Es gibt Menschen, die haben einen Blick für Dinge, der ihre Mitarbeiter in den schieren Wahnsinn treiben kann. Claus Möller ist so einer. Ich wurde, als er 1993 zum Minister für Finanzen und Energie ernannt wurde, der Leiter seines Ministerbüros, später eine Zeitlang sein Pressesprecher. Zahlen sind nicht so mein Ding. Ich fühle sie eher, als dass ich mit ihnen rechne. Claus aber konnte einen ebenso komplexen wie seitenlangen Vorgang in die Hand nehmen, scheinbar planlos durchblättern und dann unvermittelt den Pressesprecher oder den Haushaltsreferenten anschauen und mit gespielter Empörung sagen: „Das kann nicht sein, das müssen 14,7 sein. Frag mal Jochen. Das kann nicht stimmen. Das werde ich Heide so nicht sagen.“ Dann bekam man den Vorgang wieder in die Hand gedrückt und wenn man Glück hatte, war der Haushaltsreferent schon am Rechnen und sagte nach 2 Minuten: „Mist. Ja. Stimmt: 14,7.“ Claus Möller konnte mit Zahlen umgehen. Ich blieb, weil ich nicht so mit Zahlen umgehen kann, bei die Vorstellung, irgendwann einmal eine Haushaltsrede eines Finanzministers zu hören, in der keine einzige Zahl vorkommt. Das wäre mal was.
Der Umgang mit Zahlen erfordert Instinkt und Virtuosität.
Man muss etwa wissen, ob man das Wahrheitsmonopol über die Zahl hat. Weil man sie zum Beispiel selbst ausgerechnet hat – und niemand anders das kann: „Die Regionalisierung der bundesweiten Steuerschätzung unter Berücksichtigung der speziellen schleswig-holsteinischen Gegebenheiten lässt den Schluss zu, dass wir in 20XX mit Einnahmen in Höhe von 4,8 Milliarden Euro rechnen können – nach LFA“. Das hört sehr professionell an Das erleichtert viel.
Oder die Zahl ist so offensichtlich, dass man über ihre Absolutheit nicht streiten kann: „Die verfassungsrechtliche Kreditobergrenze liegt heuer bei 104 Millionen Euro. Hinzu kommen Restkreditermächtigungen aus dem Vorjahr über 24 Millionen Euro. Das sind zusammen 128 Millionen Euro. Rücklagen in Höhe von weiteren 32 Millionen noch nicht berücksichtigt “ Diese (in Echt: erfundenen) Zahl sind alle richtig. Ob es richtig ist, dieses Volumen auszuschöpfen (oder ob man die Zahlen überhaupt zusammenzählen sollte) ist eine andere Frage – mit Vehemenz vorgetragen, kommt vielleicht keiner mehr auf die Idee, das Logikgerüst in Frage zu stellen, sondern konzentriert sich darauf, 128 und 32 zusammenzuzählen.
Schwierig wird es, wenn mit einer Zahl ein vorherrschendes Vorurteil erschüttert werden soll. Wenn es darum geht, Menschen aufzurütteln und sie dazu bewegen möchte, eine andere Sichtweise zu versuchen. Zum Beispiel glauben wir alle, dass es keine Ausbildungsplatzkrise gibt. Wir hören von den Demographen immer wieder, dass die Zahl der Schulabgänger sinkt und weiter sinken wird. Wir hören von den Kammern, dass die Zahl der qualifizierten Bewerber rückläufig ist, dass die Betriebe händeringend Schulabgänger hofieren. Wir hören von Arbeitgeberpräsidenten, dass wir uns darauf einstellen müssen, ein Einwanderungsland zu werden, um genügend Bewerber für die zu besetzenden Ausbildungs-, Studien- und Arbeitsplätze zu haben.
Wir hören eher nicht, dass am unteren Rande unserer Gesellschaft derweil dramatisches passiert. Dabei wissen wir spätestens seit PISA, dass wir unverschämt viele Schulabgänger haben, die aufgrund ihrer Bildungsschwächen auf Dauer vom regulären Arbeitsmarkt und von der gesellschaftlichen Teilhabe in unserem Land ausgeschlossen sind. Auch und besonders hier in Schleswig-Holstein. Ich hatte erst vor ein paar Tagen auf die Zahl der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss in Schleswig-Holstein hingewiesen, die seit den 1990er Jahre in unserem Land weit über dem Durchschnitt der Länder liegt und sich erst in den letzten Jahren besserte. Hier zu handeln ist wichtig.
Auch bei den Ausbildungsplätzen sieht es, wenn wir genau hinschauen, differenzierter aus:
Seit Beginn des Berichtsjahres gemeldete Bewerber in Schleswig-Holstein für Berufsausbildungsstellen nach der Art des Verbleibs jeweils zum 30.09Art des Verbleibs | 2008/09 | 2009/10 | 2010/11 |
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Insgesamt | 14.553 | 15.582 | 16.253 |
Schule/Studium/Praktikum | 1.523 | 1.699 | 1.886 |
- Schulbildung | 1.090 | 1.271 | 1.432 |
- Studium | 117 | 150 | 165 |
- Berufsvorbereitendes Jahr | * | 5 | * |
- Berufsgrundbildungsjahr | * | 24 | * |
- Praktikum | 308 | 249 | 264 |
Berufsausbildung/Erwerbstätigkeit | 7.996 | 8.847 | 9.538 |
- Berufsausbildung ungefördert | 6.072 | 6.751 | 7.525 |
- Berufsausbildung gefördert | 1.296 | 1.421 | 1.263 |
- Erwerbstätigkeit | 628 | 675 | 750 |
Gemeinnützige/soziale Dienste | 266 | 250 | 373 |
- Bundeswehr/Zivildienst | 129 | 94 | 66 |
- Freiwilliges soziales/ökologisches Jahr | 137 | 156 | 307 |
Fördermaßnahmen | 1.641 | 1.580 | 1.128 |
- Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen | 1.044 | 1.067 | 709 |
- Berufsvorbereitende Bildungsmaßn. — Reha | 10 | * | * |
- Einstiegsqualifizierung Jugendlicher | 285 | 261 | 244 |
- sonstige Förderung | 302 | 245 | 163 |
- sonstige Reha-Förderung | - | * | * |
ohne Angabe eines Verbleibs | 3.127 | 3.206 | 3.328 |
Quelle: Statistik Arbeitsagentur
Von den (2010/11) gemeldeten 16.253 Bewerbern (zu den Bewerbern gehören z.B. auch die die unversorgten aus Vorjahren) sind immerhin 1.263 „nur“ in geförderten Berufsausbildungen untergekommen und weitere 1.128 sind in verschiedenen Fördermaßnahmen, die in der Regel nicht zu einem qualifizierten Ausbildungsabschluss führen. Jeder Siebte (14,7 Prozent) fand also keinen „normalen“ Ausbildungsplatz. Wir können vermuten, dass in dieser Gruppe der Anteil der Hauptschüler (und derjenigen ohne Hauptschulabschluss) hoch sein wird. Und es wird regional zu negativen Spitzenbelastungen kommen. Das ist ein Makel, den man anklagen kann. Wichtiger: Das ist ein Handlungsfeld, in dem Politik gefordert ist. Denn es ist Aufgabe der (Landes)Politik, den Anteil der Jugendlichen mit Bildungsdefiziten zu minimieren. Das schulden wir in erster Linie den Menschen und in zweiter Linie der Gesellschaft.
Man darf aber nicht die Lebenswirklichkeit verkennen: In bis zu 95 Prozent der Fälle kommen politische Aussagen falsch rüber, wenn man mit missverständlichen Zahlen in BILD-Zeitungsinterviews arbeitet. Das muss sich ändern!