Warum man sich im Bundesrat grundsätzlich nicht enthalten kann, manchmal aber doch. Und warum Bundesratsdinge nicht in den Landtag gehören.
Der Landtag diskutierte gestern (25. Januar) das sogenannte Kooperationsverbot, das seit 2006 im Grundgesetz verankert ist und die (Mit)Finanzierung von Schule, Forschung und Lehre aus dem Bundeshaushalt verhindert. In fast jeder Rede wurde darauf hingewiesen, dass das Land sich seinerzeit bei der Aufnahme des Verbotes ins Grundgesetz im Bundesrat enthalten habe. Weil ich privat darauf angesprochen wurde, dass das nicht stimmen könne – man könne sich im Bundesrat nicht enthalten – hier eine kurze Erklärung:
Ja, man kann sich in Bundesrat grundsätzlich nicht enthalten. „Grundsätzlich“ ist ein wichtiges Wort. Man kann sich nämlich im Bundesrat doch enthalten. Aber nur manchmal.
Der Bundesrat ist eine ehrwürdige Veranstaltung. Wer mal die Gelegenheit hat, eine Sitzung zu besuchen, der sollte das unbedingt tun. Das ist ganz was anderes als der „normale“ Parlamentsbetrieb. Wenn es im Bundesrat so richtig hoch her geht, dann hat ein Zuschauer, der mit der rasanten Schnittfolge von Musikvideos groß geworden ist, allenfalls das Gefühl, jemand hätte die Slowmotion-Taste des DVD-Players gedrückt. Reden werden in der Regel vorgelesen, Applaus gibt es nicht, Zwischenrufe sind verpönt.
Genauso gewöhnungsbedürftig ist das Abstimmungsverhalten. Während im normalen Parlamentsbetrieb das Präsidium nach Zustimmung, Ablehnung und Enthaltung fragt und für das Protokoll zudem festgehalten wird, wie die Fraktionen votiert haben, wird im Bundesrat eine positiv formulierte Frage zur Abstimmung gestellt:
„Ich frage: Wer stimmt dem Gesetz zu? – Das ist die Mehrheit.“
oder
„Wer entsprechend Ziffer 1 dafür ist, den Verordnungsentwurf der Bundesregierung zuzuleiten, den bitte ich um das Handzeichen. – Das ist eine Minderheit. Damit wird der Verordnungsentwurf entsprechend Ziffer 2 der Ausschussempfehlungen der Bundesregierung nicht zugeleitet.“
Es werden nur die (gewichteten) Stimmen der Länder, die der Frage zustimmen, gezählt. Ein Land stimmt zu, indem die/der „Stimmführer/in“, das ist ein Mitglied der Landesregierung, seine/ihre Hand hebt.
Bislang ist da also kein Platz für eine Enthaltung. Wer nicht zustimmt, ist faktisch dagegen. Zwischen einem „gewollten“ Nein oder einer „gewollten“ Enthaltung gibt es keinen im nachhinein erkennbaren Unterschied.
Aber ich hatte ja von „grundsätzlich“ gesprochen. Es gibt also Ausnahmen. Zum Beispiel, wenn ein Land das so will oder wenn das zu beschließende Gesetz die Verfassung ändern würde. Dann werden die Länder einzeln aufgerufen und der Stimmführer ruft Zustimmung, Ablehnung oder Enthaltung. Und das steht dann im Plenarprotokoll. Und deshalb steht im Protokoll der 824. Sitzung des Bundesrates am 7. Juli 2006 auf der Seite 222.
„Über Grundgesetzänderungen pflegen wir durch Aufruf der einzelnen Länder abzustimmen. Ich bitte, die Länder aufzurufen.
Karin Schubert (Berlin), Schriftführerin:
Baden-Württemberg Ja
Bayern Ja
Berlin Ja
Brandenburg Ja
Bremen Ja
Hamburg Ja
Hessen Ja
Mecklenburg-Vorpommern Nein
Niedersachsen Ja
Nordrhein-Westfalen Ja
Rheinland-Pfalz Ja
Saarland Ja
Sachsen Ja
Sachsen-Anhalt Ja
Schleswig-Holstein Enthaltung
Thüringen Ja”
Also: Schleswig-Holstein hat sich enthalten.
Alle hier verwendeten Zitate stammen aus diesem Bundesrats-Protokoll.
Weisungsrecht für den Landtag in Bundesratsangelegenheiten?
Wo ich gerade dabei bin, will ich noch ein Wort über die im Landtag heute ebenfalls mehrfach erhobene Forderung verlieren, der Landtag bräuchte ein Weisungsrecht gegenüber der Landesregierung in Bundesratsangelegenheiten. Das stand auch in dem jüngst hier im Landesblog diskutierten Papier zur Parlamentsreform. Ich hatte die Forderung schon in diesem Artikel kritisiert und möchte das gern noch einmal ausführlicher begründen:
Zunächst ist das Weisungsrecht nicht nötig, da ein Landtag schon heute nicht daran gehindert wäre, „seine/n“ Ministerpräsidenten/in durch jemand anders zu ersetzen, wenn er oder sie bei einer Abstimmung im Bundesrat nicht gespurt hat und dadurch sein Verhältnis zum Landtag zerrüttet ist.
Grundsätzlich können wir unterstellen, dass zwischen Landesregierung und Parlamentsmehrheit ein Grundkonsens über die Politik und die Interessen des Landes besteht. Wir können also unterstellen, dass der „Überlebenstrieb“ einer Landesregierung stets dazu führt, dass sie sich im praktischen Handeln keine Blöße gegenüber der (häufig allenfalls zu vermutenden) Meinung der Landtagsmehrheit gibt.
Für ein solches Recht müsste zudem das Grundgesetz geändert werden und dafür ist, wohl auch aus den eben genannten Gründen, eine Mehrheit nicht mal am Horizont erkennbar.
Auch pragmatische Gründe sprechen dagegen.
Der Bundesrat tagt freitags in einem dreiwöchentlichen Rhythmus. Seine Tagesordnung steht erst am Dienstag vor der Sitzung endgültig fest. Fast, denn sie ist, auch wegen der engen Anbindung mit dem Sitzungsrhythmus des „Hauptlieferanten“ Bundestag, häufig mit kurzfristigen Ergänzungen gesegnet. Auf der Tagesordnung stehen gut und gerne 80 oder mehr Punkte, die in der Regel von den Ausschüssen des Bundesrates intensiv und traditionell kontrovers diskutiert wurden. Die Kontroversen begründen sich aus den bewusst unabgestimmt vertretenen Partikularinteressen der beteiligten Ausschüsse – was ein Innen- und Rechtsausschuss für fachlich richtig und wichtig hält, kann ein Finanzausschuss mangels Knete voller Inbrunst ablehnen. Die Meinungsvielfalt in den Ausschüssen des Bundesrates wird erst kurz vor der Sitzung in sogenannten Strichdrucksachen zusammengeführt. Die Kunst der Erstellung solcher Papiere ist hoch; die Verfasser können nach meiner Meinung auch im diplomatischen Dienst oder bei der UNO erfolgreich arbeiten. Die Tagesordnung wird dann (in der Regel am Dienstag vor der Sitzung) in den Länderkabinetten durchdiskutiert und das Abstimmungsverhalten im Detail festgelegt. Häufig genug ist das aber selbst am Dienstag noch nicht vollständig absehbar, weil noch „verhandelt“ wird. Dann wird halt auch schon mal „Ermessen des Stimmführers“ beschlossen. Eine typische Abstimmung im Bundesrat besteht daher also nicht – wie die obigen untypischen Beispiele es vermuten lassen – aus Wer stimmt dem Gesetz zu? sondern sieht so aus.
„Ich beginne mit den Ausschussempfehlungen. Zur Einzelabstimmung rufe ich auf: Ziffer 1, bei deren Annahme der Antrag des Landes Rheinland-Pfalz entfällt! Wer ist dafür? – Mehrheit. Damit entfällt der Antrag des Landes Rheinland-Pfalz.
Ziffer 2! – Mehrheit.
Ziffer 4! – Minderheit.
Ziffer 8! – Minderheit.
Ziffer 12! – Minderheit.
Ziffer 13! – Minderheit.
Ziffer 25! – Minderheit.
Ziffer 26! – Mehrheit.
Ziffer 28! – Minderheit.
Ziffer 29, bei deren Annahme Ziffer 30 entfällt! – Minderheit.
Ziffer 30! – Mehrheit.
Ziffer 33! – Minderheit.
Dann bitte ich um Ihr Handzeichen für alle noch nicht erledigten Ziffern der Ausschussempfehlungen. – Das ist die Mehrheit.
Damit hat der Bundesrat zu dem Gesetzentwurf, wie soeben beschlossen, Stellung genommen.“
Das ist der Vorgang dazu. Es gibt komplizierte.
Der Landtag tagt nur einmal im Monat. Sein Sitzungsrhythmus weicht von dem des Bundesrates ab, auch was die Sitzungspausen angeht. Die in der Regel notwendige kurzfristige Weisung durch den Landtag ist damit illusorisch. Eine Weisung durch Ausschüsse ist hoffentlich eh für jeden politisch undenkbar und eine „Vorratsbeschlussfassung“ wegen der Unkenntnis über die Einzelheiten des Abstimmungsgegenstandes faktisch unmöglich. Was alleine bliebe, wäre ein Beschluss mit Appellcharakter; das kann aber schon jetzt „in bestimmten Bundesratsangelegenheiten“ gemacht werden. Womit sich die Katze argumentativ in den Schwanz beißt.
Offenlegung: Ich habe vor einigen Jahren in einem Referat gearbeitet, dem unter anderem die Koordinierung von Bundesratssitzungen oblag. Aus diesem Wissen habe ich — aus der Erinnerung — geschöpft. Detailfehler können also vorkommen.