Attraktive Arbeitsumgebung: Rathaus Westerland | Foto: fleno.de, Lizenz: cc-by-sa
Am Ende des Wahltages gewann das betont bodenständig-einheimische Sylter Landei mit Bauamt-Laufbahn gegen die Stoiber-meuchelnde bayrische Prominenz mit schillernder Polit-Karriere. Nikolas Häckel setzte sich in der Stichwahl mit 55% der abgegebenen Stimmen gegen Dr. Gabriele Pauli (45%) durch und wird neuer Bürgermeister der Gemeinde Sylt auf der gleichnamigen nordfriesischen Nordseeinsel. Er folgt zum 1. Mai 2015 Petra Reiber nach, die nach 24-jähriger Amtszeit als Bürgermeisterin der Stadt Westerland und der aus einer Fusion mit weiteren Inselorten entstandenen neuen Gemeinde Sylt nicht erneut zur Wahl angetreten war.
11. Januar 2015, 19.13 Uhr im Sylter Kongresszentrum: Noch rechtzeitig vor Beginn des Schleswig-Holstein-Magazins haben es auch die Wahlvorstände in den letzten von insgesamt neun Wahlbezirken geschafft: Das vorläufige amtliche Endergebnis bestätigt, was sich bereits nach Auszählung des ersten Wahlbezirks abgezeichnet hatte. Überraschend ungefährdet hatte Nikolas Häckel in allen Wahllokalen die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen auf sich vereint und wird als Bürgermeister neuer Verwaltungschef der aus den Ortsteilen Archsum, Keitum, Morsum, Munkmarsch, Rantum, Tinnum und Westerland bestehenden Gemeinde Sylt. 52,5% der Wahlberechtigten hatten im zweiten Wahlgang den Weg an die Wahlurne gefunden und sich schließlich mehrheitlich entschieden, die Polit-Karriere der Gabriele Pauli ein weiteres Mal „ausgezählt”. Die Wählerinnen und Wähler hatten damit den Schlussakt eines Stückes politischen Schauspiels gesetzt, das auf der Urlaubsinsel nicht wenigen Wahlberechtigten wie vielen Bürgern der anderen, eigenständigen Sylter Inselgemeinden Unbehagen bereitet hatte.
Prolog: Amtsmüde Amtsinhaberin zieht Schlussstrich, Wunschnachfolger zieht zurück
Alledem waren die persönlichen Entscheidungen der beiden zentralen Figuren an der Spitze der Gemeinde vorausgegangen: Bereits im Oktober 2012 hatte „Sylts ungekrönte Königin” Petra Reiber erklärt, sich nach einem knappen Vierteljahrhundert kommunaler Verwaltungsregentschaft nicht erneut für die Wahl zu bewerben und der Gemeinde damit dringend benötigten frischen Wind zu ermöglichen. Mit dem nahenden Ende ihrer letzten Amtszeit zeigte sich die 57-jährige schließlich offen amtsmüde und zermürbt vom Alltagsgeschäft, das sie öffentlich als „Knochenjob” bezeichnete und ihr in den vergangenen Jahren gesundheitlichen Verschleiß und persönliche Zugeständnisse, wie die Wochendendbeziehung mit Ihrem in Hamburg lebenden Ehemann abverlangt hatte. Neben der Verwaltungsarbeit habe sich die Gemeinde mit ihren Eigenbetrieben und Beteiligungen zu einem Konzern entwickelt, den man als Gesamtsystem verstehen müsse. Aufgabenfülle, Misserfolge und die immer höhere Schlagzahl zehrten an der Belastbarkeit: „Ich habe keine Nerven mehr dafür!”, gab sie in einem Spiegel-Interview unumwunden zu. Reiber hatte sich dabei nicht alleine am zunehmend schwierigen Verhältnis zur Gemeindevertretung aufgerieben, mit der sie als Verwaltungschefin zwangsläufig zusammenarbeiten muss. Persönliche Angriffe seien immer öfter auch aus der Gemeinde selbst gekommen. Gegenüber der Sylter Rundschau stellte sie im Frühjahr 2014 fest:
„Ich beobachte in den letzten Jahren eine zunehmende Aufregungskultur, die auch die Politik immer stärker beeinflusst. Auf Sylt wird viel geredet und gemailt, worauf man dann schnell zu reagieren gezwungen ist“.
Dabei betonte die parteilose Juristin, wie wenig Gestaltungsmacht sie als Bürgermeisterin gegenüber der Gemeindevertretung als Selbstverwaltungsorgan und politischem Gremium eigentlich habe:
„Man ist eher der Erfüllungsgehilfe der Politik, liefert die Fakten und Sachargumente für deren Entscheidungen. Eine politische Ideologie hilft einem dabei nicht. Außerdem muss man immer damit rechnen, dass einen die eigene Partei fallen lässt. Und um selber Politik zu machen, bleibt gar keine Zeit.”
Die Bilanz fast eines halben Lebens an der Spitze der Verwaltung des Zentrums der Insel fällt zwiespältig aus: Dem anhaltenden Run der Reichen und Schönen, dem weiter haussierenden Immobilienmarkt stehen die vielen sozialen Problemen entgegen, die die Verdrängung der Insulaner auf das Festland mit sich bringt. Die Einwohnerzahlen sinken, junge Menschen und Familien können sich das Inselleben nicht mehr leisten. Schulen schließen, den Vereinen fehlen Mitglieder. Die Gemeindefusion hat die verschiedenen Orte nur wenig einander näher gebracht, eine besondere Sylter Neid- und Missgunstkultur lähmt insbesondere die infrastrukturelle Entwicklung der Insel. Sylt droht so immer stärker den Anschluss sowohl an andere Tourismusdestinationen, als auch an die veränderten Urlaubsgewohnheiten der Menschen zu verlieren. Zuletzt hatte der Bauskandal um die Ruine der Dünen-Therme in Keitum, die politische Auseinandersetzung um die Geburtshilfe auf der Insel, die öffentliche Aufmerksamkeit um die Genehmigung eines Edel-Bordells in Westerland und ein Eklat um verschwundene Millionen der gemeinde-eigenen Wohnungsbaugesellschaft an der Verwaltungschefin genagt.
Ihre Nachfolge schien dabei bereits nahezu geregelt. Der CDU-Gemeindevertreter und 1. stellvertretende Bürgermeister Carsten Kerkamm hatte sich seine Position als Reibers Wunschkandidat und Kronprinz durch gute Arbeit und Kommunikation erworben und genoss das Vertrauen aller Fraktionen — eine breite Unterstützung der Gemeindevertretung galt als sehr wahrscheinlich. Aus den Reihen der ehrenamtlichen Kommunalpolitik hatten sich nur wenige andere mögliche Kandidaten ernsthaft aufgedrängt, den angestammten Beruf gegen eine hauptamtliche Verwaltungsleitungsfunktion zu tauschen. Kerkamm, bereits im Jahr 2002 als Bürgermeister-Kandidat im Gespräch gewesen, zog eine Bewerbung — zumindest öffentlich — in Erwägung, sagte schließlich aber „schweren Herzens” zu Beginn des Jahres 2014 ab: Der Sylter Notar und Fachanwalt für Miet- und Wohnungseigentumsrecht wollte seine Kanzlei mit Schwerpunkt auf der Abwicklung von Immobilienangelegenheiten nicht aufgeben.
Seine Ankündigung erwischte die Gemeindepolitik auf dem falschen Fuß: Schnell zerstreuten sich die Überlegungen, einen anderen gemeinsamen Kandidaten zu finden. Doch die Kandidatenfindungskomissionen der Parteien blieben in den folgenden drei Monaten ohne nennenswerten Erfolg, lediglich Nikolas Häckel und der Gemeindevertreter Lars Schmidt hatten ihren Hut frühzeitig in den Ring geworfen.
Die ursprüngliche Haltung, auf eine bundesweite Stellenausschreibung zu verzichten, wurde im Hauptausschuss der Gemeinde schließlich revidiert. Doch dass sich auch auf diese keine Welle von ambitionierten Bewerbungen adäquat qualifizierter Kandidaten über die Gemeinde ergießen wollte, bis zum Sommer lediglich elf unterschiedlich ernst zu nehmende Bewerbungen eingingen, erschütterte das Sylter Gemeinde-Selbstverständnis zusätzlich: Beherbergt allein die Gemeinde Sylt in der Saison mehrere hunderttausend Menschen, Urlauber wie Zweitwohnungsinhaber und entspricht damit der Bevölkerungsdichte einer deutschen Großstadt, zählen die fusionierten sieben Inselorte tatsächlich nur gut 13.000 Einwohner. Mit allen Problemen der Insellage — Demographie und Arbeitsmarkt, Wohnungsnotstand, Infrastruktur und kommunale Finanzen — kein attraktives Ziel für gestandene, gestaltungsfreudige Menschen mit Verwaltungserfahrung, Finanz- und Führungskompetenz, die der Insel würdig wären.
Erster Akt: Bürger bringen Gabriele Pauli ins Spiel
Doch die Politik hatte die Rechnung ohne den kritisch-engagierten Bürger der Gemeinde gemacht — eine Größe, die Petra Reiber vorherseherisch erkannt hatte, als sie in der Sylter Rundschau erklärte, in ihrem Amt habe sie viel weniger Macht, als die meisten Leute glauben und dazu auf eben jene Bürger verwies:
„Die Politik ist schnell bereit, zurückzurudern, wenn es massive öffentliche Kritik gibt. Und damit muss man auf Sylt mehr als anderswo rechnen, weil die Menschen hier kritischer und selbstbewusster sind und sich nichts gefallen lassen. […] Der Bürger will zwar jemanden, zu dem er aufsehen kann, am liebsten einen Helden oder eine Prinzessin. Aber er ist auch klug genug, zu beurteilen, wer für dieses Amt geeignet ist.“
Denn in das so entstandene Vakuum stieß schließlich eine Initiative mehrerer Bürger, die eine wohl-kalkulierte Dramaturgie nordfriesisch-fränkischen Polit-Theaters in Gang setzen sollte und damit in die Annalen der kommunalpolitischen Sylter Historie eingeht. Dr. Gabriele Pauli aus ihrem politischen Exil heraus als für das Amt geeignet ins Spiel zu bringen, verfehlte seinen Zweck nicht: Schon die vage Äußerung der ehemaligen Fürther Landrätin und bayrischen Landtagsabgeordneten, eine Kandidatur zu prüfen, elektrisierte die Insel, wie die Medien deutschlandweit.
Der provokante Personalvorschlag war dabei weit mehr als nur Name-Dropping. Für einen Teil der Bürgerschaft ein Zeichen der Emanzipation gegenüber der politischen Kaste, brachte die prominenteste Bewerberin auch der Befassung in den Parteien eine neue Dynamik. Schließlich verspricht eine Neubesetzung des Bürgermeister-Amtes für die nächsten sechs Jahre nur anderthalb Jahre nach der Kommunalwahl manchen in der Gemeindevertretung vertretenen politischen Kräften stets die Möglichkeit, die kommunalpolitische Vergenz der Macht in die eigene Richtung zu verschieben.
Doch die offenen Arme auf die die promovierte Politologin dort in den knapp vier Sommermonaten des Auslotens der Erfolgsaussichten einer Kandidatur insgeheim gehofft hatte, fand sie nicht. CDU und SPD winkten zügig ab, Wählergemeinschaft und Grüne verzichteten schließlich ebenfalls auf eine offizielle Unterstützung. Dennoch entschied sich Pauli im September für eine offizielle Bewerbung, sprach von „Herzensentscheidung”. Lediglich die Sylter Piraten um ihren Gemeindevertreter und Landesvorsitzenden Christian Thiessen hatten schließlich die Gunst der Stunde ergriffen und seither keine Gelegenheit ausgelassen, die offiziell als unabhängige Einzelbewerberin angetretene Pauli und ihren erhofften Erfolg öffentlich als piraten-unterstützt zu reklamieren.
Das Kalkül schien zunächst aufzugehen, sprach die erfahrene, verbindlich auftretende Ex-Politikerin doch vor allem diejenigen Bürger an, die sich von einer selbstbewußten Kandidatin von außen neue Impulse für eine politisch festgefahren scheinende Gemeindepolitik ohne wirkliche Lösungsperspektiven für die akute Situation der Insel erhofften. Doch auch obwohl Gabriele Pauli alles tat, die Erwartungen angesichts Ihrer fehlenden Kenntnis über die konkreten Insel-Probleme zu dämpfen, stellte sich bereits nach der ersten Podiumsdiskussion der Kandidaten beim Wahlvolk Ernüchterung ein. Zu oberflächlich die Problemanalyse, zu vage die skizzierten Lösungsansätze — auch bei Polit-Profi Pauli.
Zweiter Akt: Pauli gewinnt den ersten Wahldurchgang knapp vor Häckel
Die inhaltlich durchweg wenig überzeugenden, weil wenig konkreten Bewerbungen des sechsköpfigen Kandidatenfeldes führten schließlich zu einem Ergebnis des ersten Wahldurchgangs am Wahlabend des 14. Dezember, das der Favoritin aus Fürth den vorläufigen, wenngleich knappen Wahlsieg vor Nikolas Häckel bescherte.
Der leise und zurückhaltend auftretende, geborene Sylter, in der Gemeindeverwaltung ausgebildet und zwischenzeitlich als Leiter des Bauamtes in die Gemeinde Kronshagen gewechselt, hatte aus seiner Farblosigkeit gegenüber der schillernden Persönlichkeit Paulis eine Tugend gemacht und ganz auf Authentizität, Bodenständigkeit und Heimatverbundenheit gesetzt. Selbst als die Mitbewerberin im Wahlkampfendspurt medial unterstützt noch einmal alles in die Waagschale warf und mit allzu aufgesetztem lokalpatriotischen Verve und dem Vorschlag eines eigenen Sylter KfZ-Kennzeichens zu punkten suchte, blieb Häckel gelassen.
Letzter Akt: Gemeinde Sylt entscheidet sich für den Gegenentwurf
Mit Erfolg, wie sich am Abend der Stichwahl zeigte. „Ich freu mich”, die erste ungelenke Reaktion Häckels in Richtung der zahlreichen Fernsehkameras, auch darauf, dass „endlich Ruhe einkehrt”. Einarbeitung in die Themen stehe bis zum Amtsantritt am 1. Mai im Vordergrund, „mit kleinen Schritten” werde er seine Amtszeit beginnen. Gabriele Pauli gab sich als gelassene Verliererin: Die Wähler hätten jemanden gewollt der von der Insel komme, Häckel könne Bürgermeister lernen, sie aber eine Sylter Herkunft nicht. Sie versprach, sich nicht von der Insel zurückzuziehen, sich in Projekten einzubringen und insbesondere für Frauen-Themen einzusetzen: „Ich habe viel von der Insel erhalten.”
Ob Nikolas Häckel der Aufgabe gewachsen sein wird, muss sich erweisen. Alle Gemeinden der Insel Sylt stehen vor erheblichen gemeinsamen Herausforderungen — kommunalpolitisches Besitzstandsdenken und offen ausgetragene Konkurrenz und Rivalität haben in den vergangenen Jahrzehnten notwendige Entwicklungen verhindert, innovative und kreative Lösungsideen für die immer offener zutage tretenden Probleme nicht genährt. Nur mühsam erzielte Kompromisse kosten Zeit, Kraft und Geld und kommen schließlich zu spät.
Sylt lebt im wahrsten Sinne von der Substanz, von und mit dem noch immer hohen, touristisch erwirtschafteten Umsatz. Der neue Bürgermeister ist mehr als nur Verwaltungschef, das „Unternehmen Sylt” erfordert verschiedene Fähigkeiten, die ein Teil der Bürger offenbar nicht in ihm gesehen haben. Eine besondere Verantwortung kommt der Gemeindevertretung zu. Die Mehrheit ihrer Mitglieder gehört zu den wenigen Insulanern, die von dem „Unternehmen Sylt” profitieren, ein Teil des Systems sind, dass Sylt zugleich am Leben hält, es aber auch in die Probleme gebracht hat, mit denen es heute kämpft.
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