Seit 15 Tagen stehen Eltern, Schüler und Lehrer der Wandsbeker Rudolf-Steiner-Schule
in stillem Protest vor dem Landeshaus in Kiel, einen Großteil davon bei klirrender
Kälte und Schneestürmen. Sie stehen dort jeden Tag 12 Stunden, von morgens um 8 bis Abends um 20 Uhr; selten zeigt sich mal ein sympathisierender Abgeordneter und bringt ihnen einen heißen Kaffee nach draußen. Auf ihrem Banner steht „Mahnwache Gastschulabkommen”, es ist eine letzte Notaktion, um einen lange schwelenden Streit zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein zu beenden — aber worum geht es dabei eigentlich genau?
Das erste Gastschulabkommen wurde bereits im Jahr 1963 zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein geschlossen; es legte fest, wie viele Schüler aus aus dem jeweils anderen Land im eigenen die Schule besuchen durften, und welche Kosten das Heimatland pro Schüler für diesen Service zu bezahlen hatte. Hamburg ist gerade deshalb bei Gastschülern so beliebt, da es eine besonders große Dichte an privat getragenen Schulen (Waldorf, Montessori, Konfessionelle etc.) besitzt, welche im Hamburger Speckgürtel in dieser Zahl nicht zu finden sind. Auch sind Klassen in Hamburg oft kleiner und bieten spezielle Profile an.
Die Probleme
Seit zwei Jahren keimt aber ein Streit zwischen den Schulbeauftragten der beiden Landesregierungen, es geht um eine Ausweitung der Finanzierung. Schleswig-Holstein zahlte seit 2004 jährlich 8,5 Millionen Euro an die Hamburger, damit knapp 6.300 Schüler in Hamburg zur Schule gehen können. Hamburg forderte 2009 aber 20-30 Millionen (die Zahlen schwanken je nach Artikel, Tageszeit und Windrichtung) und als es mit dieser Forderung auf taube Ohren stieß, kündigte die vormalige Bildungssenatorin Christa Goetsch (GAL) das Abkommen noch im letzten Jahr. Bis Ende diesen Jahres, also noch knapp 4 Wochen, läuft ein Interimsabkommen — danach müssten die Schleswig-Holsteinischen Kinder und Jugendlichen ihre Schulen verlassen, wenn keine Einigung erzielt wird.
Schleswig-Holsteins Bildungsminister Ekkehard Klug argumentierte bisher damit, dass ungefähr 750 – 1.000 Hamburgische Schülerinnen und Schüler Schulen in Schleswig-Holstein besuchten — diese müssten zuerst „gegengerechnet” werden. Zudem übernehme SH eine unbekannte Anzahl* von Hamburger Kindern und Jugendlichen in Heimen, wobei die Kosten für eine Heimunterbringung deutlich höher seien, als die für einen Schulbesuch. Außerdem will Schleswig-Holstein nicht die rückwirkenden Kosten für Schüler übernehmen, die über die im alten Gastschulabkommen vereinbarte Anzahl hinaus gingen.
Letzten Endes geht es aber, auf die Gesamtkosten unseres Schulsystems bezogen, um Peanuts. Schleswig-Holstein müsste die Schüler auch dann bezahlen, wenn sie wieder hier zur Schule gingen, nur würde der Schulwechsel für sie eine enorme Mehrbelastung bedeuten. Man stelle sich nur einen Schulwechsel im Abschlussjahr vor, in ein anderes Land mit anderen Prüfungsthemen und Lehrplänen. Auch Hamburgs Schulen wären nicht besser dran, wenn schlagartig bis zu 20 Prozent** ihrer Schüler abziehen müssten. Es würde für sie eine enorme finanzielle Belastung darstellen, eventuell müssten als mittelfristige Reaktion auch 20 Prozent der Lehrer entlassen werden.
Ein Irsinn sondergleichen, der noch bizarrer wirkt, wenn man die „Nordstaat-Rhetorik” in den Regierungen hört, oder bedenkt, dass gerade eine zusätzlicher S-Bahn-Verbindung zwischen Hamburg und Ahrensburg geplant wird, um die Mobilität zwischen den beiden Ländern zu erhöhen — im Wert von 350 Millionen Euro (die auch von Bund und der Deutschen Bahn mitfinanziert werden). Zum Einkaufen darf man dann also nach Hamburg, zum Lernen aber nicht.
Die große Planungs-Unsicherheit der Familien durch den nun bald 2 Jahre währenden Streit führte sogar zu Täuschungsversuchen bei den zuständigen Ämtern: Ehepartner trennten sich formal, damit einer der beiden in Hamburg gemeldet sein konnte. Als dies im Sommer auffiel, mussten 36 Schüler ihre Schulen verlassen. Diese Rechtsverdrehungen sind natürlich keine Lösung für die Familien, und auch nicht für das Ansehen der Regierungen. In einem freien Land sollten Schüler die freie Schulwahl haben, insbesondere in der so eng verzahnten „Metropolregion Hamburg”.
Der Ausblick
Am heutigen Tag waren zumindest in der Presse positive Stimmen zu verhören. Der durch die Regierungsauflösung der GAL frei gewordene Posten Christa Goetschs wurde vom CDU-Jugend- und Sozialsenator Dietrich Wersich übernommen. Dieser neue „Supersenator” fand mit seinem Schleswig-Holsteinischen Amtskollegen Ekkehard Klug scheinbar den richtigen Ton, beide zeigten sich zuversichtlich. Ministeriumssprecherin Beate Hinse sagte dazu: „Das Ziel ist es, bis zum Ende des Jahres ein Abkommen zu treffen. […] Wir sind optimistisch, dass es auch klappt.”
Es wäre schön, wenn die warmen Worte auch schnell in die Tat umgesetzt würden, damit Familien, Lehrer und Schüler Planungssicherheit und ihr Recht auf freie Schulwahl erhalten — und damit die Demonstranten der Mahnwache endlich in Ruhe die Adventszeit genießen können.
Am heutigen Tag (und während der Arbeit an diesem Artikel) scheinen sich Bildungsminister Dr. Klug und Bildungssenator Wersich auf ein Folgeabkommen geeinigt zu haben, dieses soll pünktlich zum 01. Januar 2011 in Kraft treten und für 5 Jahre gelten. Schleswig-Holstein wird dann statt der jährlichen 8,5 Millionen Euro 12,4 Millionen plus jährlich weitere 200.000 Euro zahlen, um Schülern aus SH weiterhin einen Besuch ihrer Hamburger Schule zu ermöglichen. Nach dem Wortlaut der Pressemitteilung des Bildungsministerium gilt dies allerdings nur für Schüler, deren Schulverhältnis mit einer Hamburger Schule bereits im Jahr 2010 bestand. Zudem werden Kinder, deren Familien zukünftig aus Hamburg in das Hamburger Umland ziehen, ihre alte Schule weiterhin besuchen dürfen. Für andere Schüler werde versucht, „grundsätzlich den Schulbesuch im eigenen Land zu ermöglichen”, was kein klares „Nein” und kein klares „Ja” bedeutet — bei der freien Schulwahl ist der FDP-Bildungsminister also nicht sehr liberal. Neben persönlichen Härtefällen gibt es vier Teilbereiche von Schülern aus Schleswig-Holstein, denen weiterhin der Schulbesuch in Hamburg erlaubt werden soll:
- Schülerinnen und Schüler der Gemeinde Barsbüttel dürfen bis zur allgemeinen Hochschulreife (staatliche) Hamburger Gymnasien besuchen.
- Hamburger Sonderschulen für Menschen mit Behinderung werden bis zu 150 Plätze für Schleswig-Holsteiner bereitstellen.
- Hamburger Privatschulen sollen uneingeschränkt Schleswig-Holsteiner aufnehmen dürfen (Privatschulen sind „Schulen in freier Trägerschaft”, also gilt dies auch für die oben angesprochenen Waldorf-, Montessori- und konfessionellen Schulen).
- Schulpflichtige Kinder dürfen Hamburgs berufsbildende Schulen besuchen, wenn sie vorher vom Land Schleswig-Holstein eine Freigabe dafür erhalten haben. Die gibt es, wenn sonst der Schulweg zur schleswig-holsteinischen Schule deutlich länger als zur Hamburger Schule wäre.
Interessant ist zudem, dass Bildungsminister Dr. Klug die Umlandgemeinden, aus denen Gastschüler kommen, zukünftig an den Schulkosten beteiligen will. Sowohl beim Besuch einer privaten als auch einer staatlichen Schule sollen dann „Schulträgerkosten” an das Land gezahlt werden. Dies ist natürlich sinnvoll, da es solch ein Abkommen auch zwischen Schleswig-Holsteins Gemeinden gibt.
Reaktionen von Schleswig-Holsteins Politikern sind auch zahlreich zu hören, so nennt Ellen Streitbörger (Die Linke) das Abkommen „unsozial” und erteilt Dr. Klugs Kompromissfähigkeit die Note „mangelhaft”; Martin Habersaat (SPD) will lieber noch auf „unangenehme Überraschungen im Weihnachtspaket” warten, bevor er die Sektkorken knallen lässt. Die CDU- und FDP-Fraktionen sehen den Verhandlungserfolg vor allem in der Tatsache, dass in Hamburg die Grünen nicht mehr an der Macht sind: „Kaum sind die Grünen in Hamburg aus der Regierungsverantwortung, schon gibt es eine gute Lösung für unsere Gastschüler”.
Glücklicherweise konnten sich die beiden Länder so kurz vor Jahresende noch einigen, und ihren Schulen und Schülern damit die Planungs- und Rechtssicherheit geben, die sie suchten. Nun können auch die Wandsbeker Waldorfschüler und -Eltern ihre Mahnwache vor dem Landeshaus nach 16 Tagen, 6 Stunden, 48 Minuten, 19 Sekunden beenden und sich wieder in Ruhe auf die Weihnachtsferien freuen.
Update 10.12.2010
Das im Kopf dieser Seite verwendete Bildmontage gehört dem Aktionsbündnis Gastschulabkommen. Wir danken Herrn Peter Bickel von dem Aktionsbündnis für die (nachträgliche) Erlaubnis, es benutzen zu dürfen. Wir bitten um Entschuldigung, nicht schon vor der Veröffentlichung nachgefragt zu haben. Zu dem Aktionsbündnis gehört auch die lesenswerte Seite http://schuleohnegrenzen.de
*Als ich vor zwei Monaten als Besucher im Bildungsausschuss saß, fand ich es schon erstaunlich, dass der Bildungsminister nicht von den Jugendämtern in Erfahrung bringen konnte, wie viele Hamburger Jugendliche denn nun in SH aufgenommen seien — der Streit um das Abkommen lief zu diesem Zeitpunkt ja bereits 1 1/2 Jahre.
** Angabe der Mahnwache, also der Vertreter Waldorfschule in Wandsbek. Die 20 Prozent gelten für diese Schule, andere Zahlen habe ich momentan nicht vorliegen.
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