Am 1. Dezember 2009 verkündete der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle des Bundesverfassungsgerichts der klagenden evangelischen und katholischen Kirchen und im Namens des Volkes eine frohe Botschaft: An den Adventssonntagen hätten die Geschäfte geschlossen zu bleiben.
Der Artikel 139 der Weimarer Reichsverfassung, den das Grundgesetz übernommen hat, sagt in ebenso antiquierter wie rechtsgültiger Sprache: „Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.“ Das Gericht folgte dem Wortlaut, ließ keine religiös-kultische Deutung zu sondern gab sich weltlich: Die „Möglichkeit seelischer Erhebung“ solle „allen Menschen unbeschadet einer religiösen Bindung zuteil werden.“
In der Begründung malte das Gericht seine Sicht der Welt aus. Ich zitiere das ausführlich, weil man es sich auf der Zunge zergehen lassen muss:
„An den Sonn- und Feiertagen soll grundsätzlich die Geschäftstätigkeit in Form der Erwerbsarbeit, insbesondere der Verrichtung abhängiger Arbeit, ruhen, damit der Einzelne diese Tage allein oder in Gemeinschaft mit anderen ungehindert von werktäglichen Verpflichtungen und Beanspruchungen nutzen kann. Geschützt ist damit der allgemein wahrnehmbare Charakter des Tages, dass es sich grundsätzlich um einen für alle verbindlichen Tag der Arbeitsruhe handelt. Die gemeinsame Gestaltung der Zeit der Arbeitsruhe und seelischen Erhebung, die in der sozialen Wirklichkeit seit jeher insbesondere auch im Freundeskreis, einem aktiven Vereinsleben und in der Familie stattfindet, ist insoweit nur dann planbar und möglich, wenn ein zeitlicher Gleichklang und Rhythmus, also eine Synchronität, sichergestellt ist. Auch insoweit kommt gerade dem Sonntag im Sieben-Tage-Rhythmus und auch dem jedenfalls regelhaft landesweiten Feiertagsgleichklang besondere Bedeutung zu. Diese gründet darin, dass die Bürger sich an Sonn- und Feiertagen von der beruflichen Tätigkeit erholen und das tun können, was sie individuell für die Verwirklichung ihrer persönlichen Ziele und als Ausgleich für den Alltag als wichtig ansehen..“
Auch wirtschaftliche Argumente fanden Erwähnung:
„Ein bloß wirtschaftliches Umsatzinteresse der Verkaufsstelleninhaber und ein alltägliches Erwerbsinteresse („Shopping-Interesse“) potenzieller Käufer genügen grundsätzlich nicht, um Ausnahmen (…) zu rechtfertigen. Darüber hinaus müssen Ausnahmen als solche für die Öffentlichkeit erkennbar bleiben und dürfen nicht auf eine weitgehende Gleichstellung der sonn- und feiertäglichen Verhältnisse mit den Werktagen und ihrer Betriebsamkeit hinauslaufen.“
Solche Argumentationsketten kann man mit guten Argumenten doof finden. Sie sind aber zunächst mal Fakt. Gesetzgeber und Gerichte müssen das bei ihrer Arbeit berücksichtigen. Das weiß auch der Jurist Wolfgang Kubicki. Das hinderte ihn aber am Wochenendende nicht, mal so richtig auf den Putz zu hauen.
Der Liberale zückte am Wochenende in einem NDR-Interview zunächst die Religionskarte: „Die Tatsache, dass die Kirche leer sind, hat nichts damit zu tun, dass die Menschen am Sonntag einkaufen können.“ Stimmt. Tut aber nichts zur Sache, siehe Bundesverfassungsgericht. Auch die weitere von dem Liberalen gezückte Trumpfkarte, eine Änderung könne die „wirtschaftliche Existenz einer Reihe von Menschen in der Touristikregion“ bedrohen, sticht nicht: siehe Bundesverfassungsgericht. Dann setze er noch eins oben drauf und empfahl unverblümt den Austritt aus der Kirche. Das nützt auch nichts: Selbst wenn es Null Mitglieder in den christlichen Kirchen mehr gäbe, bliebe der Sonntag ein Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung. Siehe Bundesverfassungsgericht: Der Sonntag ist nicht aus religiösen Gründen ein Tag der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung. Nebenbei: Interessant finde ich den Umstand, dass „die Familie“ nicht im Mittelpunkt der Argumentation steht, in der ziiterten Pasage kommt sie erst an dritter Stelle, nach dem Freundeskreis und dem Vereinsleben.
Worum geht es? Die evangelische und die katholische Kirche wollen, mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts in der Hand, schon seit einiger Zeit vor dem Oberverwaltungsgericht in Schleswig gegen das schleswig-holsteinische Ladenöffnungsgesetz angehen. Ein Erfolg in Mecklenburg-Vorpommern macht ihnen Mut. Das Kieler Gesetz, so sagt die Landesregierung, sei eines der liberalsten Ladenöffnungsgesetze der Bundesrepublik – was die Vermutung weckt, dass die sogenannte Bäderregelung (In den Bädern dürfen Geschäfte vom 15. Dezember bis zum 31. Oktober an Sonntagen zwischen 11.00 bis 19.00 Uhr geöffnet werden), vielleicht zu freizügig sein könnte. Lange Gespräche hinter verschlossenen Türen führten zu keinem Ergebnis. Der ruhende Normenkontrollantrag wurde am 7. Juli von den Kirchen wieder aktiviert. Die Kirchen argumentieren geschickt, wollen die Bäderregelung auf die Zeit von Ende März bis Ende Oktober und die Zahl der Orte beschränkt wissen. Der katholische Erzbischof Werner Thissen erklärte den Sonntag schlankweg zum Weltkulturerbe. Und der Bischofsbevollmächtigte der Nordelbischen Kirche, Gothard Magaard fand, die Gesellschaft brauche einen gemeinsamen Tag der Entschleunigung.
Für die Landesregierung pochte die Staatssekretärin Zieschang darauf, dass die jetzige Regelung im breiten gesellschaftlichen Konsens gefunden worden sei und in den Tourismus-Orten konfliktfrei gelebt werde. Überhaupt: Es seien nur 8,6 Prozent der Gemeinden betroffen und damit das Regel-Ausnahmeverhältnis gewahrt. Die Regelung werde also einer verfassungsrechtlichen Überprüfung standhalten.
Also alles unnötig? Die Rendsburger Bürgermeister und führende schleswig-holsteinische Sozialdemokrat Andreas Breitner, der eine peinliche Verbindung zu den Anschlägen von Oslo herbeiredete und wiederum die Kirchenmitglieder empfahl, die FDP zu verlassen – was angesichts der Kleinheit beider Gruppierungen und einer vermutlich überschaubaren Schnittmenge fast auf eine Einzelansprache hinausliefe – hat sich umsonst aufgeregt?
Nein. Denn die Diskussion muss geführt werden. So einfach kann man das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes nämlich nicht hinnehmen. Es ist weltfremd. Es ist falsch.
Zunächst: Das Bundesverfassungsgericht tat gut daran, die religiöse Komponente nicht allzu sehr zu betonen. Denn die (informelle) Verknüpfung der Kirchen mit dem Staat nimmt rapide ab. In gleichem Maße sind Glaube und Kirche nicht mehr deckungsgleich. In den Kirchen sind nicht wenige nur noch „zahlende“ Mitglieder, die Gottes Wort nicht mehr in sich hören, nur noch aus tradierter Gewohnheit oder „wegen der Beerdigung“ Mitglied bleiben. Anders herum gibt es mehr und mehr, die sich von den Kirchen, besonders der katholischen, nicht mehr in ihrem Glauben vertreten fühlen. Ich bin so ein Kandidat. Ich habe irgendwann mit meiner evangelischen Kirche gebrochen. Ich bin aber weiterhin das, was man „gläubig“ nennt. Der Glaube an Gott hat mir durch manche Krise geholfen. Manchmal gehe ich in einen Gottesdienst und werfe dann etwas in den Klingelbeutel: Kirche on demand sozusagen.
Ein Blick ins benachbarte Ausland zeigt, dass es keine Konnexität zwischen verkaufsoffenen Sonntag und religiöser Durchdringung gibt. Nach dieser Aufstellung ist die regelmäßige Öffnung an Sonntagen etwa in Irland, in Polen oder Portugal längst üblich; in Spanien oder Italien zumindest in touristischen Gebieten – ohne dass die Kirchen um ihre Stellung fürchten müssten. Auch in Ländern, die wir als durchaus religiös erleben, ist der Sonntag vielleicht heilig, aber nicht sakrosankt.
Es sind ja nicht nur die Kirchen allein. Auch die Gewerkschaften streben danach, den Sonntag als grundsätzlichen Ruhetag zum Arbeitnehmerschutz zu erhalten. Dabei erschöpft sich die Argumentationskette in Plattitüden. Von einer „Unkultur des ‚Ich kaufe, also bin ich‘“ (die aber nur am Sonntag Unkultur ist, am Samstag und in der Woche nicht?) oder einem „gesellschaftlichen Biorhythmus“ wird geredet und damit vorgeschrieben, wie Kultur zu sein hat. Sie verbinden Kultur mit einem moralischen Maßstab, normieren sie. Das aus gewerkschaftlicher Sicht naheliegendste Argumention „Samstags/Sonntags gehört der Vati / die Mutti mir“ hingegen fehlt völlig.
Bleibt das Weltliche. Taugt der Staat als Sittenwächter? Taugen staatliche Verbote gegen bürgerliche Lust? Kann der Staat überhaupt ein gemeinsames Lebenskonzept verordnen? Ich glaube: Nein.
Wir wollen eine Welt, die dem Einzelnen mehr Verantwortung (über)lässt. Eine Welt, die individuelle Lebensentwürfe jenseits überkommener gesellschaftlichen Gruppen und Zwänge ermöglicht. Wir leben in eine Gesellschaft mit hoher Mobilität. Zugleich ermöglichen wir zunehmend flexiblere Arbeitszeiten an flexibleren Arbeitsorten. Die Arbeitszeiten sinken, langsam. Eine stetige Auflösung tradierter Muster.
Natürlich lässt das auch den Wunsch nach Entschleunigung aufkommen, nach einem Ruhepol, nach innerer Einkehr. Denn: Zeit ist ein Luxusgut.
Diese Zeit kann uns aber niemand geben. Die müssen wir uns nehmen. Aber es ist ein Irrsinn zu glauben, dass in unserer Welt der von Bundesverfassungsgericht geschilderte Wunschtraum der Synchronität funktionieren kann. Ihn von oben herab unserer Gesellschaft zu verordnen, ohne zugleich die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, ist so unsinnig wie ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, dass am Sonntag aus Namensgründen die Sonne zu scheinen habe. Der Staat oder ein Gericht kann so etwas nicht befehlen, es muss von den Bürgern selbst artikuliert und eingefordert werden. Ebensowenig, wie das Bundesverfassungsgericht in ein Urteil hineinschreiben könnte, dass der Bürger sich gefälligst in Parteien zu engagieren habe (damit diese als Teil der verfassungsgemäßen Ordnung weiter bestehen bleiben), kann es (oder die Verfassung) im Name des Volkes festlegen, an welchem Tag wir uns kollektiv der seelischen Erhebung hingeben sollen, hinzugeben haben.
Das ist kein Petitum für Hektik. Ich mag die Slowfood-Bewegung, lebe viel zu hektisch, pendele viel zu viel hin und her und weiß aus eigener Erfahrung, um wieviel wichtiger die Pausen als die Spielzeiten sind. Aber da muss man selbst drauf kommen. Ein Staat, der mir heute vorschreibt, an welchen Tag ich mich im Freundeskreis, im Verein oder in der Familie seelisch erhebe, der schreibt mir morgen vielleicht vor, welche Stellung im Bett die sittliche ist und verkommt so vollends zum Moralapostel. Nein, ein Staat hat sich nicht anzumaßen, in solchen Fragen ein gut oder schlecht, einen Sonntag oder einen Montag zu verordnen. Außer, er will sich lächerlich machen. Wenn er, für den Menschen sorgend und um sein Wohl besorgt, den freien Raum und den Rechtsrahmen dafür schafft, dass ich diese Entscheidung in eigener Verantwortung treffen kann, tut er schon viel. Seine Aufgabe ist es nicht, anstelle der Gesellschaft Probleme zu lösen, sondern mit ihr, mit uns, den Bürgerinnen und Bürgern.
Natürlich kann sich eine Gesellschaft die Regeln geben, die sie will. Auch „Shop-Around-The-Clock” ist eine Regel (und dank Internet schon heute möglich, ohne dass Arbeitnehmer betroffen sind). Und der Staat ist nun einmal das Mittel einer Gesellschaft, sich solche Regeln zu geben. Die Frage ist halt, was die Bürgerinnen und Bürger wollen. Und ich halte es für keinen gute Idee, das dem Markt zu überlassen. Profitieren werden davon vor allem die großen Ketten, die sich das leisten können. Die normalen, inhabergeführten Geschäfte können schon heute nicht von den langen Öffnungszeiten profitieren. Und es ist eine politische und keine Frage des Marktes, ob man eher eine kleinteilige oder eher eine Filial-Struktur im Einzelhandel hat.
Ja, es ist keine gute Idee, das dem Markt zu überlassen. Wobei ich zugegeben Anhänger der Idee bin, dass es die Durchsetzungskraft und Bedeutung der Gewerkschaften stärken sollte, wenn solche Dinge im Lebensmittelhandel z.B. tarifvertraglich geregelt werden.
Dennoch kann ich mit einer gesetzlichen Regelung natürlich arrangieren. Aber dann bitte mit offener und überzeugender Argumentation. Das was das BVerfG abgeliefert hat, finde ich nicht überzeugend als Argument.
Die gesamte Diskussion um Ladenöffnungszeiten ist in meinen Augen extrem diskriminierend. Ob bewusst oder unbewusst, werden hier all diejenigen Berufe ausgeklammert, die dennoch an Samstagen und Sonntagen arbeiten. Hat mal jemand an Polizei, ÖPNV, Feuerwehr, Ärzte und Pflegeberufe gedacht? Diese Berufsgruppen haben Schichtdienst, teilweise Nachdienst und ja sie arbeiten auch am Wochenende. Wenn euer Haus brennt, dann kommt die Feuerwehr auch nachts oder am Sonntag. Und wenn sich jemand während seines Vereinslebens am Sonntag die Bänder reist, dann muss auch er nicht bis Montag morgen warten, bis ihm die Schmerzen genommen werden.
Wenn ich dann die folgenden Sätze der Richter lese, wird mir speiübel:
„Die gemeinsame Gestaltung der Zeit der Arbeitsruhe und seelischen Erhebung, die in der sozialen Wirklichkeit seit jeher insbesondere auch im Freundeskreis, einem aktiven Vereinsleben und in der Familie stattfindet, ist insoweit nur dann planbar und möglich, wenn ein zeitlicher Gleichklang und Rhythmus, also eine Synchronität, sichergestellt ist. Auch insoweit kommt gerade dem Sonntag im Sieben-Tage-Rhythmus und auch dem jedenfalls regelhaft landesweiten Feiertagsgleichklang besondere Bedeutung zu.”
Wie weltfremd sind diese Menschen, die sich anmassen in dieser Art in unser Leben einzugreifen und zu entscheiden, dass Angestellte im Handel offensichtlich besser gestellt sind, als jene in den oben genannten Berufen mit Schichtdienst? Ich möchte den Richter sehen, der am Sonntag morgen im Krankenhaus auf seine Sonntagszeitung warten muss, wenn keine Pflegekraft kommt, die sie ihm bringt. Und auch der liberale Anwalt Kubicki möchte sicher nicht auf pflegerische Maßnahmen am Wochenende verzichten, wenn er sich beim Skifahren die Haxen gebrochen hat…
„Zeitlicher Gleichklang und Rhythmus, also eine Synchronität..” ist bei Angestellten im Schichtdienst einfach nicht vorhanden. In diesen Familien muß sehr, sehr viel mehr geplant und abgestimmt werden. Hier gilt es eine sehr hohe Flexibilität an den Tag zu legen. Allein die Frage, wo man bei Wochenenddienst die Kunder unterbringt, wenn keine Schule ist und kein Kindergarten geöffnet hat, stellt viele dieser Menschen vor ungeheure Probleme.
Eine Diskussion um Ladenöffnungszeiten, wie oben beschrieben, ist unter Berücksichtigung der Argumentation der Richter, Politiker und der Kirche gegenüber den genannten Personen extrem diskriminierend. Artikel 3 des GG scheint hier keinem bekannt zu sein.…
Der Vergleich mit Portugal, Spanien etc hingegen gefällt mir gut. Schaut aber auch ruhig mal zu unseren nördlichen Nachbarn nach Dänemark. Dort haben die meisten Geschäfte bis 20 Uhr geöffnet, viele auch am Sonntag, ebenfalls bis 20 Uhr.
Es gibt Jobs in denen Leben von Sonntagsarbeit abhängen und es gibt Shopping. Wieso sollte man das gleichsetzen?
Dinge, die Sonntags passieren und nicht überlebensnotwendig sind:
Müssen Restaurants am Sonntag offen haben? Ist es nicht, mit Blick auf die Störung der Arbeitsruhe der dort arbeitend müssenden, nicht viel besser und zudem seelisch erhebender, wenn wir das Sonntagsmahl im Kreise der Freunde oder der Familie am heimischen Herd zubereiten?
Müssen Fußballspiel oder Konzerte am Wochenende stattfinden und so Sonntagsarbeit in und um den Stadien verursachen? Ginge das nicht auch viel praktischer unter der Woche?
Reicht es nicht, wenn Tankstellen nur an Schnellstraßen offen haben? Außerhalb davon wird ja wohl kaum Reiseverkehr stattfinden!
Frische Brötchen am Sonntag morgen? Ist das nicht dekanter Ausdruck bequemer Bourgeoisie?
Weil alle Arbeitenden die gleichen Rechte und Pflichten haben. Punkt
Gut geschriebener Artikel, auf jeden Fall. Mir kommt hier allerdings ein Aspekt zu kurz — und hier Frage ich mich dann in wie weit der Autor in seiner Jugend oder auch jetzt, als Erwachsener Teil eines Vereinslebens gewesen ist. Und gerade weil der Autor, das wohl weltweit am besten funktionierende Vereins- und Verbandswesen bei seinem Vergleich mit anderen Ländern vollkommen außer Acht lässt, ist er dann doch nicht mehr so gut. Dieses Element, dass eben gerade unsere Gesellschaftsstruktur prägt, sucht seines Gleichen und ist ein wertvolles Gut. Dieses zu erhalten ist auch Teil des Gesetzestextes ohne jeglichen relgiösen Bezug. Nur Ehrenamt kann dieses leisten und Anpfiff für das nächste Kreisligaspiel ist nun mal am Sonntag um 10 Uhr oder am Samstag um 14 Uhr. Ich als mittelmäßiger, bis schlechter, ehemaliger Außenverteidiger weiß wovon ich spreche. Die Entscheidung des Gereichts war weise und weitsichtig. Mir persönlich geht es nicht um Kommerz contra Kirche. Mir geht es um das Ehrenamt, dass Menschen in Ihrer Freizeit ausüben — so man sie denn lässt.
Ich war lange Jahre aktiver Gewerkschafter. Ich war Bundesjugendvorsitzender meiner Gewerkschaft (DAG, mittlerweile ver.di) und Mitglied im Gewerkschaftsrat, dem obersten ehrenamtlichen Gremien. Ich habe regelmäßig fast jedes Wochenende auf jugend- oder verbandspolitischen Sitzungen, Kongressen oder Seminaren verbracht. Die Abende in der Woche kann ich nicht zählen.
Da die DAG auch im Bereich der Krankenpflege und des Einzelhandels organisierte, viele VorstandskollegInnen also aus Schichtbetrieben oder Läden mit regelmäßiger Samstagsarbeit kamen, weiß ich um die Belastungen, die man hat, wenn man Ehrenamt, Beruf und Gewerkschaft und Familie und Freunde und Kultur und Tatort unter einen Hut bekommen will. Zumal, weile meine damalige Lebenspartnerin als Krankenschwester arbeitete.
Ich verrate aber auch kein Geheimnis, wenn wir zwar stets gegen den Schlado (Scheiß langen Donnerstag) wetterten; es insgeheim aber doch irgendwie nützlich fanden, wenn man nach einer Sitzung noch was einkaufen konnte.
Ich wohne in Schilksee, einen nördlichen Stadtteil Kiel, der unter die Bäderregelung fällt. Dort gibt es ein Lebensmittelmarkt, der am Sonntag geöffnet hat. Immer dann, wenn die Fußball-Mannschaften des örtlichen Sportvereins ein Heimspiel oder –Turnier veranstalten, kann man nachher die Mannschaften (und die Väter und Mütter der jugendlichen Spieler) dort einkaufen gehen sehen (sagt mein Nachbar immer, ich bin in der Regel am Sonntag nicht in Kiel). Mein Nachbar findet es, als Mitarbeiter an der Uniklinik, übrigens saublöd, dass die Linie 32, die von Schilksee kommend durch die Feldstraße an der Uniklinik vorbeifährt, Samstags und Sonntags nicht verkehrt und er so, wie viele Bedienstete, die längere Fahrzeit (und den längeren Weg von der Holtenauer Straße) in Kauf nehmen muss. Ich schätze mal, Busfahrer sehen das anders.
Wenn ich mal in dem Supermarkt in Schilksee am Sonntag bin, oder wenn ich tagsüber einen Supermarkt besuche, dann sehe ich zunehmend Aushilfskräfte dort arbeiten. Überhaupt habe ich den Verdacht, dass die Ausweitung der Öffnungszeiten allein durch Streckung des Personals erfolgt. Kommt mal ein Schwung mehr als üblich in den Landen, entstehen unweigerlich lange Schlangen, weil niemand da ist, der Zeit hätte, eine weitere Kasse zu bedienen. Ich zahle also auch als Kunde einen Preis, den Verzicht auf Komfort.
Ich fahr aber auch manchmal mit einer Frau im Bus, die mir erzählt, dass sie gern abends arbeitet. Sie verdient was hinzu, während der Mann zu Haus auf die Kinder aufpasst.
Es ist also alles nicht so einfach. Ich spreche mich deshalb bewusst am Ende nicht für Option A oder Option B aus. Was mich (neben der Begründung des BVerfG, die ich wirklich bescheuert finde) nervt, sind die aufgesetzten, mir vorgeschobenen erscheinenden Argumentationen der Kritiker (und der Befürworter). Und die zunehmende Mode, politischen Streit nicht politisch zu lösen sondern den Gerichten zu überlassen.
An dieser Stelle nur kurz der Hinweis, dass Wolfgang Kubicki per Pressemitteilung unter anderem erklärt hat, nicht zum Austritt aus der Kirche aufgerufen zu haben: http://www.ltsh.de/presseticker/2011 – 07/26/12 – 51-44 – 3382/
Möge ein jeder mit diesem Hinweis machen, was er möchte. Nur bitte mir als Informationsüberbringer keine Wertung zuschreiben. Danke.
Danke für den Hinweis. Diese Presseerklärung schnitt sich mit der Veröffentlichung des Artikel. Hier der Link auf das vollständige Interview mit dem NDR.
Was genau wird denn als „seelische Erhebung” definiert?
Gut, dass Du nachfragst, da wollte ich mich doch auch noch drüber aufregen :-)
Die ins GG übernommenen Kirchenartikel der Weimarer Verfassung waren seinerzeit (Weimar) sicher was sehr liberales, sie drängten die Bedeutung der Kirche/des Glaubens zurück.
— z.B. Artikel 136 WRV: (3) Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren
- oder 136 (4) Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden.
- Oder 137 (1) Es besteht keine Staatskirche.
Aber es sollte wohl nicht alles fallen. Deshalb das merkwürdig sperrige „bleiben” in diesem Satz: „Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.” 139 WRV bildete sozusagen „die andere Seite der Grenze“: Der säkularisierte Staat gewährleistet – aus weltlichen Gründen – nicht die Heiligkeit, wohl aber die Sinnhaftigkeit des Sonntags.
Ob das auch heute noch so gilt? Ich finde: Nein. Der Sonntag ist kein Tag der „inneren Einkehr” oder des „Kraft Schöpfens” (so würde ich seelische Erhebung deuten). Am Sonntag gehen wir raus, auf den Fußballplatz, in Freibad, ins Kino — oder wollen „in Ruhe” was einkaufen. Das ist die Realität.
Für mich ergibt sich dieses Recht auf „freie Tage” oder „sich entspannen können” oder „faul sein können” aus den Grundrechten auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit oder aus dem Recht körperliche Unversehrtheit, die sich in unserem Rechtsstaat widerspiegeln müssen. Sich aber einen Aspekt davon rauszusuchen – zumal einen, der keine Abwehr des Bürgers gegen den Staat gewährleistet, sondern eine der vielen möglichen Interpretationen in einer pluralistischen Gesellschaft, nämlich die „seelische Erhebung am Sonntag“ – und diesen in der Verfassung zu regeln, halte ich für falsch.
Die Antwort auf Sebastians Frage lautet 42.
Ich habe das Gefühl, dass die Leute die hier schreiben keinen Schichtdienst incl. Wochenende und Feiertage schieben. Immer dann wenn im Freundeskreis eine Feier ansteht habe ich Dienst , wenn wichtige Veranstaltungen im Dorf sind habe ich Dienst u.s.w. Den Rhythmus den der Kalender mit den Feiertagen vorgibt gibt, gibt es für mich nicht. Der Schichtplan diktiert mein Leben. Die Dienste an Sonn-und Feiertagen entwickeln sich wegen Personalmangel häufig zu Horrordiensten. Deshalb bin ich dafür, die Arbeit zu ungünstige Zeiten so weit wie möglich zu beschränken und mir sind die Argumente der Kirche auch egal, Hauptsache sie gewinnen vor Gericht. Sie sollen auch gewinnen, um die Kosten im Gesundheitswesen zu senken, denn die Nachtarbeit führt zu Bluthochdruck, MagenDarmerkrankungen und psychische Erkrankungen. Die Aufteilung des Arbeitgeber/Arbeitnehmeranteils der CDU/FDP Regierung bei der Krankenversicherung passt ja dann auch wie die Faust aufs Auge, oder?