Die Bündnis-Grünen und die SPD in Schleswig-Holstein festigen ihr Verhältnis zum Protest als wichtiger Ressource politischer Willensbildung. Dies machten Robert Habeck, Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen im Schleswig-Holsteinischen Landtag, und Ralf Stegner, sein Amtskollege auf Seiten der SPD, am 24. Juni 2011 im Rahmen einer Veranstaltung in Bad Malente deutlich. Zwar unterscheiden sich die beiden Parteien deutlich in der Art, wie der durch unterschiedliche Protestformen von außen an sie herangetragene Diskussionsdruck in die Parteiarbeit einfließen soll. Grundsätzlich aber steht für Rot wie für Grün fest, dass ein wie auch immer gearteter Protest keine Spielwiese außerhalb der Politik mehr sein kann.
Einfluss vs. Element
Die größte Differenz zwischen den beiden Parteien betrifft naturgemäß die Frage, wie direkt geäußerte Wählermeinung mit den Parteizielen verschränkt werden kann und soll. Robert Habeck formulierte für die Bündnis-Grünen den Willen, Protest unmittelbar in Punkte der Parteiagenda ummünzen zu wollen. Ralf Stegner von der SPD hingegen stand dem außerparlamentarisch geäußerten Bürgerwillen deutlich distanzierter gegenüber. Für seine Partei sei Protest ein Teil des gesellschaftlichen Umfeldes, machte er klar, und wirke über dieses auf die Mehrheitsbildung innerhalb der Partei ein.
Ist dem einen Protest so ein Element der Politik, ist es für den anderen Einflussfaktor auf die Politik. Besonders Habeck kam es dabei darauf an, Bürger und Bürgerinnen möglichst früh in Entscheidungsprozesse einzubinden. Zwar gäbe es mittlerweile umfangreiche Beteiligungsverfahren, doch führten diese in ihrer Struktur immer noch dazu, dass „man sich erst nach Abschluss des Verfahrens vor Gericht sieht“. Hier seien neue Wege zu finden. Auch müsse man sich seiner Ansicht nach darüber im Klaren sein, dass man Expertenmeinungen nicht dazu benutzen könne, um über den Bürgerwillen hinwegzugehen. „Wenn Menschen sich von Stromleitungen bedroht fühlen“, so Habeck, „dann müssen wir das ernst nehmen und danach entscheiden – auch wenn Experten Beeinträchtigungen durch die Strahlung von Hochspannungsleitungen nicht nachweisen können“.
„Links“ war gestern
Die Gelegenheit für diese Bekenntnisse war ebenso günstig wie ungewöhnlich. Im Rahmen eines fünftägigen Seminars der Gustav-Heinemann-Bildungstätte/Bad Malente in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung waren die beiden Fraktionsvorsitzenden zu einer abschließenden Diskussionsrunde mit den Teilnehmern eingeladen.
Obwohl die Gesprächsrunde unter dem Titel „Linke Projekte in der Zukunft“ stand, wurde sehr schnell deutlich, dass Protest erstens keine „linke“ Ausdrucksform mehr ist und zweitens ebenso wie er viele der klassischerweise mit dem Begriff „links“ assoziierten Vorstellungen und Forderungen inzwischen als in der Mitte der Gesellschaft angekommen betrachtet werden dürfen.
Auf dem Hintergrund dieser Feststellung sahen sich Habeck und Stegner denn auch mit den Wurzeln jener Protestkultur konfrontiert, wie sie vor allem das Bild der Auseinandersetzung um das Großprojekt „Stuttgart 21“ bestimmt hat: den als intransparent empfundenen politischen Entscheidungswegen und einer von Bürgerseiten diagnostizierten Ignoranz von Politik gegenüber offenkundig artikulierte Mehrheitswillen.
Der Wunsch – wobei der anstehende Landtagswahlkampf und der Wahlerfolg der Bündnis-Grünen in Baden-Württemberg sicher schon eine Rolle gespielt haben dürften –, sich in diesen Fragen deutlich und bürger- beziehungsweise wählernah positionieren zu wollen, dürfte letzten Endes für die Klarheit der Aussagen von Stegner und Habeck verantwortlich gewesen sein. Die Notwendigkeit mag dadurch verstärkt worden sein, dass sich aus den persönlichen Vorstellungen zahlreicher fragender Teilnehmer ihr gesellschaftliches Engagement und eine deutliche Multiplikatorenwirkung ableiten ließen.
Neue Medien im Parteiblick
Fast nebenbei wurden auf der Veranstaltung auch die unterschiedlichen Ansichten der beiden Politiker über die neuen Medien deutlich. Während Internet, facebook & Co. für den Bündnis-Grünen Robert Habeck offenbar schlicht Teil seines Alltags sind, sprach SPD-Mann Ralf Stegner bei der Frage danach, wie sich Themen heute öffentlich diskutieren lassen, von einer „virtuellen 24-Stunden-Welt an 365 Tagen“, die Zeichen einer „Degeneration der Medienwelt“ sei, in der sich kaum noch etwas „skandalisieren lasse“.
Im Anschluss an die Diskussion stellte sich Robert Habeck den Fragen des Landesblogs zum Protestverständnis der Grünen im Detail, zu neuen Demokratieformen und der grünen Interpretation aktueller Fragen der Landespolitik.