Seid aber Täter des Worts und nicht Hörer allein, wodurch ihr euch selbst betrügt. Jakobus 1, 22
Gestern haben einige regionale Politiker angekündigt, einem ziemlich bescheuerten Gesetz zuzustimmen, das damit in etwa einem Monat in Kraft treten wird.
Wer glaubt, dass ich mit diesem Satz allein den Vierzehnten Staatsvertrag zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge beschreibe, ist ein naiver Mensch.
Ende 2009 gab es in Deutschland 1.924 Gesetze und 3.440 Verordnungen mit insgesamt 76.382 Artikeln und Paragraphen. Die Fülle der Ländergesetze und EU-rechtlichen Vorschriften sind da noch nicht mal mitgezählt. Und jedes Jahr werden hunderte von diesen Gesetzen geändert. Und zu fast jedem kann man dieser oder jener Meinung sein. Und das ist gut so. Und noch mal hunderte von diesen Gesetzen werden nicht geändert. Und zu vielen dieser Nichtänderungen kann man dieser oder jener Meinung sein. Und das ist gut so. Und bei massenhaft dieser nicht geänderten, geänderten, erlassenen oder aufgehobenen Vorschriften rufen nicht wenige Menschen in dieser Republik: Ihr tickt ja wohl nicht richtig; Ihr habt ja keine Ahnung von der Sache; Das gefährdet die Zukunft der [Jugend|Moral|Gesellschaft|Wirtschaft|Kleingärten]. Und wenn man sich die Dinge ohne Parteibrille, mit ein wenig Abstand und gesundem Menschenverstand dann anschaut, dann stellt man häufig genug fest: „Ein Dokument des Irrsinns in Deutschlands Politik“.
Soweit, so richtig. Soweit, so alltäglich banal.
Vielen Politikern mangelt es auch heute anscheinend — das kann man wohl ohne größere Untersuchungen in den Raum rufen — immer noch an dem, was Max Weber ihnen als entscheidende psychologische(sic!) Qualität abverlangte: Augenmaß, die Fähigkeit, die Realitäten mit innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu lassen, also: Distanz zu den Dingen und Menschen. Überhaupt ließe sich mit Webers „Politik als Beruf“ ohne viel Aufwand dem gestrigen Sturm der Empörung gegen die Entscheidung der Grünen Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen, aus „parlamentarischen Zwängen“ heraus eine bestimmte Entscheidung zu treffen, aufs Einfachste eine argumentative Basis gegen diese Art der Politik geben. Auch der so gern zitierte Tweet der Grünen:
ist „ein Dokument des Irrsinns in Deutschlands Politik“.
Aber darum geht es mir jetzt nicht. Sie, nicht nur die Grünen in NRW, sind für ihre Dummheit selbst verantwortlich und müssen mit der Folge rechnen: Wähler und Sympathisanten sind vor den Kopf gestoßen, wenden sich ab, bündeln sich neu, suchen andere Verbündete. Das werden die grünen Akteure am Rhein auch gewusst haben. Sie sind ja vielleicht dumm, aber nicht blöd. Sie werden ihre Entscheidung, im besten Fall, in Distanz zu den Dingen und Menschen gefällt haben. Diese Distanz dürfen Politiker nicht nur, sie müssen sie sogar haben. Auch gegenüber der Netzgemeinde. Denn die Todsünde „Distanzlosigkeit“ ist, wieder Weber: „eine jener Qualitäten, deren Züchtung bei dem Nachwuchs unserer Intellektuellen sie zu politischer Unfähigkeit verurteilen wird. Denn das Problem ist eben: wie heiße Leidenschaft und kühles Augenmaß miteinander in derselben Seele zusammengezwungen werden können?“
Wir, die Netzgemeinde, die Kritiker des JMStV werden damit leben müssen. Und wir werden damit leben. Den Kopf in den Sand zu stecken, kann die Antwort nicht sein. Denn das, was ich von Politikern erwarte, erwarte ich auch von mir und jedem anderen politisch interessierten: Distanz zu den Parteien und Politikern. Und zwar nicht, indem ich mich fernhalte, sondern als Gegenpol zur Distanzlosigkeit. Wer jetzt, wie der wütende Thomas Knüwer, ruft: „Ich gehe nicht mehr wählen“, ist draußen aus dem Spiel. Er will nicht mehr mitmachen und das heißt auch: Er will nicht mehr Kritik üben, er will sich zukünftig seiner Stimme enthalten, nicht nur am Wahltag, sondern auch als Zwischenrufer. Ihm geht jeder Anspruch aufs zuhören ab. Das ruft man in aufgeregter Wut. Dann ist aber auch gut. Dann denkt man am nächsten Tag einmal drüber nach und stellt fest, dass das nicht seine Meinung ist.
Nein, Politikern ohne inneres Schwergewicht und ethisches Gewissen straft man nicht durch „macht ohne mich weiter“ sondern mit Luther: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“. Lasst uns das auch weiterhin als Aufruf nicht nur zum Beziehen eines Standpunktes sondern auch zum aktiven Handeln verstehen. Denn dem Wort müssen Taten folgen. Und nicht mehr wählen zu gehen ist keine Tat, sondern eine Verweigerung. Die Antwort muss sein: Unsere Überzeugungsarbeit fortsetzen, denn auch Staatsverträge sind, wie Parlamentsmehrheiten oder -zugehörigkeit, nicht für die Ewigkeit gemacht.
Pingback: Netizens Mainstream « RITINARDO
Das schöne an der Distanz: Es gibt einem die Möglichkeit eine Nacht in Ruhe zu schlafen, sich die Dinge noch mal gründlich und in Ruhe durchzulesen (Dinge=Gesetze, nicht Drittberichterstattung). Seine eigene Interpretation gegen andere Interpretationen zu validieren und dann hat sich häufig schon viel Aufregung gelegt.
Zweiter Vorteil der Distanz: Man kann in Ruhe die Prozesse der Gesetzesentstehung und die Beteiligten anschauen und schauen, warum sich seine Meinung nicht durchgesetzt hat und warum zum Beispiel eine Partei sich manchmal anders verhält/verhalten muss, als eine Fraktion.
Vieles, was ich an dem Unmut sehe ist:
a) Fehlende Distanz / Kenntnis des Gesetzesinhalts im Wortlaut
b) Fehlendes Verständnis für politische Prozesse
Aber natürlich kann man es trotzdem blöd finden und dagegen sein. Nur die Menge an Kurzschlussreaktionen zeigt, dass hier die Distanz fehlte.
Vielleicht sollte sich Knüwer ein WordPress-Plugin installieren, das für ihn bis 10 zählt, bevor er losschreiben kann ;-)
Das Zählen dürfte dann aber nicht so schnell gehen. „Macht ohne mich weiter” gibt denen, die man für unfahig hält, einen Freifahrschein. Besser man mischt sich ein. Das hilft aber nichts, wenn das nur in der virtuellen Welt geschieht. Die Entscheidungen, auch die, die man falsch findet, werden im wirklichen Leben gefällt und von den Parteien vorbereitet. Dort ist der Platz um den Lauf der Dinge zu beeinflussen. Wer aber glaubt, dass er alleine den Gang bestimmen kann, den ein Gesetz gehen muss, der wird sehr schnell frustriert werden. Wenn man erst mal begriffen hat, dass es auch andere Sichtweisen und „Wahrheiten” gibt als die eigenen, wird mit Ruhe und Gelassenheit daran arbeiten können, die eigenen Ideen durchzusetzen. „Alle blöd außer ich!” hilft jedenfalls nicht.
Rudolf Riep
Pingback: kaffeeringe.de