen alles vor­kau­en. Stellen Sie sich vor, Adam Riese hät­te eine Ausstellung gemacht: Wir zie­hen rech­nend von Bild zu Bild: 2+2=4. Das wuss­te ich vor­her schon. Oder hier muss ich 3x3=9 sel­ber aus­rech­nen. In zehn Minuten bin ich durch das gesam­te Haus durch, habe über­all Antworten gege­ben, aber kein Vergnügen dar­an gehabt, weil mei­ne Fantasie nicht gefragt war. Die Aufgabe von Kunstschaffenden ist doch gera­de, die Fantasie der Empfänger unse­rer Botschaften zu ent­wi­ckeln, bzw. zu beschäf­ti­gen. Künstler stel­len sich des­halb gern bei Vernissagen zu ihren Werken, um zu hören, was die Leute so schwat­zen über die Arbeit, was sie emp­fin­den. Dabei kriegt man Deutungen, an die man sel­ber nie gedacht hat. Und so muss es doch sein, dass wir in Betrieb, auf Touren kom­men. Oft ist die Kreativität lei­der ver­schüt­tet durch fal­sche Aufgabenstellung, durch Reglementierungen, aber auch, weil es vie­len Pädagogen nicht gelingt, ein paar Richtungen anzu­ge­ben, ansons­ten aber die Spielwiese offen zu hal­ten.

Ästhetische Bildung von der Krippe kon­ti­nu­ier­lich und sys­te­ma­tisch ange­bo­ten bis zum Schulabschluss – davon ist Schleswig-Holstein weit ent­fernt. Durchgesetzt hat sich dage­gen eine Event- und Häppchenkultur. Kurze Injektionen mit Kunst in Form eines Wochenprojektes.

Bernhard Schwichtenberg: Das ist ein glän­zen­der Hinweis. Ich fin­de noch eine ande­re Einzäunung befremd­lich: Wenn Eltern und Pädagogen den Kindern Grenzen zie­hen. Bleib doch dabei. Mach das noch mal. Oder ver­bes­ser dies und das. Und dann sitzt man dran, obwohl die Arbeit schon fer­tig war. Für sol­che Zwecke habe ich eine Karte von Nam June Paik in der Tasche. Der Koreaner lehr­te an der Akademie Düsseldorf. Da steht drauf: „When too per­fect, lie­be Gott böse“. Und das fin­de ich ganz gut, das heißt näm­lich, die Perfektion macht jede Kreativität kaputt. Zumindest besteht die Gefahr dabei.

Wir ver­ab­re­de­ten, exem­pla­risch eini­ge Projekte zu nen­nen, die die­se Forderung erfüllt haben, damit der Charakter sol­cher Arbeiten deut­lich wird.

Bernhard Schwichtenberg: Zwischen 1975 bis 1985 habe ich jähr­lich zur Kieler Woche mit Studenten der Kieler Muthesius Hochschule Workshops für Kinder, Jugendliche und Familien ange­bo­ten. Dabei bau­ten wir unter ande­rem Windräder. Das war für alle Seiten ein Gewinn. Und 2017 habe ich rund ein hal­bes Jahr an sechs Schulen in Schleswig-Holstein mit inte­gra­ti­ven Klassen gear­bei­tet. Dreidimensionale Aufgaben beka­men die von mir gestellt, so Pop-Up-Arbeiten. Am Ende stell­ten wir gemein­sam aus. In die­se Reihe gehört auch ein Projekt, das inzwi­schen 45 Jahre läuft. Seit 1974 fer­ti­ge ich weih­nacht­li­che Drahtobjekte an, hand­tel­ler­groß, also klein­tei­li­ge Dinge in einer Auflage von zehn Stück. Im November fra­ge ich her­um, was war das wich­tigs­te Thema bis­her die­ses Jahr. Kriege, Waffenexporte, Hunger, Konsum, Deutsche Einheit – alle die­se Fragen tau­chen da auf. Immer wie­der ist Flucht dabei. Dieses Thema ver­bin­de ich mit der bibli­schen Weihnachtsgeschichte. Das ist mein Job. Diese Aufgabe habe ich mir sel­ber gestellt. Und ich habe bis­her noch kei­ne Mühe gehabt, zehn Leute für die zehn Objekte zu fin­den. Mindestgebot ist immer 150 Euro. Manche Käufer zah­len das Doppelte dafür. Den Erlös spen­de ich.

Und Arbeiten ande­rer Künstler…?

Herausragend ist auch das Projekt von Gunter Demnig, der seit 1992 durch Europa läuft und jun­ge Leute begeis­tert, sich zu beschäf­ti­gen mit den Häusern, in denen Juden gewohnt haben, bevor sie von Nazis depor­tiert und ermor­det wor­den sind. Seine Messingplättchen mit den Lebensdaten die­ser Menschen fin­den wir in 23 Ländern Europas. Insgesamt sieb­zig­tau­send Stolpersteine waren es letz­ten Herbst. Also, das ist ein ganz gewal­ti­ges Projekt. Das Besondere dabei ist, dass es ihm gelang, jun­ge Leute dafür zu begeis­tern, Informationen zu besor­gen. Im Grunde haben sie die Ermordeten wie­der leben­dig wer­den las­sen, nicht nur durch die Messingsteine, son­dern vor allem durch das Gespräch im Zusammenhang mit Nachbarn und ande­ren.

Dann habe ich Joseph Beuys hier noch notiert mit sei­nem Projekt „7.000 Eichen“. Das wer­den vie­le ken­nen. „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ nann­te er das. Damit fing er 1982 an zur docu­men­ta 7. Vor dem Museum Fridericianum türm­te er tau­sen­de von Basaltsteinen auf. Für jeden soll­te eine Eiche gepflanzt wer­den. Die ers­te setz­te er selbst. Dann reg­te er ande­re an, eben­falls Bäume zu stif­ten für Kassel, damit die Steine vom Platz kämen. Das lief vier Jahre lang bis zum 23. Januar 1986. Seine Witwe setz­te den letz­ten Baum. Damit war das Projekt abge­schlos­sen. Das ist ein sehr reiz­voll erwei­ter­ter Kunstbegriff, den Beuys hier ver­wen­det hat. Im Originalton:„Als ich an ein plas­ti­sches Gestalten dach­te, das nicht nur phy­si­sches Material ergreift son­dern auch see­li­sches Material ergrei­fen kann, wur­de ich zur Idee der sozia­len Plastik regel­recht getrie­ben.“ Das Zitat von Beuys passt ganz gut hier rein.

Von Jochen Gerz habe ich mir her­aus­ge­pickt das „Mahnmal gegen Rassismus“. Mit Studenten der damals noch sehr jun­gen Kunsthochschule Saarbrücken sam­mel­te er Pflastersteine. Jeder stand für einen der jüdi­schen Friedhöfe, die es vor den Nazis in Deutschland gege­ben hat. Am Ende waren das 2.146. In allen Großstädten, in klei­ne­ren Städten, in Orten, über­all gab es klei­ne jüdi­sche Friedhöfe. Sie gra­vier­ten die Steine und tausch­ten sie nachts auf dem Schlossplatz gegen Pflastersteine aus, jeweils mit der Schriftseite nach unten. Nach drei Jahren war die Aktion abge­schlos­sen. Daraufhin beschloss der Landtag die­sen Platz umzu­be­nen­nen. Er heißt jetzt: „Platz des unsicht­ba­ren Mahnmals“. Darum kann man Saarbrücken nur benei­den.

Weitere Arbeiten von Jochen Gerz sowie sein oben erwähn­ter Essay, der unse­rem Diskurs als Ausgangspunkt dien­te, befin­den sich auf sei­ner Webseite. Bernhard Schwichtenbergs Antworten wur­den im März 2019 auf­ge­zeich­net. Sie wur­den für die­sen Beitrag sehr stark gekürzt und leicht über­ar­bei­tet. Die hier ver­öf­fent­lich­te Fassung wur­de von ihm Ende Juli 2019 frei­ge­ge­ben. Es ist geplant, den gesam­ten O-Ton im Herbst als ers­te Folge eines Podcasts über Kunst und Politik zu ver­öf­fent­li­chen.

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das; Abk. f. Panorama (griech.). Unter diesem Namen postet Daniela Mett vermischte Nachrichten aus der bewohnten Welt des Nordens. Die ausgebildete Magazinjournalistin berichtet frei und unabhängig. Sie hat sich in 30 Berufsjahren spezialisiert auf Reportagen und Interviews - www.panama-sh.com.

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