
Ehemalige US-amerikanische Abhörgebäude, Teufelsberg Berlin | Foto: Jan Beck - CC BY 2.0
Auf Facebook schreiben Sie, dass der aktuell laufende NSA-Überwachungsskandal eine mediale Sau wäre, die durchs sommergelochte Dorf getrieben würde. Sie argumentieren vom hohen Ross des weltgewandten Juristen, dass schon alles mit rechten Dingen in den USA liefe und wir uns nicht fürchten sollten: Der Mensch sei der limitierende Faktor. Ich erlaube mir einmal, eines Ihrer Zitate abzuwandeln: „Sorry, aber Technikdebatten von Nicht-Technikern sind immer wie physikalische Anmerkungen von Penny („TBBT”)!”
Die Daten werden ganz sicher nicht manuell ausgewertet — es gibt keinen „Faktor Mensch” mehr. Die Daten dienen zur Kalibrierung eines Systems, das für sich selbst definiert, was normales und was abweichendes Verhalten ist: Normal ist, was statistisch die meisten Menschen machen. Die Menschen, die abweichendes Verhalten zeigen, also zum Beispiel Männer mittleren Alters, die sich auf Facebook mit wesentlich jüngeren Mädchen unterhalten, werden dann an zuständige Stellen zur Überprüfung weitergeleitet.
Wer nicht überprüft werden möchte, sollte sich also lieber vorher schon überlegen, welches Verhalten vielleicht von den staatlichen Rechnern für abweichend gehalten werden könnte. Man will ja nicht mit eigentlich legalen, aber doch irgendwie abweichenden Aktionen im Visier der Überwacher landen. Also sollten wir uns alle schön anpassen.
Meinen Sie immer noch, dass man sich als „anständiger Bürger” nicht wegen der Überwachung sorgen muss? Ihr Parteifreund Michael Blume hat da andere Erfahrungen gemacht. Daten, die erhoben werden, werden auch missbraucht.
Und auch Sie machen den Fehler, den viele in der Politik zur Zeit machen: Sie gehen vom Status Quo aus: „Hey, ein paar Mails und Telefonverbindungen sind doch nicht so schlimm.” Aber die technische Entwicklung bleibt nicht stehen — mehr und mehr Geräte sind ans Internet angebunden: Ihr Fernseher, Ihr Auto, Ihr Kühlschrank usw. — Stichwort „Internet der Dinge”.
Und dann kann man ein (vermeintlich) komplettes Abbild vom Leben der Menschen erstellen: Wie lange schlafen Sie? Wann stehen Sie auf? Was essen Sie? Wohin bewegen Sie Sich? Was machen Sie unterwegs? Mit wem treffen Sie sich? Welche Medien konsumieren sie? Wann? Wo? Wie man all diese Daten zusammenführt und so verarbeitet, dass jeder auffällt, der nicht dem üblichen Schema entspricht, erforscht die EU mit dem INDECT-Projekt. Dort sollen Videobilder aus den mittlerweile allgegenwärtigen Überwachungskamera mit anderen Datenbanken zusammen gebracht werden. Die USA machen das bereits heute mit ihrem „Information Awareness Office”. DAS ist, wovor die Piraten und all diese andere Nerds schon seit Jahren und zum Teil seit Jahrzehnten warnen.
Sie, Herr von Boetticher, haben doch erfahren, wie unsere Gesellschaft mit Menschen umgeht, die nicht ins Raster passen. Soll so eine freiheitliche, eine offene Gesellschaft aussehen: Menschen, überall und jederzeit überwacht und einsortiert in kleine Schubladen? Hat dann der Terrorismus nicht geschafft, was er erreichen wollte? Terroristen können Leib und Leben bedrohen — die Freiheit abschaffen kann nur die Politik.
Gauck hatte recht: keine Aktenordner, die manuell durchsucht werden. Eher Petabytes die durch Algorithmen eben komplette Profile ausspucken, das geht bei Stichworten los und hör bei Bewegungsmustern auf.
Mein Lieblingssatz:
Treffer, versenkt, möchte ich mal sagen.
Wie gerne würde ich den text von Steffen doch als verschwörungstheoretisches Geschwurbel abtun.
Leider zeigt er ziemlich exakt auf was „Terrorismusbekämpfung” aus der „freien Welt” macht. Womit das Ziel von Terror wohl erreicht ist.
Noch vor ein paar Wochen hätte ich das als Gefahr aber nicht als Realität gesehen. Die USA streiten das aber nicht einmal mehr ab — sie sagen nur, dass das legal ist. Und Leuten, wie Herrn von Boetticher reicht das offenbar an ethischer Begründung von Überwachung.
Wie sagte John Oliver neulich in der Daily Show? „Mr. President, wir werfen Ihnen nicht vor, dass Sie Gesetze gebrochen haben — wir wundern uns nur, dass Sie das nicht mussten.” http://youtu.be/tilfgWzhsns
Chapeau, Steffen!
Sehr geehrter Herr Voß,
sie haben aus einer langen Debatte bei meinem Facebook-Freund Philipp von Brandenstein einen Kommentar von insgesamt acht meiner Debattenbeiträge herauskopiert und kommentiert. Sie hätten sich genauso gut in die Debatte einklinken können, aber das haben Sie nicht — honi soit qui mal y pense! Offenbar gehen Sie Diskussionen lieber aus dem Weg.
Ich saß 2000/2001 als Obmann im Echelon-Ausschuss des Europäischen Parlaments und kenne seitdem die Möglichkeiten der NSA aber auch ihre Begrenzungen recht gut, denn ich habe mich über ein Jahr lang intensiv mit allen technischen Fachleuten in Europa über die relevanten Fragen der Datenverarbeitungssystem austauschen können. Unser Abschlussbericht von damals ist noch im Netz, lesen Sie ihn einfach mal. Auch wenn die Technik heute deutlich weiter ist, sind, gelten bestimmte physikalische und technische Limitierungen immer noch, die menschlichen ohnehin.
Aber ich finde interessant zu hören, was Ihrer Meinung nach die NSA genau macht. Sie erklären das exakter als Herr Snowden, Respekt, wenn es denn stimmten würde. Bisher haben sich alle Legenden von einer Totalüberwachung jedenfalls in Luft aufgelöst, was natürlich Verstöße gegen unser Recht nicht besser macht.
Wenn Sie meinen letzten Beitrag genommen hätten, wäre vielleicht deutlich geworden, um was es in der Debatte eigentlich ging. Darum schreibe ich ihn hier abschließend:
„Seit vielen Jahren ist klar, dass wir in einer globalisierten Welt mit nationaler Gesetzgebung den Bürgern auch nicht ansatzweise mehr den Schutz und die Rechte gewährleisten können, die ihnen das Grundgesetz und der nationale Staat verspricht. Wir können eine Finanztransaktionssteuer einführen, die gilt dann aber am Finanzstandort London schon nicht mehr, wir können Käfighaltung für Hühner verbieten, aber die Nudelprodukte die wir essen, werden mit Eiern aus Thailand hergestellt, wir können Kinderarbeit verbieten, aber wie die Kleidung in China hergestellt wird, die wir tragen, bleibt rechtlich den Chinesen überlassen. Womit ich nicht gesagt habe, dass wir all das unterlassen sollten — es schützt uns nur nicht im suggerierten Umfang. Und jetzt stellen wir fest, dass ein deutschen Datenschutzgesetz, ja nicht einmal ein europäisches Datenschutzgesetz in der Lage ist, unsere Daten zu schützen. Die grundlegende Debatte über die Begrenztheit nationaler Rechtssysteme ist also nicht neu, die Frage, die sie aufwerfen, ist deshalb absolut legitim, aber ebenfalls nicht neu. Und sie haben Recht, es gibt keine schnellen Antworten…die gibt es schon seit Jahren nicht. Alle internationales Verhandlungen um Angleichungen der Rechtssysteme stecken in langjährigen Verhandlungen (Kyoto-Protokoll, GATT-Verhandlungen, zuletzt das Meeresschutzabkommen der UNEP), von der Freihandelszone EU-USA noch gar nicht zu sprechen. Dabei wird unser Rechtssystem im übrigen „Federn lassen”, weil bei Verhandlungen nicht zu erwarten ist, dass wir uns in allen unseren Ansichten durchsetzen. Das ist der Grund, warum ich weder die Rechtfertigung durch Innenminister Friedrich gutheiße, noch die massive Kritik an ihm, denn weder er noch irgendein anderer deutscher Politiker kann diese Lage kurzfristig ändern. Das können derzeit nur die Menschen in den USA…und da habe ich nach den Nachrichten von heute Morgen ganz gute Hoffnung”.
In der weitergehenden Hoffnung, dass sie nicht das Sommerloch im Landesblock füllen wollten,
verbleibe ich mit freundlichen Grüßen,
Christian von Boetticher
Herr von Boetticher, könnten Sie den Teil noch mal wiederholen, in dem Sie behaupten, dass die 35.000 Mitarbeiter der NSA unmöglich alle E-Mails lesen können und deswegen der Faktor Mensch hier begrenzend wirke?
Der Volksmund kennt so viele schöne Begriffe für Menschen, die frei von technischer Sachkenntnis trotzdem umso stärker eine Meinung dazu vertreten. Davon dürfen Sie sich dann gerne einen aussuchen.
Und als Hausaufgabe überlegen Sie einmal, wie Google es für 750 Millionen seiner Googlemail-Kunden schafft, die E-Mails zu analysieren und Werbung einzublenden, die zum Inhalt passt. Bonuspunkt gibt es für die Überlegung, wie die NSA das wohl macht.
Der Snippet den Steffen aussuchte passt schon ganz gut, sie wissen ja dass von den 1789 in 2012 wieviele vom Foreign Intelligence Surveillance Court genehmigt wurden? Exakt. Alle 1789. Soviel zum Richtervorbehalt. Der ja selbst in Deutschland nur auf dem Papier steht und nicht wirklich angewendet wird. Aber als juristischere Fachmann wissen Sie das ja.
Dass ein Gesetz keine Daten schützen kann ist bekannt, nur dass unser Innenminister diesen Rechtsbruch als Lappalie abtut die andere Seite der Medaille. Schlösser an meiner Wohnungstür verhindern keinen Einbruch, nur wird der Täter idR gesucht und es wird als Straftat bewertet. Im Falle Prism oder Tempora wird der Souverän dieses Staates von seinen Repräsentaten noch ermahnt doch bitte keine Kritik zu üben und sich selbst zu schützen.
Die erste Ausformung der Selbstjustiz, die man durchaus auf andere Bereich des gesellschaftlichen Lebens ausweiten könnte.
Welche Legenden haben sichd enn in Luft aufgelöst? Mir ist kein Sachverhalt bekannt der sich in den letzten Tagen relativierte.
Selbst die Wikipedia ist hier besser informiert.
Sie scheinen im Echelon Ausschuss nicht aufgepasst zu haben, der menschliche Faktor ist hier nicht relevant. Prozesse sind vollständig zu automatisieren, selbst die Auswertung und die Maßnahmen, das machen Firmen wie Youtube, Google, Amazon schon lange vor. Lediglich die Algorithmen müssen neu justiert, gepflegt werden eventuell kann eine Endkontrolle durch Menschen stattfinden.
Sehr geehrter Herr von Boetticher,
wenn Sie 2000/2001 als Obmann die Tätigkeiten der NSA „recht gut” kennen lernten, dann waren dies doch nur Dinge, die die NSA in Europa freigab. Und dieses Wissen auf die heutige Zeit und auch auf die nahe Zukunft zu beziehen, halte ich für mehr als blauäugig. Wie das ganze in etwa funktionieren könnte, kann man ja aus einem einfachen zivilen Beispiel lernen. Schauen Sie sich nur an, wie Google funktioniert und 2001 funktionierte. Oder lassen Sie sich von einem mindestens Halbprofi erklären, was der Unterschied Google 2000 und 2013 ist. Nur zur Erinnerung: Die Werbung dort gab es noch nicht, als Sie Obmann des EPs waren.
Ich befasse mich beruflich sehr intensiv mit Google, ich weiß, dass Steffen dies auch durchaus macht und dort die Zusammenhänge kennt und versteht. Wenn man nun sieht, was Google alles kann und macht – und als Agentur oder beruflich sich damit befassende Person sieht man es sehr deutlich – dann kann man sich vorstellen, was die NSA mindestens auch kann. Und mit diesem Wissen über Google sind alle von Steffen angesprochenen Dinge für mich problemlos nachzuvollziehen. Mit etwas Zeit bin ich gar sicher, dass Steffen und ich dies auch umsetzenden könnten. Technisch ist dies auch nicht sehr schwierig, es kostet nur Ressourcen und die richtige Verknüpfung. Dann noch ein paar Sprachwissenschaftler dazu und fertig. Das ist kein Hokuspokus, den steffen von der NSA erwartet und beschreibt. Das ist real und findet bei Google in anderer Form durchaus Verwendung.
Kurz: Ich finde Ihren Kommentar entweder naiv oder Sie halten die Kritiker für naiv. Ich habe mich noch nicht entschieden…
Gruß,
Nils Courvoisier
Ich wundere mich ein ums andere Mal, dass besonders Politiker von der CDU so lernresistent sind und Fakten wider besseren Wissens so konsequent verdrehen können. Wobei ich mich tatsächlich nicht nur wundere, sondern fassungslos bin.
Man kann nur hoffen, dass die mentalen Limitierungen der CDU irgendwann nur noch ein Detail in den Geschichtsbüchern sind und Personen das politische Ruder übernehmen, denen das Wohl des Volkes tatsächlich am Herzen liegt.
Hier ein Beispiel, warum Computer schon viel erkennen können:
Stylometry and Online Underground Markets
http://www.youtube.com/watch?v=QRY2mfLpPCs
Noch schnell ein EU-Projekt, in dem es um Automatisierung geht:
INDECT
http://www.youtube.com/watch?v=AGD1XxOf91s
http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/eu-ueberwachungsprojekt-indect-die-volle-kontrolle-a-866785.html
http://de.wikipedia.org/wiki/INDECT
Herr von Boetticher scheint (neben vielen anderen) nicht in der Lage, die technische Entwicklung der letzten 12 Jahre zu beurteilen. Deshalb fehlt auch der Weitblick. Was wir heute als legitim akzeptieren, wird morgen mit noch viel ausgefeilteren Methoden durchgeführt werden. Was heute entschieden wird, ist die Basis für die Überwachung von morgen mit für die meisten Menschen unvorstellbaren Mitteln. Eigentlich ist in diesem Zusammenhang morgen schon gestern.