Über das Verwenden von Zahlen in der politischen Argumentation

Von | 17. Februar 2012

Es gibt Menschen, die haben einen Blick für Dinge, der ihre Mitarbeiter in den schie­ren Wahnsinn trei­ben kann. Claus Möller ist so einer. Ich wur­de, als er 1993 zum Minister für Finanzen und Energie ernannt wur­de, der Leiter sei­nes Ministerbüros, spä­ter eine Zeitlang sein Pressesprecher. Zahlen sind nicht so mein Ding. Ich füh­le sie eher, als dass ich mit ihnen rech­ne. Claus aber konn­te einen eben­so kom­ple­xen wie sei­ten­lan­gen Vorgang in die Hand neh­men, schein­bar plan­los durch­blät­tern und dann unver­mit­telt den Pressesprecher oder den Haushaltsreferenten anschau­en und mit gespiel­ter Empörung sagen: „Das kann nicht sein, das müs­sen 14,7 sein. Frag mal Jochen. Das kann nicht stim­men. Das wer­de ich Heide so nicht sagen.“ Dann bekam man den Vorgang wie­der in die Hand gedrückt und wenn man Glück hat­te, war der Haushaltsreferent schon am Rechnen und sag­te nach 2 Minuten: „Mist. Ja. Stimmt: 14,7.“ Claus Möller konn­te mit Zahlen umge­hen. Ich blieb, weil ich nicht so mit Zahlen umge­hen kann, bei die Vorstellung, irgend­wann ein­mal eine Haushaltsrede eines Finanzministers zu hören, in der kei­ne ein­zi­ge Zahl vor­kommt. Das wäre mal was.

Der Umgang mit Zahlen erfor­dert Instinkt und Virtuosität.
Man muss etwa wis­sen, ob man das Wahrheitsmonopol über die Zahl hat. Weil man sie zum Beispiel selbst aus­ge­rech­net hat – und nie­mand anders das kann: „Die Regionalisierung der bun­des­wei­ten Steuerschätzung unter Berücksichtigung der spe­zi­el­len schles­wig-hol­stei­ni­schen Gegebenheiten lässt den Schluss zu, dass wir in 20XX mit Einnahmen in Höhe von 4,8 Milliarden Euro rech­nen kön­nen – nach LFA“. Das hört sehr pro­fes­sio­nell an Das erleich­tert viel.
Oder die Zahl ist so offen­sicht­lich, dass man über ihre Absolutheit nicht strei­ten kann: „Die ver­fas­sungs­recht­li­che Kreditobergrenze liegt heu­er bei 104 Millionen Euro. Hinzu kom­men Restkreditermächtigungen aus dem Vorjahr über 24 Millionen Euro. Das sind zusam­men 128 Millionen Euro. Rücklagen in Höhe von wei­te­ren 32 Millionen noch nicht berück­sich­tigt “ Diese (in Echt: erfun­de­nen) Zahl sind alle rich­tig. Ob es rich­tig ist, die­ses Volumen aus­zu­schöp­fen (oder ob man die Zahlen über­haupt zusam­men­zäh­len soll­te) ist eine ande­re Frage – mit Vehemenz vor­ge­tra­gen, kommt viel­leicht kei­ner mehr auf die Idee, das Logikgerüst in Frage zu stel­len, son­dern kon­zen­triert sich dar­auf, 128 und 32 zusam­men­zu­zäh­len.

Schwierig wird es, wenn mit einer Zahl ein vor­herr­schen­des Vorurteil erschüt­tert wer­den soll. Wenn es dar­um geht, Menschen auf­zu­rüt­teln und sie dazu bewe­gen möch­te, eine ande­re Sichtweise zu ver­su­chen. Zum Beispiel glau­ben wir alle, dass es kei­ne Ausbildungsplatzkrise gibt. Wir hören von den Demographen immer wie­der, dass die Zahl der Schulabgänger sinkt und wei­ter sin­ken wird. Wir hören von den Kammern, dass die Zahl der qua­li­fi­zier­ten Bewerber rück­läu­fig ist, dass die Betriebe hän­de­rin­gend Schulabgänger hofie­ren. Wir hören von Arbeitgeberpräsidenten, dass wir uns dar­auf ein­stel­len müs­sen, ein Einwanderungsland zu wer­den, um genü­gend Bewerber für die zu beset­zen­den Ausbildungs-, Studien- und Arbeitsplätze zu haben.
Wir hören eher nicht, dass am unte­ren Rande unse­rer Gesellschaft der­weil dra­ma­ti­sches pas­siert. Dabei wis­sen wir spä­tes­tens seit PISA, dass wir unver­schämt vie­le Schulabgänger haben, die auf­grund ihrer Bildungsschwächen auf Dauer vom regu­lä­ren Arbeitsmarkt und von der gesell­schaft­li­chen Teilhabe in unse­rem Land aus­ge­schlos­sen sind. Auch und beson­ders hier in Schleswig-Holstein. Ich hat­te erst vor ein paar Tagen auf die Zahl der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss in Schleswig-Holstein hin­ge­wie­sen, die seit den 1990er Jahre in unse­rem Land weit über dem Durchschnitt der Länder liegt und sich erst in den letz­ten Jahren bes­ser­te. Hier zu han­deln ist wich­tig.

Anteil der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss (nach Beendigung der Vollzeitschulpflicht) in Prozent

Anteil der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss (nach Beendigung der Vollzeitschulpflicht) in Prozent

Auch bei den Ausbildungsplätzen sieht es, wenn wir genau hin­schau­en, dif­fe­ren­zier­ter aus:

Seit Beginn des Berichtsjahres gemel­de­te Bewerber in Schleswig-Holstein für Berufsausbildungsstellen nach der Art des Verbleibs jeweils zum 30.09
Art des Verbleibs

2008/​09


2009/​10


2010/​11


Insgesamt

14.553


15.582


16.253


Schule/​Studium/​Praktikum

1.523


1.699


1.886


- Schulbildung

1.090


1.271


1.432


- Studium

117


150


165


- Berufsvorbereitendes Jahr

*


5


*


- Berufsgrundbildungsjahr

*


24


*


- Praktikum

308


249


264


Berufsausbildung/​Erwerbstätigkeit

7.996


8.847


9.538


- Berufsausbildung unge­för­dert

6.072


6.751


7.525


- Berufsausbildung geför­dert

1.296


1.421


1.263


- Erwerbstätigkeit

628


675


750


Gemeinnützige/​soziale Dienste

266


250


373


- Bundeswehr/​Zivildienst

129


94


66


- Freiwilliges soziales/​ökologisches Jahr

137


156


307


Fördermaßnahmen

1.641


1.580


1.128


- Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen

1.044


1.067


709


- Berufsvorbereitende Bildungsmaßn. — Reha

10


*


*


- Einstiegsqualifizierung Jugendlicher

285


261


244


- sons­ti­ge Förderung

302


245


163


- sons­ti­ge Reha-Förderung

-


*


*


ohne Angabe eines Verbleibs

3.127


3.206


3.328


Quelle: Statistik Arbeitsagentur

Von den (2010/​11) gemel­de­ten 16.253 Bewerbern (zu den Bewerbern gehö­ren z.B. auch die die unver­sorg­ten aus Vorjahren) sind immer­hin 1.263 „nur“ in geför­der­ten Berufsausbildungen unter­ge­kom­men und wei­te­re 1.128 sind in ver­schie­de­nen Fördermaßnahmen, die in der Regel nicht zu einem qua­li­fi­zier­ten Ausbildungsabschluss füh­ren. Jeder Siebte (14,7 Prozent) fand also kei­nen „nor­ma­len“ Ausbildungsplatz. Wir kön­nen ver­mu­ten, dass in die­ser Gruppe der Anteil der Hauptschüler (und der­je­ni­gen ohne Hauptschulabschluss) hoch sein wird. Und es wird regio­nal zu nega­ti­ven Spitzenbelastungen kom­men. Das ist ein Makel, den man ankla­gen kann. Wichtiger: Das ist ein Handlungsfeld, in dem Politik gefor­dert ist. Denn es ist Aufgabe der (Landes)Politik, den Anteil der Jugendlichen mit Bildungsdefiziten zu mini­mie­ren. Das schul­den wir in ers­ter Linie den Menschen und in zwei­ter Linie der Gesellschaft.

Man darf aber nicht die Lebenswirklichkeit ver­ken­nen: In bis zu 95 Prozent der Fälle kom­men poli­ti­sche Aussagen falsch rüber, wenn man mit miss­ver­ständ­li­chen Zahlen in BILD-Zeitungsinterviews arbei­tet. Das muss sich ändern!

Von:

Swen Wacker, 49, im Herzen Kieler, wohnt in Lüneburg, arbeitet in Hamburg.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert